Nordpol-Expedition: Wie überlebt man im ewigen Eis?
Mitte Juli 1874 war der Großteil der Mannschaft bereit zu sterben. Wochenlang hatte sie Boote mit Verpflegung und Forschungsmaterial durch das arktische Eis gezogen, in dem Glauben, auf das offene Meer zu treffen. Die 23 Männer wollten heim nach Europa. Alle Hoffnung war jedoch zunichte, als plötzlich am Horizont die festgefrorene „Admiral Tegetthoff“ wieder auftauchte: das Forschungsschiff, das sie vor knapp zwei Monaten verlassen hatten. Die Drift hatte den mühevollen Marsch der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition sabotiert – und sie an ihren Ausgangspunkt zurückgeführt.
„Es gewann den Anschein, als stünde uns nach langem Kampfe mit der Übermacht des Eises nichts anderes bevor, als die verzweiflungsvolle Rückkehr zum Schiffe und ein dritter Winter daselbst, bar jeder Hoffnung!“, schrieb der Offizier und Polarforscher Julius Payer später. Er leitete die Expedition mit seinem Kollegen Carl Weyprecht, und beiden war klar: Eine Rückkehr zum Schiff, worauf die Mannschaft drängte, würde zwar kurzfristig Erleichterung, aber auch den sicheren Tod bedeuten. Es gab zu wenig Vorräte für einen dritten Winter an Bord. Also hielt Weyprecht eine Brandrede, mit der Bibel in der Hand. „Nie zurück!“, das war sein Schlachtruf, mit dem er die letzten Kräfte der entmutigten Mannschaft weckte.
Wären seine Leute nicht weiter tapfer in Richtung Süden gestapft, hätten sie ihre größte Errungenschaft mit ins Grab genommen: die Entdeckung von Franz-Josef-Land am 23. August 1873. 150 Jahre danach widmet die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) der ersten österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition eine Ausstellung in Wien. Deren Bedeutung für die Polarforschung ist bis heute unbestritten: Die sogenannte Payer-Weyprecht-Expedition hatte die bis dahin herrschende Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer widerlegt. Sie hatte mit Kap Fligely erstmals den nördlichsten Punkt Eurasiens betreten – und nicht zuletzt den internationalen Wettlauf zur Erforschung des Nordpols angestoßen.
Die Flaschenpost
„Das Herzstück ist die Flaschenpost von Carl Weyprecht“, sagt Kuratorin Petra Svatek, die profil vorab Einblick in die Ausstellung gewährte. Das Schriftstück ist erstaunlich gut erhalten: „Das Schiff wurde am 21. August 1872 im Eise besetzt, fror fest und trieb bis Anfang November 1873 im Packeise, fortwährenden Eispressungen ausgesetzt (…). Ende August 1873 Land entdeckt und dasselbe Franz Josefs Land getauft (…). Beschlossen das Schiff gegen 20. Mai zu verlassen, um mit 3 Booten Nowaja-Zemlja zu erreichen. Maschinist Krisch an Tuberkulose gestorben; haben Ende April 3 Kranke“, hatte Carl Weyprecht darauf mit schwarzer Tusche notiert. Der Finder sollte den Brief an das nächste österreichische Konsulat weiterleiten, so die abschließende Bitte des Marineoffiziers und Polarforschers.
Es sollte 104 Jahre dauern, bis der russische Mechaniker Wladimir Serow die Flaschenpost fand. Er war im August 1978 mit einer sowjetischen Expedition auf der Franz-Josefs-Land-Insel Lamont unterwegs, wo er zum Andenken an seine Reise einen Pfahl aufstellen wollte. Unter einem Steinhaufen entdeckte Serow Scherben von Steingut, einen Korken und einen Holzzylinder, in dem er etwas in Wachspapier Eingewickeltes entdeckte. „Ich machte es auf und sah einen mit einem Faden umwickelten Brief“, berichtete der junge Mann. Zwar konnte er die Kurrentschrift nicht lesen, aber die Signatur entzifferte er. Der Name Weyprecht war unter Polarforschern wohlbekannt, also landete der Fund zunächst im Arktischen Museum in St. Petersburg. Günther Hamann von der ÖAW erfuhr kurz darauf von der Flaschenpost – und erwirkte schließlich 1980 deren Überstellung nach Wien.
Die Taufe der Inseln
Ebenfalls Teil der Ausstellung ist die erste Karte von Franz-Josef-Land. Sie zeigt nicht nur die Route der Mannschaft, sondern auch die Namen, die sie den entdeckten Inseln, Buchten, Kaps und Gletschern gab. „Die Taufen zeugen vom Imperialismus dieser Zeit“, sagt Kuratorin Svatek: Der gesamte Archipel wurde nach Kaiser Franz Josef I. benannt; es folgten Kap Budapest, Kronprinz Rudolph Land, Insel Klagenfurt oder Kap Tirol – ein Teil der Namen hat sich trotz sowjetischer Herrschaft ab 1926 bis heute gehalten.
Drei Mal rückte der zähe Expeditionsleiter Payer im Frühjahr 1874 mit wechselnden Teams aus, um ein vollständiges Bild des Archipels zu erhalten. Es waren kraftraubende Reisen: „Unmittelbar nachdem wir unser Nachtmahl mit geschlossenen Augen verzehrt hatten, fielen wir in Schlaf, größer noch als Müdigkeit und Durst war unsere Schlafsucht; die Hunde benützten diesen Zustand, mehrere Pfunde Bärenfleisch und eine geöffnete Büchse condensierter Milch zu verschlingen, was sie nicht daran hinderte, uns am nächsten Morgen frech anzubellen.“
Am 12. April erreichte Payer den nördlichsten Punkt Eurasiens, nur 900 Kilometer trennen ihn vom Nordpol. „Die zunehmende Unsicherheit unseres spaltenumringten Weges, Proviantmangel, häufiges Einbrechen und die Gewissheit, seit Mittag durch einen fünfstündigen Marsch die Breite von 82 Grad und 5 Minuten erreicht zu haben, setzen unserem siebzehntägigen Vordringen hier endlich ein Ziel. Wir befanden uns jetzt in etwa tausend Fuß Höhe auf einem Vorgebirge, dem ich als geringes Zeichen von Ehrfurcht und Dankbarkeit für einen in der geographischen Wissenschaft hochverdienten Mann den Namen Cap Fligely gab.“ Gemeint war August von Fligely, ein österreichischer Kartograf, der die mitteleuropäische Gradmessungskommission mitbegründet hatte.
Eisbärenhirn und Walrossfleisch
Die Mannschaft der „Tegetthoff“ war aus allen Teilen der Monarchie zusammengewürfelt: Payer stammte aus Böhmen, Weyprecht aus Deutschland; zwei Tiroler Bergsteiger waren dabei, der Schiffsarzt stammte aus Ungarn, der Koch aus Graz, die meisten Matrosen wegen ihrer ausgezeichneten Seekenntnisse aus Kroatien und Italien. „Die Mannschaft spricht, zwei Italiener ausgenommen, slawisch unter sich und italienisch im Dienst. Das geistige Haupt der kleinen deutschen Kolonie ist der Koch, ein Steyrer. Sein Herz ist besser als seine Kunst; nur zu gern überlässt er sein Amt dem Ofen“, schreibt Julius Payer in seinem Reisebericht mit dem Titel „Nordpol-Expedition“. Er wurde zwei Jahre nach der Rückkehr zum 700-Seiten-Bestseller.
Hunger litt die Mannschaft selten, wie sich dem Werk entnehmen lässt. Das lag an den reichen Vorräten an Bord des Forschungsschiffs, an der strengen Rationierung im zweiten Polarwinter – aber auch am Jagdgeschick der Truppe. Sie erlegten Seehunde, Robben, