Nobelpreisträger Anton Zeilinger: „Ich will wissen, wie die Dinge tief im Inneren funktionieren“
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Der Quantenphysiker Anton Zeilinger, am 20. Mai 1945 in Ried im Innkreis geboren, ist Österreichs berühmtester Wissenschafter. Seine Karriere führte den Physiker vom Wiener Atominstitut über das Massachusetts Institute of Technology (MIT) bis an die Universitäten Innsbruck und Wien. Nach seiner Emeritierung 2013 fungierte Zeilinger als Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Bis heute ist er am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der ÖAW tätig. Die vor 20 Jahren gegründete Einrichtung ist auf quantenphysikalische Grundlagenforschung spezialisiert. Weltberühmt wurde der Physiker durch eine Serie von Experimenten, deren erstes 1997 stattfand und Zeilinger den Spitznamen „Mr. Beam“ einbrachte: Damals gelang es erstmals, den Quantenzustand eines Lichtteilchens auf ein anderes zu übertragen, was teleportieren oder salopp „Beamen“ genannt wurde. Für seine bahnbrechenden Experimente erhielt Anton Zeilinger 2022 den Nobelpreis für Physik. Das folgende Gespräch wurde anlässlich des 20-jährigen Bestehens des IQOQI und der diese Woche wieder vergebenen Nobelpreise geführt.
Sie haben als Kind die Spielsachen Ihrer Schwester zerlegt…
Zeilinger
Auch meine eigenen.
Was wollten Sie herausfinden?
Zeilinger
Wie die Dinge funktionieren. Warum drehen sich die Räder in einer Lokomotive? Die Lokomotive war dann natürlich kaputt.
Und Sie haben sie wieder zusammengebaut?
Zeilinger
Manchmal ja, manchmal nein. Das hat mich eigentlich nicht interessiert. Was mich bis heute interessiert, ist, wie die Dinge tief im Inneren funktionieren.
In der Quantenphysik kann man nicht einfach etwas zerlegen und nachsehen, was im Inneren geschieht. Was hat Sie zur Quantenphysik gebracht?
Zeilinger
Ich habe Quantenphysik aus Büchern gelernt und sofort gesehen, wie fantastisch und schön die Mathematik ist. Ich habe auch gesehen, wie präzise die Vorhersagen der Quantenmechanik stimmen. Es sind die genauesten Bestätigungen einer Theorie, die wir haben, noch genauer als die Astronomie. Nur hat all das damals kaum Sinn ergeben, und das hat man den Lehrbüchern auch angemerkt.
Die Berechnungen waren schön, aber…
Zeilinger
Die Erklärungen und Interpretationen waren schwach.
Und Sie wollten wissen, was dahintersteckt?
Zeilinger
Ja, genau wie bei der Lokomotive.
Wie erklären Sie jemandem die Schönheit und den Nutzen von Quantenphysik?
Zeilinger
Was verstehen Sie unter Nutzen? Ob ich damit etwas bauen kann oder ob ich daraus etwas lernen kann?
Beides.
Zeilinger
Bei der Frage des Nutzens würde ich Sie herausfordern, mir den Nutzen der Astronomie zu erläutern. Warum schaue ich mir ferne Sterne an? Das ist eigentlich eine ziemlich nutzlose Beschäftigung, wenn man von einem simplen Nutzen ausgeht. Es geht um Erkenntnis und um Wissen.
Für unser tägliches Leben brauchen wir das nicht unbedingt. Warum wollen wir die Welt verstehen?
Zeilinger
Es ist erstaunlich, dass unser Gehirn Quantenmechanik betreiben kann. Das war zum Überleben in der Tat nicht notwendig. Ich denke, dass unser Gehirn deshalb so gebaut ist, weil Leute, die immer schon tiefere Fragen stellen wollten, auch andere Fragen gut lösen konnten, die fürs Überleben wichtig waren. Die Evolution hat mit dem Gehirn eine Problemlösungsmethode entwickelt, die, und das ist das Fantastische, nicht nur darauf spezialisiert ist, wie ich am besten dem Säbelzahntiger entkomme. Offenbar hat es sich als zweckmäßiger herausgestellt, eine allgemeinfähige Problemlösungsmaschine zu entwickeln als eine, die nur auf bestimmte Aufgaben spezialisiert ist.
Trotzdem interessant, dass das Gehirn die Effekte der Quantenphysik verstehen kann, die im Alltag keine Rolle spielen.
Zeilinger
In dem Moment, in dem Sie Ihr Handy in die Hand nehmen, benutzen Sie in vielfacher Weise Quantenphysik.
Manche Phänomene der Quantenwelt treten in der erlebbaren Welt nicht auf, zum Beispiel, dass ein Teilchen mehrere Zustände gleichzeitig besitzen kann und erst eine Messung einen davon bestimmt. Leben wir nicht in zwei Wirklichkeiten?
Zeilinger
Eine Wirklichkeit kann ich angreifen, zum Beispiel den Sessel, auf dem ich hier sitze. Was soll die zweite sein?
Eine Wirklichkeit, in der die Lokalität aufgehoben ist: Zwei Teilchen beeinflussen einander unabhängig von ihrer Entfernung ohne Zeitverzögerung. Das gibt es in der erfahrbaren Welt nicht, in der nichts schneller sein kann als das Licht.
Zeilinger
Dazu zitiere ich gerne einen meiner Lieblingsphysiker, Niels Bohr. Er hat gesagt, es gibt keine Quantenwelt. Es gibt nur eine abstrakte mathematische Beschreibung. Die einzige Welt, von der ich sagen kann, sie existiert wirklich, ist die, die mich umgibt und die ich wahrnehmen kann.
Aber Sie können die Phänomene der Quantenwelt nicht nur berechnen, Sie haben auf deren Basis spektakuläre Experimente realisiert.
Zeilinger
Ich nutze die Phänomene der Quantenwelt, um gewisse Dinge vorherzusagen. Das sind Ergebnisse von Experimenten, die sich durch Messungen an einem Detektor oder das Leuchten eines Lasers äußern. Das aber sind wiederum Phänomene in unserer normalen Welt. Die Quantenwelt ist nur eine Konstruktion.
Sie würden nicht sagen, wir sind mit zwei Wirklichkeiten konfrontiert, die wir nicht vereinbaren können?
Zeilinger
Nein, das würde ich nicht sagen. Wir haben gute Bilder unserer Wirklichkeit entworfen.
Niels Bohr hat gesagt, es gibt keine Quantenwelt. Es gibt nur eine abstrakte mathematische Beschreibung. Die einzige Welt, von der ich sagen kann, sie existiert wirklich, ist die, die mich umgibt und die ich wahrnehmen kann.
Wir haben Gesetze der Physik, die nicht zusammenpassen.
Zeilinger
Doch, wir wissen, wie wir aus vielen kleinen Systemen die Gesetze der klassischen Physik erhalten.
Ich meine die Vereinbarkeit von Quantenphysik mit Relativitätstheorie, an der schon Albert Einstein verzweifelt ist.
Zeilinger
Ich glaube nicht, dass er daran verzweifelt ist. Aber die Vereinigung von Gravitation und Quantenphysik ist bis heute tatsächlich nicht gelungen. Das ist immerhin ein Problem, mit dem sich einige der intelligentesten Mitglieder der Spezies Homo sapiens seit 100 Jahren befassen. In Amerika sagt man gerne: They are barking up the wrong tree. Der Hund bellt einen Baum an, aber die Katze sitzt ganz woanders. Ich glaube, dass die Problemlösung aus einer ganz anderen Richtung kommen wird. Und wenn sie endlich gelungen ist, werden wir sagen: Wieso haben wir das nicht gleich gesehen?
Vielleicht wird es sein wie bei Einstein selber, der als wichtigen Schritt zur Relativitätstheorie radikal den Äther abgeschafft hat, ein lange postuliertes Medium, das für die Lichtausbreitung verantwortlich gemacht wurde?
Zeilinger
Das ist ein gutes Beispiel. Einstein hat damals gesagt: Den Äther vergessen wir jetzt, denn ich kann ihn nicht direkt nachweisen. Und ich muss alle Konzepte, die ich nicht direkt nachweisen kann, aus der Physik werfen. Ich kann auch nicht direkt nachweisen, ob der Zug durch den Bahnhof fährt oder der Bahnhof vorbeigezogen wird. Das ist ja ein fantastisches Bild. Stellen Sie sich vor, es wäre tatsächlich so, dass der Bahnhof vorbeigezerrt wird. Und das bei den vielen Bahnhöfen!
Da käme aber Ockham’s Razor zum Tragen.
Zeilinger
Ja, da käme wahrscheinlich Ockham’s Razor zum Tragen…
…eine Heuristik, eine Art Faustregel, wonach die einfachere Erklärung meist plausibler ist.
Zeilinger
Nicht die einfachere, sonder diejenige, die mit weniger Konzepten auskommt.
Wäre es denkbar, dass auch dunkle Materie und dunkle Energie das Schicksal des Äther ereilen?
Zeilinger
Ich persönlich bin der Meinung, dass durchaus eine Chance besteht, dass dunkle Materie nicht existiert und dunkle Energie ebensowenig, auch wenn es vernünftige Annahmen sind und es gut ist, dass man danach sucht.
Kommen wir auf praktische Anwendungen zu sprechen: auf Quantencomputer, Quantenkryptografie und Quanteninternet. Wo stehen wir gerade?
Zeilinger
Die Quantenkryptografie, die Verschlüsselung von Daten, hat einen guten Entwicklungsstand erreicht. Sie funktioniert über beliebige Entfernungen, auch zu Satelliten. Das einzige Problem sind die sehr geringen Datenraten. Wir reden im Optimalfall von Megabit pro Sekunde. Für ein Internet ist das gar nichts. Die Idee eines Quanteninternet ist Science Fiction.
Wann könnte ein Quanteninternet Realität sein?
Zeilinger
Niemand kann etwas Vernünftiges darüber sagen, wann es kommt und ob es überhaupt kommt. Quantenkryptografie eignet sich für ganz spezifische Dinge, wobei mir Leute aus dem Bankenbereich sagen: Unsere Systeme sind sehr gut. Es gibt gelegentlich Einbrüche, aber die Zahl ist so gering, dass es sich nicht auszahlen würde, auf eine neue Technologie umzustellen.
Es gibt immer wieder Hackerattacken auf große Unternehmen.
Zeilinger
Ja, aber dabei geht es um so große Datenmengen, dass die Quantenkryptografie auch nicht hilft. Wenn wir über Quantencomputer reden, dann ist das eine wunderschöne Entwicklung. Ich komme gerade von einer Konferenz, an der eine ehemalige Studentin von mir teilgenommen hat. Sie war lange bei Google und hat bei der Entwicklung von Quantencomputern mitgearbeitet. Im Moment haben wir wunderbare Demonstrationssysteme, die aber noch sehr weit weg sind davon, beliebige Probleme lösen zu können.
Nichts ist in der Nähe einer Anwendung?
Zeilinger
Die meisten Leute in der Community sagen, wir brauchen wahrscheinlich noch 20 Jahre. Es ist unglaublich interessante Physik, und es gibt fünf, sechs verschiedene Technologien für Quantencomputer, aber von keiner kann man sagen, ob sie die Lösung sein wird. Zum Vergleich: Bei der Artificial Intelligence entstehen Anwendungen in so hohem Tempo, dass man Begrenzungen einführen muss, um Missbrauch zu verhindern. Diese Entwicklung haben wir bei Quantencomputern nicht.
Quantencomputer sind eine wunderschöne Entwicklung. Im Moment haben wir wunderbare Demonstrationssysteme, die aber noch sehr weit weg sind davon, beliebige Probleme lösen zu können.
Wien hat mit Pionieren der Quantenphysik wie Erwin Schrödinger große Tradition. Die Institute für Quantenoptik und Quanteninformation in Wien und Innsbruck, die wesentlich auf Ihrer Initiative beruhen, begehen nun ihr 20-jähriges Bestehen. Sehen Sie die Institute als Anknüpfung an eine historische Tradition?
