Traumadeutung

Michael Schumacher: Regeneration nach einem Schädel-Hirn-Trauma

Medizin. Die wundersame Regenerationsfähigkeit des Gehirns

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Plötzlich hatte das Gehirn die Sprache gewechselt. Als Sigrid Kundela in der Intensivstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses erwachte, schien in ihrem Kopf nur noch ein englisches Lexikon zu existieren. Nach einer Phase, in der sie gar nicht sprechen konnte, antwortete die Wienerin zur Irritation aller Besucher etwa einen Monat lang stets nur auf Englisch. Anschließend aktivierte ihr mentaler Speicher zwar allmählich wieder die Muttersprache, doch es haperte fallweise mit der Verschaltung von Wort und Bedeutung: Wollte Kundela "Kirchturm“ sagen, schlüpfte "Katze“ durch ihre Lippen. Oder ihr Hirn bediente sich unvermittelt eines Fachausdrucks aus dem Reitsport, einem ihrer Hobbys. Und kaum hatte ein Verwandter ihr Krankenzimmer verlassen, beklagte sie sich, dass heute gar niemand zu Besuch käme.

+++ Schumacher: Aufwachprozess nach Schädel-Hirn-Trauma +++

Schädel-Hirn-Trauma
Ursache für all die Phänomene war ein schwerer Verkehrsunfall vor gut 20 Jahren: Ein entgegenkommender Wagen war im Juni 1992 mit Tempo 130 frontal gegen Kundelas Auto gekracht. Es folgten zwei Monate Klinikaufenthalt, sechs Wochen davon in der Intensivstation. In einer sechsstündigen Operation flickten die Ärzte ihr Gesicht mit zehn Platten und 42 Schrauben. Mindestens ebenso belastend waren die neuronalen Folgen des erlittenen Schädel-Hirn-Traumas: Ob Kauen, Schlucken, Sprache oder Motorik der Gliedmaßen - die damals 28-Jährige musste scheinbar Selbstverständliches neu erlernen und trainieren. Zudem waren zwei Jahre Lebenszeit vor dem Crash aus dem Gedächtnis gelöscht. All die Recherchen für ihre kurz vor dem Abschluss stehende Dissertation - eliminiert. Der Jobwechsel, den die damalige Redakteurin einer Wiener Wochenzeitschrift geplant hatte - prinzipiell zwar erinnerlich, doch wer wäre der neue Arbeitgeber gewesen? Bis heute keine Ahnung. Die Momente des Unfalls fehlen ohnehin: "Gott sei Dank, ich würde sonst heute sicher in kein Auto mehr einsteigen können“, sagt Kundela.

Derlei Symptome sind durchaus typisch für die Konsequenzen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas, einer Verletzung, die nun wieder durch den Skiunfall Michael Schumachers in den öffentlichen Fokus geraten ist - respektive immer dann detailreich beleuchtet wird, wenn es Prominente trifft (siehe Kasten unten). Erst vergangenen Freitag erlitt der Skispringer Thomas Morgenstern bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen, wobei deren Grad vorerst unklar war. Tatsächlich ereignen sich Schädel-Traumata relativ häufig: Zwischen 20.000 und 30.000 entsprechende Diagnosen werden in Österreich jährlich gestellt - von der vergleichsweise harmlosen Gehirnerschütterung, verbunden mit Schwindel und Übelkeit, bis zu hochgradigen Kopfprellungen lebensbedrohlichen Ausmaßes. Bei den unter 20-Jährigen, bei denen naturgemäß noch nicht die Plagen des Alters die Krankenakten beeinflussen, sind solche Läsionen sogar die häufigste Todesursache. Bei wirklich gravierenden Traumata verstirbt ein gutes Drittel der Opfer, und weitere etwa 15 Prozent erwachen nicht mehr aus dem Koma. Wie es um das Schicksal der übrigen Patienten bestellt ist, lässt sich dagegen oft schwer prognostizieren - was vermutlich mit eine Erklärung dafür sein dürfte, warum die Experten im Fall Schumacher mit medizinischen Einschätzungen geizen.

Nicht nur Alter und Kondition des Opfers sowie Zeitpunkt und Qualität der Erstversorgung entscheiden über den weiteren gesundheitlichen Verlauf, sondern besonders auch die Frage, welche Wunden ein Aufprall tatsächlich hinterlassen hat. Während Knochenbrüche und sogar Herzinfarkte gleichsam klar umrissene Geschehnisse mit ziemlich abschätzbaren Folgen sind, können Schädelverletzungen eine ganze Kaskade erst sukzessive einsetzender Wirkungen zeitigen. "Zwar gibt es einige Faktoren, die eine grundsätzliche Einstufung des Schweregrades erlauben“, sagt Thomas Czech, Professor für Neurochirurgie an der Medizinischen Universität Wien. "Aber es handelt sich eben nicht nur um ein Momentereignis, sondern es kann eine Spirale des Aufschaukelns in Gang setzen und Sekundärschädigungen hinterlassen.“

Eine Vielzahl von Effekten kann den Kopf beeinträchtigen, wenn dieser gegen eine eisige Skipiste, das Lenkrad eines Autos oder nach einem Fahrradsturz auf den Asphalt schlägt: Im Bruchteil einer Sekunde kann das Gehirn im Inneren des Schädels heftig bewegt und deformiert werden. Eine Zerrung von Hirngewebe ist ebenso denkbar wie ein Verschieben, Anschwellen, das Reißen von Nervenfasern oder das Platzen von Blutgefäßen, wodurch neuronales Gewebe erst recht Schaden nehmen kann. Besondere Gefahr besteht, wenn Schwellungen den Hirndruck steigen lassen, der Blutfluss gehemmt ist und dadurch Hirnareale zusätzlich bedroht sind. Chirurgen intervenieren dann meist mit drucksenkenden Medikamenten oder müssen im schlimmsten Fall vorübergehend die Schädeldecke öffnen, um Platz für die bedrängte Hirnmasse zu schaffen.

„Fokale Defizite”
Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob infolge eines solchen Traumas eines der Zentren der Großhirnrinde seine Funktion vorübergehend oder gar dauerhaft einbüßt, die eine Vielzahl kognitiver Aufgaben steuern - ob Bewegung, visuelle Wahrnehmung, Sprach-erkennung, die Zuweisung von Sinn und Bedeutung, das Abspeichern von Erinnerung oder die Identifizierung vertrauter Gesichter. Bei Sigrid Kundela waren unter anderem der Sehsinn und verbale Areale betroffen. Der Schweizer Skirennläufer Daniel Albrecht indes, der 2009 bei einem Sturz in Kitzbühel ein Schädel-Hirn-Trauma davontrug, berichtete, er könne heute nicht sagen, ob er seine Freundin nach dem Unfall wiedererkannte - oder ob er sich quasi neu in sie verliebte. "Fokale Defizite“ nennt Czech derlei punktuelle Ausfallserscheinungen im Kortex.

Schmaler Grat
Glücklicherweise besitzt das Gehirn eine Eigenschaft, die in Fachkreisen Plastizität heißt: Bis zu einem gewissen Grad können, hartnäckige Lernprozesse vorausgesetzt, intakte Nervenbahnen die Aufgabe lädierter Areale übernehmen. "Das sind Funktionsknotenpunkte, die potenziell eine Kompensation durch eine Umstellung der Netzwerke erlauben“, so Czech. Wie sehr der einzelne Patient jedoch von diesem Geschenk der Biologie profitiere, "lässt sich kaum beurteilen. Man balanciert einen schmalen Grat entlang.“

Tiefes Koma
Allerdings müssen nicht wenige Patienten, bevor sie auch nur theoretisch in eine solche Phase der Regeneration eintreten können, eine noch viel kritischere Zeit überstehen: dann nämlich, wenn nach einem Unfall - oder auch einem Ereignis wie einem Schlaganfall - nicht nur kognitive Fähigkeiten außer Kraft gesetzt sind, sondern zudem die zentralen Vitalfunktionen. "Areaktiv“ nennen Ärzte den Zustand eines tiefen Komas, in dem der Mensch weder auf Schmerz noch Licht noch sonstige Reize reagiert, die Augen geschlossen hält und im Regelfall künstlich ernährt und beatmet werden muss. In diesen Fällen beschränkt sich die Hirnschädigung nicht auf das für bewusstes Erleben zuständige Großhirn, sondern hat auch den Hirnstamm erfasst, der das vegetative System am Laufen hält.

Wer diese dramatische Etappe übersteht, darf damit rechnen, dass die biologischen Systeme allmählich wieder anspringen. Das erste Stadium eines Aufwärtstrends wäre das Wachkoma, auch apallisches Syndrom oder vegetativer Zustand genannt, weil der Hirnstamm nun wieder seinen Dienst versieht und die basalen Reflexe garantiert. Der Patient kann atmen, schlucken, hat die Augen geöffnet, unterliegt einem Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Denk-, Emotions- und Wahrnehmungszentrale, die Großhirnrinde, ist jedoch nach wie vor abgeschaltet - oder aber vielleicht bis zu einem gewissen Grad im Standby-Modus.

Denn eine weitere Bezeichnung für diese Phase lautet "Minimally Conscious State“, und allein der Terminus deutet auf eine Frage hin, die jüngst wieder intensiv debattiert wird: Sind Wachkomapatienten tatsächlich gänzlich ohne Bewusstsein? Oder flackern mitunter doch Reste bewussten Empfindens auf? Sind diese Menschen, auch wenn sie im konventionellen Sinn nicht auf die Außenwelt reagieren, in gewisser Weise ansprechbar oder gar zu einer rudimentären Form der Kommunikation fähig?

Für Aufsehen sorgte vor etwas mehr als einem Jahr die Studie eines kanadischen Hirnforschers. Adrian Owen schob einen Wachkomapatienten namens Scott Routley in den Hirnscanner und erklärte ihm, er werde ihm nun einige Fragen stellen. Wolle Routley mit "ja“ antworten, solle er an seine Wohnung denken. Bei "nein“ möge er sich ein Tennismatch vorstellen. Die Idee dahinter: Die unterschiedlichen Gedankenspiele sollten ebenso verschiedene Hirnareale ansprechen, und zwar einerseits solche für räumliche Orientierung, andererseits motorische. Verblüffenderweise klappte das Experiment tatsächlich. Je nach Frage blinkten andere Areale im Hirn auf - in gewisser Weise also antwortete Routley, der seit einem Verkehrsunfall zwölf Jahre zuvor im Wachkoma lag.

Vergleichbare Test wurden auch an kleineren Patientengruppen durchgeführt. Im November des Vorjahres berichtete ein britisches Ärzteteam von einem leicht abgewandelten Verfahren: Mithilfe der Ausschläge von Hirnstrommessungen hatten die Forscher - offenkundig erfolgreich - versucht, die Reaktionen ihrer stummen Probanden auf gezielte Anweisungen zu interpretieren. Man forderte sie zum Beispiel auf, sich vorzustellen, die rechte Hand oder einen Fuß zu bewegen, und die EEG-Daten sollten preisgeben, ob sie solchen Avisos folgen konnten. Im Rahmen einer anderen Studie wurde, ebenfalls mittels EEG, geprüft, ob Wachkomapatienten sinnvolle von Nonsens-Sätzen unterscheiden konnten. Etwa einem Fünftel der Patienten gelang dies tatsächlich, wie die Analyse spezifischer Hirnwellen verriet.

Horrorvision
Manch ein Forscher fragt mittlerweile angesichts solcher Resultate, ob nicht die Kategorien für ein Koma zu starr definiert sind. Vielleicht lassen sich die Grenzen zwischen völliger Bewusstlosigkeit und einem zumindest diffusen subjektiven Erleben gar nicht so eindeutig ziehen? Die Horrorvision sind Fälle wie jener eines Belgiers, der 23 Jahre lang als Komapatient galt und auch als solcher behandelt wurde - doch offenbar die ganze Zeit über bei Bewusstsein war und sich bloß nicht bewegen konnte. Erst eine Routineuntersuchung zeigte dies auf. Womöglich litt der Mann in Wahrheit am sogenannten "Locked-in“-Syndrom: Im Prinzip ähnelt es einer Querschnittslähmung, die jedoch direkt am Hirnstamm wirkt. Der Patient ist dadurch zur Gänze gelähmt - gleichsam in seinem Körper gefangen -, allenfalls bewegt er die Augen, aber komatös ist er keinesfalls.

Viele Experten mahnen daher zu noch sorgfältigerer Diagnostik und Beobachtung als bisher, schließlich sei die Prognose für Hirnpatienten - ob nun ein Trauma, ein Hirnschlag oder eine Stoffwechselstörung Auslöser ihrer Leiden ist - ohnehin schon komplex genug. Wie groß die diesbezügliche Unsicherheit sein kann, zeigte sich besonders drastisch am Fall der Amerikanerin Theresa Schiavo, der vor knapp zehn Jahren durch die Weltpresse ging. Unter Bemühung von Juristen und Gutachtern stritten ihr Ehemann und ihre Eltern darüber, ob nach 15 Jahren Koma die lebenserhaltende Magensonde entfernt werden dürfe. Letztlich entschieden die Richter trotz heftiger Proteste, man habe Schiavo sterben zu lassen.

In anderen Fällen kommt es zu fast wundersamen Genesungen, zum Beispiel in jenem eines polnischen Bahnarbeiters, der nach einem Rangierunfall 19 Jahre lang im Koma lag - und dann plötzlich erwachte, obwohl die Ärzte ihm kaum Chancen eingeräumt hatten und seine Frau ihn zuletzt zu Hause pflegte. Angeblich war der Mann recht angetan von der modernen Welt, in die er nun blickte und in der höchst merkwürdige Erfindungen wie Handys existierten. Die letzten Bilder in seinem Kopf stammten aus der Tristesse der kommunistischen Ära.

Auch die Wienerin Sigrid Kundela berichtet, ihr Zustand habe sich im Grunde besser entwickelt als prophezeit. Ihr Sehvermögen sei zwar beeinträchtigt, doch prognostiziert habe man fast vollständige Blindheit. Zwar habe sich die rechte Körperhälfte nicht gänzlich erholt, doch zum Ausgleich habe sie eben die linke Seite trainiert. "Ich war klassische Rechtshänderin, jetzt mache ich viel mit der linken Hand“, sagt Kundela. Dazu zählt auch das Betätigen der Computermaus, wenn wenn sie etwa die Agenden einer Selbsthilfegruppe für Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma koordiniert (www.shg-sht.at) und eine Zeitschrift zum Thema gestaltet - und damit beinahe im alten Job angekommen ist.