Neandertaler: Primitiver Urmensch, brutaler Kannibale?

Die Neandertaler werden weithin unterschätzt. Die moderne Archäologie zeichnet ein völlig anderes Bild unserer engen Verwandten. [E-Paper]

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Die Geschichte des Neandertalers begann 1856 in einem Steinbruch östlich von Düsseldorf. Im Tonschlamm der Kleinen Feldhofer Grotte, einer Höhle in den Felsen des Neandertals, fanden Arbeiter an einem Spätsommertag 16 ungewöhnlich große Knochenstücke. Der Steinbruchbesitzer war Mitglied im örtlichen Naturhistorischen Verein, weshalb ihn der Anblick eines Schädeldachs mit seltsam vorspringenden Augenwülsten veranlasste, die Knochen einzupacken und namhaften Anthropologen vorzulegen. Diese erkannten, dass es sich um die Fossilien eines Urzeitmenschen handeln musste, der vor dem Homo sapiens gelebt hatte. Deren Artikel über den Homo neanderthalensis erschien 1859, im selben Jahr, in dem Charles Darwin und Alfred Russel Wallace ihre Evolutionstheorie vorstellten. Beide Veröffentlichungen sprengten die Idee der biblischen Schöpfungslehre – und damit das Weltbild des 19. Jahrhunderts.

Doch so einfach war die Vorstellung von Gott, der den Menschen nach sieben Tagen als Krönung der Schöpfung erschaffen hat, nicht wegzuwischen. Jahrzehntelang stritten sich Wissenschafter und Gelehrte wegen des Urzeitmenschen aus dem Neandertal. So behauptete etwa der deutsche Anatom August Franz Josef Karl Mayer, bei dem Gerippe handle es sich in Wahrheit um einen russischen Kosaken, der während der napoleonischen Kriege in der Feldhofer Grotte sein Lager aufgeschlagen hatte. Den seltsamen Körperbau erklärte er so: Der Kosak habe unter Rachitis und Arthritis gelitten, die Beine seien vom vielen Reiten deformiert, und die Augenwulste kämen von den Sorgenfalten, die der Schmerz ausgelöst hatte. Viele honorige Kollegen unterstützten Mayers absurde Theorie.

Nachdem allerdings in Gibraltar ein zweiter Neandertaler-Schädel aufgetaucht war, spottete der britische Paläontologe George Busk über seinen deutschen Kollegen: „Was auch immer an den Ufern der Düssel passiert sein mag, selbst Professor Mayer wird kaum vermuten, daß sich ein rachitischer Kosak des Feldzuges von 1814 in den brüchigen Spalten des Felsens von Gibraltar verkrochen hatte.“

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Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.