Nobelpreisträger Eric Kandel über das große Wunder Gehirn

Eric Kandel, 85, Medizinnobelpreisträger mit österreichischen Wurzeln, über das unverstandene Wunderwerk Gehirn, seine Flucht aus Österreich, das beklemmende Gefühl der Fremde - und unvorhersehbare Fügungen, die ihn zu einem internationalen Spitzenforscher machten.

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Die Antwort kommt prompt: "Grüner Veltliner“, sagt Eric Kandel auf die Frage, welches sein österreichisches Lieblingsgericht sei. Der 85-jährige Nobelpreisträger unterstreicht seine Worte mit dem für ihn typischen kullernden Lachen. Wer den Neurowissenschafter um elf Uhr Vormittag in seinem lichtdurchfluteten Büro an der Columbia University in New York besucht, bekommt jedoch keinen Wein, sondern nur Tee angeboten.

Kandel trägt Jackett und selbstverständlich Mascherl (er besitzt rund 100, wählt aber immer aus denselben zehn) und scheint ehrlich interessiert, sich über Österreich auszutauschen: das Land, aus dem er im Alter von neun Jahren vertrieben wurde und das sich plötzlich wieder an ihn erinnerte, als er im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet wurde - gemeinsam mit Arvid Carlsson und Paul Greengard für Entdeckungen von Signalübertragungen im Nervensystem. Kandel benutzte die Meeresschnecke als Modell, um zu erklären, welche Mechanismen die Bildung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses erlauben.

Heute beschäftigt sich Kandel mit zahlreichen Themen, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemeinsam zu haben scheinen. Zusammen mit seiner Frau Denise, die Professorin für Sozialmedizin an der Columbia University ist und über Suchtverhalten und Nikotinabhängigkeit bei Jugendlichen forscht, konnte er zeigen, dass Nikotin das Gehirn aufnahmefähiger für andere Drogen macht. Zudem schreibt er ein Buch über abstraktes Denken in Wissenschaft und Kunst. Kandel blättert durch das Manuskript, das mit figurativen und abstrakten Werken von Piet Mondrian, William Turner, Mark Rothko und anderen Künstlern bebildert ist, und sagt: "Künstler können genau wie Forscher ein großes Problem aufgreifen, sich auf nur eine Komponente konzentrieren und versuchen, diese tiefgehend zu verstehen.“

Seit dem Nobelpreis hat sich Kandels Beziehung zu Österreich verändert. Ein- bis zweimal im Jahr kommt er nach Wien. Die Ehrentitel häufen sich, doch seine aktiven Rollen sind ihm wichtiger. So ist er Mitglied im Kuratorium des Institute of Science and Technology. In seinem Buch "Das Zeitalter der Erkenntnis“ beschäftigte er sich mit der intellektuellen Entwicklung Wiens um die vorvergangene Jahrhundertwende. Er hat zahlreiche Freunde in Wien; mit Präsident Heinz Fischer trifft er sich auf einen Tee, wenn es die Zeit zulässt. Zuletzt nahm Kandel seine österreichische Staatsbürgerschaft wieder an.

Doch all dies ist für Kandel kein Grund, sentimental zu werden. An Österreichs Vergangenheitsaufarbeitung übt er nach wie vor Kritik. Und außer Wein mag er tatsächlich keine österreichischen Kulinaria, sondern bevorzugt leichte Kost. Er deutet auf einige Bananen in seinem Büro: "Mein Mittagessen.“

INTERVIEW: ANNA GOLDENBERG

profil: Im Dokumentarfilm "Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ erzählen Sie, wie Sie in das Labor des Hirnforschers Harry Grundfest gingen und sagten: "Ich will herausfinden, wo das Ego … Eric Kandel: … das Super-Ego und das Id lokalisiert sind.“ Er dachte, ich sei verrückt.

profil: Welche unrealistischen Erwartungen haben die jungen Wissenschafter, mit denen Sie heute arbeiten? Kandel: Viele Menschen verstehen einfach nicht, wie kompliziert der Geist ist und wie wenig wir von dessen biologischer Basis wissen. Wir haben in den 60 Jahren, in denen ich auf dem Gebiet tätig bin, viele Fortschritte gemacht, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns.

profil: Gibt es zurzeit nicht auch einen übertriebenen Glauben in die Erklärungsmacht der Neurowissenschaft? Kandel: Ich denke nicht, dass die Neurowissenschaften fehlgeleitet sind. Die Forscher nehmen die Neurowissenschaften sehr ernst und sind sehr kritisch. Es gibt viele Dinge, die wir nicht wissen, aber es schwirren sehr wenige verrückte Hypothesen im Raum herum.

profil: Oft wird aber der Eindruck erweckt, mit bunten Gehirnscans das Denken erklären zu können. Kandel: Eine interessante Sache wurde kürzlich im Magazin der "New York Times“ diskutiert. Es ging darum, ob bildgebende Verfahren die Psychoanalyse retten können. Ich denke, es gibt eine falsche Vorstellung darüber, was mit der Psychoanalyse geschah und warum sie im Rückzug begriffen ist. Das Problem ist, dass sie nie versucht hat, eine Wissenschaft zu werden. Die Analytiker wissen nicht, wie man wissenschaftlich arbeitet. Sie denken, sie machen einige Experimente mit bildgebenden Verfahren, und erkennen nicht, dass man zuvor tiefgreifende Probleme verstehen muss. Für die Psychoanalyse muss man den menschlichen Geist verstehen.

profil: Sie sprechen den Umstand an, dass viele Studien, die auf Gehirnaufnahmen beruhen, von Psychologen durchgeführt werden. Wie könnten sinnvolle wissenschaftliche Studien in der Psychoanalyse aussehen? Kandel: Viele Forscher arbeiten daran, einerseits die biologische Basis zu durchschauen. Zweitens braucht man Langzeitstudien, um zu wissen, wer am meisten von der Psychoanalyse profitiert. Es sind zwei Ebenen. Die eine ist: Funktioniert es und unter welchen Umständen? Und die zweite: Wie funktioniert es? Was sind die biologischen Fundamente?

profil: Würde Sie dieses Forschungsgebiet interessieren? Kandel: Eigentlich nicht. Für mich ist das zurzeit zu ungenau. Mir gefällt Lernen und Gedächtnis und alles, was damit verwandt ist.

profil: In einer neuen Studie, die im Juni veröffentlicht wurde, haben Sie sich mit Schizophrenie und Motivation beschäftigt. Kandel: In jüngerer Zeit machte ich Arbeiten mit Tiermodellen. Ich untersuchte altersbedingten Gedächtnisverlust und zeigte, dass dieser sich von Alzheimer unterscheidet. Weiters habe ich an posttraumatischen Belastungsstörungen geforscht und, gemeinsam mit meiner Frau, mehrere Studien über Drogen durchgeführt und dabei Mäusemodelle benutzt. Und jetzt habe ich an Tiermodellen Schizophrenie studiert.

profil: Was haben Sie herausgefunden? Kandel: Einen molekularen Defekt bei Schizophrenie. Es geht um die Entdeckung, dass im Striatum, einem Teil des Großhirns, eine Überexpression eines Dopaminrezeptors namens D2 besteht. Wir haben eine Maus entwickelt, die den D2-Rezeptor nur im Großhirn zeigt. Dann ließen wir uns eine Technik einfallen, die uns erlaubte, dieses Gen an- und abzuschalten.

profil: Und was geschah dabei? Kandel: Wenn das Gen aktiv ist, hat man ein kognitives Defizit, sehr ähnlich wie Schizophreniepatienten. Man hat auch Motivationsprobleme, ebenfalls haargenau wie bei Schizophrenie. Wenn man das Gen nun deaktiviert, verschwindet der Motivationsmangel, aber das kognitive Defizit bleibt. Das ist sehr interessant, und wir untersuchen es weiter.

Wir verstehen das Hirn nicht besonders gut.

profil: Wann könnte das Patienten nützen? Kandel: Dank der Motivationsthematik haben wir nun eine Idee von Prozessen, die auch mit dem Botenstoff Serotonin in Verbindung stehen. Wenn ich einen Vortrag halte, sage ich: "Das steigert die Motivation nicht nur bei Menschen mit Schizophrenie, sondern auch bei anderen, also gebe ich allen in meinem Labor diese Droge.“ Ich scherze.

profil: Eines der größten Themen der Hirnforschung ist derzeit das europäische Human Brain Project, das zuletzt viel Kritik erntete. Was halten Sie davon? Kandel: In Amerika dachte man die längste Zeit, dass es fehlgeleitet sei. Die Idee war, eine Computersimulation des menschlichen Gehirns zu erstellen. Wir verstehen das Hirn nicht besonders gut. Wie können wir da eine Computersimulation von etwas machen, das wir gar nicht verstehen? Nach einiger Zeit wurde das Programm erneut geprüft. Jeder findet jetzt, dass es restrukturiert werden muss, und das passiert gerade. Ich denke, es wird langfristig sinnvoll sein und eine gute Interaktion zwischen Obamas White House Brain Initiative und dem europäischen Programm geben.

profil: Kommen wir auf Ihre biografische Verbindung zu Wien zu sprechen. Sie und einige Gleichgesinnte haben wiederholt den Karl-Lueger-Ring in Wien kritisiert. Inzwischen wurde der Name geändert. Was halten Sie von dem neuen Namen? Kandel: Universitätsring ist perfekt. Wir wussten, dass man einen Vorschlag wie Sigmund-Freud-Ring ablehnen würde. Also dachten wir an einen neutralen Namen.

profil: Warum denken Sie, dass Sigmund-Freud-Ring abgelehnt worden wäre? Kandel: Weil er Jude war! Und auch, weil es sonst ausgesehen hätte, als hätten wir bloß eigene Vorstellungen durchsetzen wollen. Wir haben es aber nur getan, um etwas Böses zu entfernen.

profil: Denken Sie, dass die Österreicher oder die Wiener ein Antisemitismusproblem haben? Kandel: Scherzen Sie? Es gibt deutlichen Antisemitismus. Wien hatte eine fantastische jüdische Gemeinde. Sie stirbt aus. Und anders als zum Beispiel in Berlin unternimmt niemand Anstrengungen, um eine jüdische Gemeinde in Wien aufzubauen.

Der Antisemitismus in Europa ist furchtbar.

profil: Die jüdische Gemeinde selbst versucht es. Kandel: Bis jetzt nicht sehr erfolgreich, aber ja, es gibt Bemühungen. Doch der Antisemitismus in Europa ist furchtbar. In Frankreich, Ungarn und besonders in Dänemark, wo man früher jeden einzelnen jüdischen Mitbürger beschützte, gab es einen Ausbruch von Antisemitismus. Die Tatsache, dass die palästinensisch-israelische Situation so angespannt ist und die Israelis die Lage nicht sehr gut handhaben, macht die Dinge schlimmer.

profil: Sie nahmen vor einigen Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft wieder an. Wie kam es dazu? Kandel: Nun, das ist kompliziert. Erstens dachte ich, wenn ich kritisiere, sollte ich das eher von der Position eines Insiders tun statt als Außenstehender. Außerdem war meine Familie sehr erpicht darauf, dass ich die Staatsbürgerschaft habe, weil sie an die Kinder und Enkelkinder weitergegeben wird. Somit hätten sie Zugang zum europäischen Markt und zu Österreich, was ihnen attraktiv erschien.

profil: Sprechen Sie mit Ihrer Familie viel über Österreich und Ihre Vergangenheit? Kandel: Ja. Und ich habe darüber geschrieben. Es ist die traumatischste Erfahrung meines Lebens.

profil: Sie wuchsen mit der deutschen Sprache auf und mussten dann Englisch lernen. Nun sprechen Sie es akzentfrei. Was geschah da in Ihrem Gehirn? Kandel: Vor der Pubertät können Kinder Sprachen lernen, inklusive Akzent. Wenn man neun oder zehn Jahre alt ist, in ein anderes Land kommt und der Sprache ausgesetzt ist, lernt man sie. Ich lernte Englisch in wenigen Monaten. Mein Bruder, der extrem intelligent ist, war fünf Jahre älter und hat nie seinen Akzent verloren. Meine Frau, die mit 16 Jahren herkam, hat noch immer einen französischen Akzent.

profil: Gab es andere Dinge, die Sie als Herausforderung empfanden? Kandel: Man fühlt sich ungelenk, wenn man in ein anderes Land kommt. Ich wollte Amerikaner sein, aber mein Gewand war europäisch, und wir hatten kein Geld, um neue Kleidung zu kaufen. Ich wollte mich einfügen.

profil: Was war daran am schwierigsten? Kandel: Man fühlt sich, als würde man die Bräuche nicht kennen. Man spielt nicht Basketball, man spielt nicht Baseball. Man kann bestimmte Dinge nicht, die amerikanische Kinder können. Als ich in die High School kam, waren die Probleme weitestgehend gelöst. Die High School war fantastisch für mich. Es war eine tolle, befreiende Erfahrung. Ich hatte auch das Gefühl, endlich aus dem Schatten meines Bruders zu treten. Mein Bruder war so herausragend in Wien gewesen. In Amerika begann ich, sehr gut im Sport zu sein. Ich war der Kapitän des Leichtathletikteams. Ich war Herausgeber der Schülerzeitung. Ich hatte Freundinnen. Ich war ein guter Schüler. Ich kam nach Harvard. Ich konnte wirklich voll zur Geltung kommen.

In Harvard wollte ich verstehen, wie Menschen an einem Tag Haydn, Mozart und Beethoven hören und am nächsten Tag Juden zusammenschlagen können.

profil: Wenn Sie sich vorstellen, Sie hätten die Schule nicht 1948, sondern 1998 oder 2008 beendet: Was würden Sie aus Ihrem Leben machen? Kandel: Das kann man nicht beantworten. Es gibt so viele zufällige Wendungen im Leben, die beeinflussen, was man schließlich macht. In Harvard wollte ich verstehen, wie Menschen an einem Tag Haydn, Mozart und Beethoven hören und am nächsten Tag Juden zusammenschlagen können. Also studierte ich Literatur und Geschichte. Ich schrieb meine Abschlussarbeit über die Reaktion auf den Nationalsozialismus von drei deutschen Schriftstellern, die unterschiedliche Positionen einnahmen.

profil: Wie kamen Sie zur Hirnforschung? Kandel: In meinem dritten Jahr lernte ich eine Wiener Frau kennen, Anna Kris, deren Eltern wichtige Psychoanalytiker in Freuds Kreis gewesen waren. Ich war sehr eng mit ihnen, insbesondere mit Ernst Kris. Er sagte mir: "Durch intellektuelle Geschichte wirst du nichts über Motivation lernen und darüber, warum Menschen Dinge tun. Du musst den Geist studieren. Du musst Psychoanalyse machen.“

profil: Und Sie haben den Rat befolgt? Kandel: Damals musste man die medizinische Universität absolvieren, um Analytiker zu werden. Also absolvierte ich einen naturwissenschaftlichen Kurs und ging dann an die medizinische Fakultät, um Analytiker zu werden. In meinem letzten Jahr dachte ich: Auch ein Psychoanalytiker sollte etwas vom Hirn verstehen. Also kam ich hierher, an die Columbia University, und belegte für sechs Monate ein Wahlfach. Ich liebte es. Es hat mein Leben verändert.