mRNA-Wirkstoffe: Biowaffen aus dem Körper
Jeder Mensch trägt eine potenzielle Allzweckwaffe der Medizin in sich: in jeder einzelnen Körperzelle, von Geburt an, das ganze Leben lang. Dieses Multifunktions-Tool heißt messenger Ribonucleic Acid (mRNA), auf Deutsch Boten-Ribonukleinsäure. mRNA enthält eine Gebrauchsanweisung zur Herstellung von Proteinen – von Eiweißstoffen, die Grundlage jedweden Lebens sind. Unsere Organe, Muskeln, Haut und Haare sowie Körperfunktionen aller Art basieren auf Eiweiß. Wenn der Organismus Krankheitserreger bekämpft, tut er dies ebenfalls mithilfe spezialisierter Proteine, der Antikörper. Proteine sind eine Hardware des Lebens, und mRNA liefert die Software dafür: Sie schickt den Bauplan zur Proteinproduktion als molekulare Botschaft an die Körperzelle. Die Zelle dient als Eiweißfabrik und kümmert sich um die Massenfertigung der gewünschten Proteine.
So hat es die Natur eingerichtet. Die Medizin hat dieses Prinzip entschlüsselt und es inzwischen für ihre Zwecke nutzbar gemacht – schon jetzt, doch künftig vermutlich in viel größerem Ausmaß. Die Hoffnung ist, eines Tages ein breites Spektrum an Krankheiten mit mRNA-Therapien zu behandeln. Denn bei praktisch allen Leiden, die uns heimsuchen können, spielen Proteine eine zentrale Rolle – ob Krebs, neurodegenerative Erkrankungen, genetische Leiden oder Allergien.
Wenn es glückt, gezielt in den Kosmos der Proteine einzugreifen, lässt sich Krankheit im weitesten Sinne ins Visier nehmen. mRNA stellt dabei eine Art Universalwerkzeug dar, um maßgeschneiderte Wirkstoffe zu entwickeln. Viele Forschende sehen in der Technologie daher die Basis für eine Medizin der Zukunft, wobei der Körper die Arzneien sogar selber herstellt – in seinen eigenen Zellen und nach dem Rezept der mRNA-Bauanleitung.
Einen Vorgeschmack darauf, was vielleicht bald möglich sein wird, bekam die Welt im Zuge der Coronaviruspandemie: mit den ersten Impfungen von BioNTech/Pfizer und Moderna. Deren Herzstück war ebenfalls ein Protein: das Spike-Protein auf der Oberfläche des Coronavirus, mit dem es sich Zutritt in den Körper verschafft. Der Clou der Impfungen besteht darin, eine mRNA-Bauanleitung
für Spike-Proteine ins Zellplasma zu schleusen. Dort werden die Eiweißfabriken angeworfen, die nun auftragsgemäß selber Spike-Proteine produzieren. Dadurch kennt der Organismus das Profil dieser Eiweiße und kann bei Kontakt mit einem echten Virus sofort die Immunabwehr starten.
Die Covid-Impfungen lenkten erstmals den öffentlichen Fokus auf die mRNA-Technologie, doch eigentlich waren sie eher Nebenprodukte zur rechten Zeit – Zwischenergebnisse eines Forschungszweigs, der bis in die 1970er-Jahre zurückreicht. Mehrere Forschende erkannten damals das Potenzial der Beeinflussung von Proteinen, vor allem der amerikanische Molekularbiologe Robert Malone und die ungarische Biochemikerin Katalin Karikó (siehe Kasten Seite 71). Es bedurfte jedoch jahrzehntelanger Anstrengungen, um von der Idee zur Anwendung zu gelangen.
Spätestens seit den Covid-Impfungen ist erwiesen, dass das Prinzip funktionieren kann, und das verlieh der bis dahin kaum beachteten mRNA-Forschung plötzlich Schub. Derzeit kündigen Forschungseinrichtungen oder Pharmaunternehmen fast im Monatstakt neue Ergebnisse ihrer Studien zum Thema an – und schüren Hoffnungen bei der Bekämpfung ganz verschiedener Krankheitsbilder.
Hoffnung gegen Viren
Besonders bewährt sich mRNA, wenn das Immunsystem adressiert werden soll – zum Beispiel, um den Körper gegen Viren zu wappnen. Nach dem Muster der Covid-Impfung lässt sich auch Schutz vor anderen Krankheitserregern bewerkstelligen. Im Jänner gab Moderna Testergebnisse zu einem Wirkstoff namens mRNA-1345 bekannt. Er soll die Basis für eine Impfung gegen das Respiratorische Synzytialvirus (RSV) bilden – ein Atemwegsvirus, das vor allem bei Kindern schwere Verläufe verursachen kann. Im vergangenen Winter waren viele Länder mit einer ungewöhnlich heftigen Welle von RSV-Infektionen konfrontiert. Der Wirkstoff von Moderna verspricht eine Effektivität von fast 90 Prozent, eine Zulassung soll noch heuer angepeilt werden. Im Februar publizierte der deutsche Konkurrent BioNTech Zwischenresultate zu einem Impfstoff gegen Gürtelrose. Diese schmerzhafte Nervenerkrankung ist eine Spätfolge einer Infektion mit dem Windpockenvirus Varicella Zoster, die durch eine Reaktivierung im Körper schlummernder Erreger entsteht.
Andere Unternehmen arbeiten an neuartigen Impfstoffen gegen das Tollwut- oder das Influenza-Virus. Bei der saisonalen Grippe ließen sich die Vorzüge der mRNA-Technologie vermutlich besonders gut ausspielen: Bisherige Impfstoffe sind häufig mäßig effektiv, weil die Herstellung langwierig ist – sie werden, fast unglaublich im Jahr 2023, immer noch in Millionen von Hühnereiern gezüchtet. Deshalb muss lange vor Beginn der Grippewelle „erraten“ werden, welcher Virusstamm in der nächsten Saison zirkuliert, was manchmal besser, manchmal schlechter funktioniert. Der Vorteil von mRNA: Wenn man weiß, welchen mRNA-Abschnitt man benötigt, geht alles sehr schnell, in wenigen Wochen kann die molekulare Gebrauchsanweisung für einen Impfstoff fertig sein. Mittlerweile gibt es sogar die Idee, die wichtigsten saisonalen Atemwegsinfekte in ein einziges mRNA-Vakzin zu packen: gegen Influenza, RSV und Covid-19.
Dem Prinzip nach funktionieren mRNA-Impfstoffe ähnlich: Man benötigt den Bauplan von Schlüsselproteinen des jeweiligen Virus, mit deren Hilfe dieses an Körperzellen andockt. Ein zentraler Abschnitt dieser Proteine wird im Labor Buchstabe für Buchstabe nachgebaut, in winzige Fettkügelchen verpackt und in Form einer Impfung verabreicht. Dank dieser Bauanleitung stellt nun der Körper selbst Eiweiße her, die sein Immunsystem befähigen, virale Angreifer zu erkennen und anzugreifen. Einer der größten Vorteile dabei: Im Gegensatz zu traditionellen Impfstoffen, die auf Partikeln von Viren beruhen, kommt der Körper bei der Impfung gar nicht mehr in Kontakt mit echten Erregern.
Hoffnung gegen Malaria
Malaria zählt immer noch zu den größten Plagen der Menschheit, vor allem in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Eine Viertelmilliarde Menschen weltweit erkrankt pro Jahr, mehr als eine halbe Million sterben, vor allem Kinder unter fünf Jahren. Bisherige Therapeutika und Impfstoffe sind veraltet, häufig wenig effektiv und zudem umständlich zu verabreichen. Eine ganze Reihe von Instituten und Pharmaherstellern arbeitet daher im Moment an mRNA-Impfstoffen gegen Malaria, die vor allem vom Parasiten Plasmodium falciparum übertragen wird. Eine US-Forschergruppe zielt dabei auf ein Oberflächenprotein des Erregers ab, um eine angemessene Immunantwort zu provozieren. BioNTech kündigte Ende des Vorjahres an, ein Malaria-Impfstoffprogramm namens BNT165 zu starten. Das langfristige Ziel aller Forschenden liegt allerdings wohl noch in weiter Ferne: eine Ausrottung der Malaria mithilfe neuartiger Präparate.
Hoffnung gegen Krebs
Neue Therapien gegen Krebs standen eigentlich am Beginn der mRNA-Forschung. Die Grundidee war, das Immunsystem zielgerichtet in den Kampf gegen Tumore zu lenken. Schließlich produzieren auch Krebszellen Eiweißstoffe, die als Ausgangspunkt für mRNA-Behandlungen dienen könnten. Normalerweise sind Krebszellen Meister der Tarnung und schaffen es, sich vor Angriffen unseres Immunsystems zu verstecken. Doch informiert man die Körperabwehr über die
Beschaffenheit solch spezifischer Krebs-Proteine, übermittelt man ihm mithilfe einer mRNA-Botschaft gleichsam deren Steckbrief, könnte es gelingen, den Krebs zu attackieren. Es wäre eine Immuntherapie gegen Krebs, und mittlerweile konzentriert sich die Medizin auf mehrere Krebsarten, darunter Bauchspeicheldrüsen-, Prostata-, Brust- und Schwarzen Hautkrebs.
Allerdings ist Krebs viel komplizierter als etwa ein Virus. Denn Krebszellen mutieren ständig und sind daher gewissermaßen höchst bewegliche Ziele. Der Plan der Forschenden besteht deshalb darin, mRNA-Präparate zu entwickeln, die jeweils präzise an den Tumor des individuellen Patienten angepasst sind. Das Prozedere verläuft dabei folgendermaßen: Man entnimmt zunächst per Biopsie eine Tumorprobe und dechiffriert dessen
genetischen Code. Basierend darauf fertigt man eine mRNA-Arbeitskopie davon an. Ins Zellplasma des Patienten eingebracht, produziert der Körper nun exakt jene Eiweißstoffe, die dem Immunsystem erlauben, Tumorzellen zu erkennen und zu attackieren.
Es wäre eine völlig neue Form der Krebstherapie, zugeschnitten auf die biologischen Merkmale eines ganz konkreten Tumors. Freilich: Gerade weil Krebs eine hochkomplexe und vielfach unberechenbare Erkrankung ist, lässt sich kaum abschätzen, wann solche Behandlungen tatsächlich verfügbar sein werden. Sicher ist allerdings: Bisherige Studien zeigen, dass die Strategie grundsätzlich funktioniert.
Hoffnung gegen Allergien
Wenn im Frühjahr Hasel, Erle und Birke blühen, ihre Pollen ausschütten und Millionen Menschen unter Niesreiz, brennenden Augen oder Atemnot leiden, sind wieder einmal Eiweißstoffe schuld: Pollenproteine, deren Profil sich von Pflanze zu Pflanze unterscheidet und das Immunsystem von Allergiekranken zu einer sinnlosen überschießenden Reaktion veranlasst. Gut ein Drittel der Bevölkerung ist von Allergien betroffen, und der Klimawandel trägt dazu bei, dass die Pollensaison immer länger wird und mitunter schon im Jänner beginnt – effektive Therapien wären daher ein wahrer Segen.
Bisherige Behandlungen erfüllen ihren Zweck bestenfalls mittelmäßig: Sie zielen darauf ab, dass das aus dem Tritt geratene Immunsystem die kritischen Eiweißstoffe allmählich toleriert. Eine Hoffnung der Medizin ist, dass dies womöglich mithilfe der mRNA-Technologie besser gelingt. Man nehme dazu einen ausgewählten Abschnitt eines Pollenproteins, schreibe ihn in eine mRNA-Botschaft um und veranlasse den Körper von Patienten, abgeschwächte Eiweißschnipsel herzustellen, die das Immunsystem auf Toleranz trainieren.
Noch deutlich gravierender als Allergien können Autoimmunleiden sein – teils furchtbare Erkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift und allmählich zerstört. Dazu zählen zum Beispiel Rheuma und Multiple Sklerose (MS), wobei eine Fehlfunktion des Immunsystems Entzündungen verursacht, die Nervenfasern zerstören. Zumindest im Tiermodell testeten Forschende bereits mRNA-Strategien gegen MS: Sie erzeugten einen Protein-Code, der im Immunsystem eine Toleranz gegen jene Stoffe erzeugt, welche die MS-typischen Entzündungsreaktionen auslösen. Diese unterblieben, der Abbau von Nervengewebe ließ sich bremsen. Die Fachwelt wertete diese Erkenntnisse als enorm wichtig – warnte aber vor verfrühtem Enthusiasmus, da Ergebnisse aus Tierversuchen nicht unmittelbar auf den Menschen übertragbar sein müssen.
Hoffnung gegen Erbkrankheiten
Eine gänzlich andere Gruppe von Krankheiten könnte sich ebenfalls mit der mRNA-Technologie ins Visier nehmen lassen, auch wenn die Forschung in diesem Bereich noch nicht so weit gediehen ist wie bei Immunleiden: Erbkrankheiten, die auf defekte oder fehlgebildete Proteine zurückgehen. Mehrere US-Pharmaunternehmen arbeiten beispielsweise an Therapien gegen Mukoviszidose, ein angeborenes Stoffwechselleiden, das durch ein Protein namens CFTR verursacht wird und mit Symptomen wie Atemnot einhergehen kann. Ein anderes Beispiel ist Chorea Huntington. Fehlgefaltete Proteine zerstören dabei allmählich Gehirnzellen. Der Ansatz von mRNA-Therapien wäre, die problematischen Eiweiße gezielt abzuschalten, um so den fatalen Prozess zu unterbinden.
Wann derartige Therapien verfügbar sein werden, lässt sich schwer sagen. Immerhin lässt sich nie ausschließen, dass auf dem Weg zu neuen Behandlungsmethoden trotz ermutigender Zwischenergebnisse unerwartete Hürden auftreten, die die praktische Anwendung verzögern.
Andererseits: Vor zwei Jahren hätte fast niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet mRNA-Impfstoffe das Rennen um die ersten Vakzine gegen das Coronavirus sein würden – und alle klassischen Impfstoffe ausstechen würden. Vermutlich ist die Annahme nicht übertrieben, dass dies den Auftakt zu einer neuen Medizin markierte, die mit einem der Natur entlehnten Grundprinzip auf eine Fülle von Krankheiten zielt.