Zeilinger
Ich persönlich auf jeden Fall. Es ist völlig klar, dass die Physik von der Tradition eines Schrödinger und auch Boltzmann geprägt war, der ein Vorläufer der Quantenphysik war. Es ist auch eine Tradition der intellektuellen Offenheit gegenüber fundamentalen Fragen. Das haben unsere Freunde in Amerika nicht.
Weshalb? Weil sie rasch Ergebnisse liefern müssen?
Zeilinger
Amerika wurde von Leuten aufgebaut, die die Grenzen immer weiter hinausgeschoben und dabei handfeste Lösungen gebraucht haben. Worum ging es bei der Entwicklung der Atombombe? Es ging darum, ein Ergebnis zu liefern und nicht lange zu diskutieren, was das bedeutet. Europa besitzt eine alte intellektuelle Tradition, die es in Amerika nicht gibt. Als ich von Wien nach Amerika gegangen, hat mir plötzlich etwas gefehlt.
Sollten wir die Fähigkeiten des guten alten Europa wieder mehr würdigen?
Zeilinger
Ich kämpfe unablässig darum, dass wir in Wien wirkliche Grundlagenforschung fördern. Ich sage jedem Entscheidungsträger: In dem Moment, in dem ich bei einem Forschungsantrag angeben muss, wozu das praktisch führen wird, ist es keine Grundlagenforschung mehr. Und wenn ich ein Grundlagenforschungsprojekt durchführe, und am Schluss kommt genau das heraus, was ich von Anfang an geplant habe, war es verschwendetes Geld.
Weil große Entdeckungen erst dann entstehen, wenn man spielerisch und ohne konkretes Ziel ann Themen herangeht?
Zeilinger
Manchmal entstehen Dinge durchaus aus dem Wunsch, Anwendungen zu finden. Generell denke ich: Man muss sich in seinem Fachgebiet soweit vorbereitet haben, dass etwas Unerwartetes, Interessantes passieren kann. Und ich muss soweit vorbereitet sein, dass ich das auch erkenne.
Warum ist es Ihnen wichtig, Wissenschaft nach außern zu tragen?
Zeilinger
Das kann Ihnen genau sagen. Ich selber finde Forschung spannend, und das sollten andere Leute auch erfahren. Der Funke springt fast immer über, unabhängig vom Alter, unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund. Offenbar haben alle Menschen diese tiefe Neugierde und wollen einfach mehr wissen.
Diese Woche werden die Nobelpreise vergeben. Sie wurden vor zwei Jahren ausgezeichnet. Hat der Nobelpreis für Sie etwas verändert?
Zeilinger
Wahnsinnig viel. Es ist unglaublich: Ich bekomme jeden Tag fünf, sechs Einladungen aus aller Welt zu Vorträgen. Der Nobelpreis hat mir auch interessante Zugänge eröffnet. Ich werde zu Meetings eingeladen, bei denen die Top-Leute weltweit zu Gebieten wie Künstliche Intelligenz oder Klimaforschung zusammenkommen. Diese Chance hätte ich sonst nicht. Wenn man mit diesen Leuten redet, stellt sich die Sachlage oft ganz anders und wissenschaftlich differenzierter dar als kolportiert.
Was meinen Sie? Dass die Welt selten schwarz oder weiß ist?
Zeilinger
Sie kann schwarz oder weiß sein, aber es können lange alle Argumente für schwarz sprechen, und plötzlich kippt alles. Das hat ja auch Albert Einstein erlebt. Er hatte die Idee der Lichtteilchen im Jahr 1905. In den Jahren danach hieß es noch: Gelegentlich fabriziert auch jemand wie Einstein Unsinn. 1922 bekam er genau dafür den Nobelpreis. Das ist das Schöne an der Wissenschaft.
Dass sie überraschend sein kann?
Zeilinger
Sie ist überraschend, und es kommt immer Neues.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft