Neurologie: Können traumatische Erlebnisse gelöscht werden?
Der Mann, nennen wir ihn Paul Rogers, sieht sich die Fotos an, immer und immer wieder. Die Person, die ihm von den Bildern entgegenlächelt, ist ihm wohlbekannt. Er selbst ist es. Jedoch wecken die fotografisch festgehaltenen Momente von seinem Einsatz in Afghanistan nicht die kleinste Erinnerung, geschweige denn irgendwelche Gefühlsregungen. Es ist so, als betrachte er Ausschnitte des Lebens eines völlig Fremden. Nicht der geringste Erinnerungsfunke entflammt in Rogers’ Gehirn an den schrecklichen Tag vor sechs Jahren, als eine Mörsergranate ihm den Unterleib wegriss. Das Leben des amerikanischen Soldaten stand wochenlang auf Messers Schneide. Seine Kameraden hatten weniger Glück: Sie starben allesamt bei diesem Angriff. Rogers musste mit ansehen, wie Freunde und Kameraden in Stücke gerissen wurden.
Doch der eigentliche Kampf begann erst, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Albträume und schwere Depressionsschübe plagten den jungen Armeeangehörigen dermaßen, dass er mehrmals versuchte, seinem Dasein ein Ende zu setzen. Diese Folgen, durchaus typisch für Kriegsveteranen, sind völlig realistisch und treten häufig auf. Fiktional an der Geschichte ist allerdings, dass man traumatisierten Menschen wie ihm die furchtbaren Erinnerungen aus dem Gedächtnis löschen könnte - zumindest vorerst noch.
Denn genau das will Joseph LeDoux tatsächlich erreichen: dass man Soldaten oder Menschen, die Katastrophen wie zum Beispiel Fukushima miterleben mussten, ihre Traumata mit Medikamenten gleichsam ausradieren kann. Der 54-jährige Psychologe an der New York University widmet sich seit nunmehr knapp 30 Jahren der Erinnerungsforschung. LeDoux untersucht jene Mechanismen, die für das Speichern von Erlebnissen im Gehirn verantwortlich sind. Zudem beschäftigt den Wissenschafter die Frage, wer oder was entscheidet, ob Ereignisse überhaupt dauerhaft im Gehirn verankert werden. LeDoux vertritt die Meinung, dass das Hirn generell aus zwei "Festplatten“ besteht - einer emotionalen und einer impliziten. Der implizite Teil ist zuständig für das rationale, faktische Gedächtnis. Hier sind Telefonnummern, Geburtstage, Namen und eine Vielzahl weiterer Informationen des täglichen Lebens gespeichert.
Je stärker die Furcht, umso intensiver die Erinnerungen
Sehr viel interessanter für den Hirnforscher ist jedoch der emotionale Teil unseres Denkapparates. Der speichert Dinge des Lebens, die mit starken Gefühlen verbunden sind. Im Laufe der Jahre fand der amerikanische Psychologe beispielsweise heraus: Je stärker die Furcht während eines emotionalen Erlebnisses ist, umso intensiver sind auch die Erinnerungen daran. Die Angstzustände wurden parallel zum zugehörigen Ereignis fest verankert. Und fast immer bedurfte es lediglich eines sogenannten Triggers (etwa Geräusche, Gerüche, Stimmen), um die traumatischen Erlebnisse und gespeicherten Informationen erneut aufzurufen. Und genau dies ist es, worunter weltweit Millionen Traumaopfer leiden. Das Perfide an diesem Mechanismus ist die Tatsache, dass die Opfer keine Chance haben, dem Teufelskreis zu entkommen. Sie erleben das Erlittene immer und immer wieder.
Schuld an dieser Traumaspirale sind die biochemischen Botenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin, die als eine Art Erinnerungsüberträger fungieren. Diese Neurotransmitter sind für die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verantwortlich. LeDoux fand heraus, dass, indem man diese Botenstoffe genau im Moment des negativen Ereignisses blockiert, eine Erinnerung sich nicht im Gedächtnis des jeweiligen Menschen festsetzen kann: Das Ereignis, der Träger dieser Information sowie die Angstzustände gehen sehr schnell verloren. LeDoux’ Team kam daraufhin auf die abenteuerlich anmutende Idee, dass man den gleichen Prozess nutzen könnte, um bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung bereits verankerte Gedächtnisinformationen zu löschen und den Angstzustand vom Erlebten zu entkoppeln.
Karim Nader, ein Kollege LeDoux’, entschied sich für einen Hemmstoff, den LeDoux bereits bei Versuchen mit Ratten erfolgreich angewandt hatte: einen sogenannten Betablocker. Denn dieser, so wussten die Wissenschafter bereits, mindert den Adrenalinausstoß. Betablocker werden schon seit einigen Jahren an Polizeibeamten und Feuerwehrleuten eingesetzt, damit diese besser mit traumatischen Erlebnissen klarzukommen. Das Stresshormon Adrenalin drückt schrecklichen Erinnerungen gleichsam einen emotionalen Stempel auf, ehe diese im Gedächtnis abgelegt werden. Betablocker schwächen die Verbindung zwischen Erinnerung und Emotion. Ein traumatisches Erlebnis wird deshalb weniger dramatisch wahrgenommen. Besonders vielversprechend scheint dabei der Betablocker Propranolol zu sein.
Neuerlich mussten Ratten herhalten, um Naders Hypothese zu beweisen. Ratten deshalb, weil deren emotionales Gedächtnis erstaunlicherweise auf annähernd gleiche Weise wie jenes des Menschen funktioniert. Zunächst mussten die Tiere erst einmal konditioniert werden - mussten quasi das Fürchten lernen. Nach einem ganz bestimmten Signalton erfolgte ein kurzer Stromschlag. Nach sehr kurzer Zeit zeigten die Nager das typische Angstverhalten, sobald der mit dem Stromschlag verbundene Signalton erklang.
Hoffnungsschimmer
Unmittelbar nach der Konditionierung spritzte Nader den Ratten exakt im Moment des Signaltons den Betablocker. Das Ergebnis soll sensationell ausgefallen sein: Die Ratten zeigten offenbar schon kurze Zeit später keinerlei Angstreaktionen mehr. Die negativen Erinnerungen waren buchstäblich gelöscht. Nun handelte es sich hier nur um eine simple, im Labor erzeugte Erinnerung. Dennoch zeigte das Experiment eines ganz deutlich: Gedächtnisinformationen werden jedes Mal neu gespeichert, wenn sie durch einen Trigger aktiviert werden. Und genau hier befindet sich wohl auch die Schnittstelle, um unangenehme traumatische Informationen zu löschen. Es ist der Moment, an dem die Information instabil ist und die Negativerfahrung durch den Hemmstoff gelöst werden kann. Verabreicht man also in einem engen Zeitfenster die Injektion mit dem Betablocker, gelingt es der Gedächtnisinformation nicht, sich erneut zu manifestieren - sie würde einfach verloren gehen. Für Traumapatienten wäre dies zumindest ein immenser Hoffnungsschimmer.
Nur kurze Zeit nach diesen Resultaten griff der niederländische Hirnforscher Merel Kindt von der Universität Amsterdam die Ergebnisse LeDoux’ und Naders auf und wies die Wirkung von Betablockern auf Erinnerungen bei Menschen nach. Dabei konditionierte Kindt 60 Versuchspersonen eine Angst vor Spinnen an, indem er ihnen entsprechende Fotos in Verbindung mit leichten Elektroschocks zeigte. Tatsächlich reagierten die Probanden schon nach kurzer Zeit beim bloßen Anblick der Spinnenfotos mit Furcht. Dann nahmen die Versuchspersonen eine Pille ein, und zwar ohne zu wissen, ob es sich dabei um ein Placebo oder um eine 40-Milligramm-Pille des Betablockers Propranolol handelte. Und in der Tat: Jene Probanden, die den Betablocker geschluckt hatten, reagierten schon nach kurzer Zeit sehr viel entspannter und hatten ihre Furcht besser im Griff als jene aus der Placebo-Gruppe.
Nun hoffen Forscher und Mediziner, das Medikament zukünftig bei der Behandlung von Traumapatienten einsetzen zu können. Ihr erklärtes Ziel ist es, die traumatische Erfahrung vom eigentlichen Ereignis zu entkoppeln. Der Patient soll sich zwar nach wie vor an das Ereignis erinnern können - jedoch ohne die damit verbundenen Ängste zu produzieren.
Doch längst nicht alle Wissenschafter sind überzeugt von diesem Prinzip. So schön es wäre, ein solches Medikament in Händen halten zu können - es birgt auch Gefahren. Bei der Weiterentwicklung eines entsprechenden Präparats könnten Erinnerungen womöglich komplett gelöscht werden.
Ethiker mit Bedenken
Es sind aber vor allem erst einmal die konventionellen Nebenwirkungen der Betablocker, die Skepsis hervorrufen. Haarausfall, hoher Blutdruck, Halluzinationen und sogar schwere Depressionen sind keine Seltenheit. Viele Wissenschafter und Ethiker haben jedoch noch weiterführende Bedenken, die sie bei der Erinnerungsmanipulation mit Propranolol sehen. Erinnerungen zu löschen respektive zu manipulieren, sei nicht das Gleiche, argumentieren sie, wie ein Mittel gegen Kopfschmerzen einzunehmen. Es bestünde die reale Gefahr, dass derartige Eingriffe die Persönlichkeit eines Patienten verändern, und zwar in nicht vorhersagbarer Art und Weise. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass Erinnerungen eng mit unserer Persönlichkeit verknüpft sind. Es ist kaum absehbar, welche Folgeerinnerungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, wenn Erinnerungen manipuliert werden - wenn etwa die geistigen Bilder eines albtraumhaften Einsatzes in Afghanistan gelöscht werden, zugleich aber auch die positiven Erinnerungen an Land, Menschen und Kameraden. Denn eines scheint ziemlich wahrscheinlich: Beim Löschen oder Manipulieren negativer Erlebnisse können auch positive Erinnerungen stark in Mitleidenschaft gezogen werden.
Das komplette Löschen von Gedächtnisinformationen erscheint vielen Wissenschaftern daher zu radikal. Einen sanfteren Weg möchten Forscher von der University of Leicester um Robert Pawlak gehen. Ihr erklärtes Ziel ist es, traumatische Erinnerungen lediglich zu dämpfen. In einem ersten Schritt veränderten sie Mäuse gentechnisch so, dass bei ihnen die Produktion des Proteins Lipocalin-2 blockiert wurde. Als Folge dieser Behandlung reagierten die Mäuse weitaus intensiver auf Stress als andere Artgenossen. Die Forscher erklärten den Effekt wie folgt: Im Gehirn gibt es Nervenzellen mit unterschiedlichen Ausstülpungen, sogenannten Dornfortsätzen. Jene mit einer pilzförmigen Ausstülpung sind hierbei für Erinnerungen zuständig. Mäuse, deren Lipocalin-2-Produktion lahmgelegt wurde, besaßen erstaunlicherweise mehr dieser Ausstülpungen als normale Nager. Die Tiere verfügten also über eine besonders ausgeprägte Erinnerung an vergangene Erlebnisse.
Die britischen Wissenschafter hatten also ein Protein identifiziert, das vom Gehirn als Reaktion auf starken Stress produziert wird. Nun möchten sie überprüfen, ob es ein Äquivalent im menschlichen Gehirn gibt und ob eine Ankurbelung der Herstellung dieses Proteins helfen könnte, schmerzhafte Erinnerungen erträglicher zu machen, indem sie nicht in aller Ausführlichkeit im Hirn gespeichert werden. Die Erinnerung wäre damit nicht weg - doch sie würde vielleicht allmählich verblassen und allmählich in einen gnädigen Schleier gehüllt.
Joseph LeDoux: "Angst. Wie wir Furcht und Angst verstehen und therapieren können, wenn wir das Gehirn verstehen“, Ecowin Verlag, März 2016, 632 Seiten, EUR 26,-