Morddrohungen auf Antarktisstation: Expertin erklärt, was jetzt passieren muss
Neun Menschen sollten zusammen in einer Forschungsstation im ewigen Eis der Antarktis überwintern. Bis einer durchdrehte und seinen Vorgesetzten mit dem Tod bedrohte. Das Team setzte Mitte März einen Notruf an eine Zeitung ab, man fühle sich nicht mehr sicher. Nur: Rettung ist wahrscheinlich erst im Dezember möglich, wenn das Packeis taut. Kann sich die Gruppe zusammenraufen – oder ist mit Mord und Totschlag zu rechnen?
Was haben Sie als Expertin gedacht, als Sie aus den Medien von dem Fall gehört haben?
Alexandra de Carvalho
Ich fragte mich: Waren die Team-Mitglieder gut genug ausgewählt? Und wurden Sie von außen ausreichend gut betreut?
Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
de Carvalho
Ich kann hier nur mutmaßen. Aber von früheren Missionen und Expeditionen wissen wir: Wenn es Zwischenfälle gab, passte die Gruppe nicht gut zusammen. Bei Forschungsprojekten steht die psychische Belastbarkeit der Teams nicht immer an oberster Stelle.
Die betroffene Person soll den Teamleiter tätlich angegriffen und mit dem Tod bedroht haben. Was löst solche Aggressionen aus?
de Carvalho
Ein Grund kann Dichtestress sein, auch als Lagerkoller bekannt. Idealerweise hätte ein Mensch etwa 40 Quadratmeter für sich, was bei solchen Projekten unrealistisch ist. Auf engstem Raum ist es normal, dass Menschen eine Tendenz zur Territorialverteidigung entwickeln. Es geht nie um die falsch abgestellte Kaffeetasse, sondern darum, den eigenen Bereich zu verteidigen. Deshalb sollte jeder sein eigenes Fach im Kühlschrank haben und möglichst viel Privatsphäre. Leider höre ich aus Forschungsstationen oft, dass die Schlafkojen viel zu hellhörig sind.
Gibt es noch weitere Gründe dafür, dass jemand derartig explodiert?
de Carvalho
Auch Missverständnisse oder Kommunikationsdefizite können zu Konflikten führen, etwa wenn sich jemand in seinen Entscheidungen übergangen fühlt. Wichtig ist vor allem: Wie reguliert die Person aufkommende Gefühle? Kann sie darüber sprechen oder artet es in Aggressionen aus?
Die südamerikanischen Behörden sagen, die Lage habe sich entspannt, nachdem sich der Täter bei seinen acht Kolleginnen und Kollegen entschuldigt hat. Reicht das aus?
de Carvalho
Die Entschuldigung ist ein guter erster Schritt, dem aber weitere folgen müssen.
Wie würden Sie in dem Fall weiter vorgehen?
de Carvalho
Ich würde über Einzelgespräche von außen versuchen, zu Deeskalieren. Dann sollte es unbedingt Mediationen geben, bei denen das Problem aufgearbeitet wird. Und anschließend ist es wichtig, Regeln aufzustellen für den Fall, dass wieder eine ähnliche Situation auftaucht.
Außerdem drohte die Person, … zu töten und schuf so ein Klima der Angst und Einschüchterung. Ich bin weiterhin zutiefst besorgt um meine eigene Sicherheit und frage mich ständig, ob ich das nächste Opfer werden könnte.
Aufgrund des einsetzenden Winters in der Antarktis muss das Team wahrscheinlich noch viele Monate zusammen aushalten. Wie realistisch ist es, dass das gelingt?
de Carvalho
Unter dem oben genannten Szenario und einer guten Betreuung von außen ist das durchaus möglich, aber es muss engmaschig überprüft und begleitet werden.
Vor drei Jahren wurden aus der ebenfalls in der Antarktis gelegenen US-Forschungsstation McMurdo unfassbare Zustände bekannt. Die Mechanikerin Liz Monahon erzählte, sie habe 24 Stunden am Tag einen Hammer bei sich getragen, weil sie Todesangst vor einem Kollegen hatte und sich nicht traute, jemanden um Hilfe zu bitten. Daraufhin meldeten sich viele Frauen, die von dem dortigen Macho-Regime und sexuellen Übergriffen berichteten. Wie kann man so etwas verhindern?
de Carvalho
Die Situation auf Arktisstationen weist oft auf strukturelle Probleme hin. Grundsätzlich gilt: Sexuelle Übergriffe haben meistens mit Macht zu tun, deshalb ist es wichtig, mit einer Crew vorab darüber zu sprechen.
Was besprechen Sie da konkret?
de Carvalho
Dass es Grenzen gibt, an die sich alle halten müssen. Zum Beispiel, dass man Teammitglieder nicht unerwünscht berührt, sie auch nicht mit einer Umarmung überrumpelt. Außerdem weisen wir darauf hin, dass manche Menschen dazu tendieren, Sexualität und sexualisierte Sprache einzusetzen, um ihre Position zu behaupten. Wenn sich dessen alle bewusst sind, ist es leichter, so ein Verhalten zu durchschauen und anzusprechen. Außerdem sollte es eine Vertrauensperson sowohl im Team als auch Außen geben, an die man sich wenden kann.
„Stresstests klingen gemein, aber so kann man früh erkennen, wer zum Problem werden könnte.“
Alexandra de Carvalho, Österreichisches Weltraum Forum
Sie untersuchen seit Längerem, wie Menschen in kleinen Gruppen auf Isolation reagieren. Wie müssen Menschen beschaffen sein, um ein Jahr oder länger in der Antarktis oder im Weltall auszuhalten?
de Carvalho
Erstens müssen sie anpassungsfähig sein. Das heißt: Sie müssen mit einer monotonen Umgebung, Langeweile, mit wenig Privatsphäre, mit anderen Charakteren, schlechtem Essen und dem Verzicht auf geliebte Hobbies möglichst entspannt umgehen. Zweitens sind gute Konfliktfähigkeit und Empathie ein Muss. Nur so können sie Konflikte lösen, die unweigerlich entstehen. Und drittens müssen sie gute Emotionsregulationsstrategien besitzen – also in der Lage sein, mit aufkommenden Gefühlen sinnvoll umzugehen.
Das klingt nicht nach der klassischen Abenteurerin.
de Carvalho
Genau. Wir suchen für unsere Missionen Menschen, die der gleiche Film auch beim zehnten Mal Schauen noch zum Lachen bringt – und nicht den Fallschirmspringer, der sich jedes Wochenende aus einem Flugzeug stürzen will.
Wie filtern Sie die Richtigen heraus?
de Carvalho
Wir unterziehen sie Stresstests. Sie müssen zum Beispiel unter Zeitdruck in ungemütlicher Umgebung Probleme lösen. Wir testen, wie jemand auf Schlafmangel und wenig Nahrung reagiert. Das klingt gemein, aber so kann man früh erkennen, wer zum Problem werden könnte.
Gab es bei Ihren Experimenten schon ähnliche Zwischenfälle wie den aktuellen in der Antarktis?
de Carvalho
Nein, und ich bin sicher, dass unsere Präventionsmaßnahmen dafür verantwortlich sind.
Buchtipp
Die Psychotherapeutin und Teampsychologin Alexandra de Carvalho forscht und arbeitet in dem noch jungen Feld der Weltraumpsychologie. In ihrem Buch zeigt sie Strategien auf für mehr Widerstandskraft und Krisenfestigkeit im Alltag.
Alexandra de Carvalho: Mission Fühlen.
FISCHER Taschenbuch.
288 S., 18,00 EUR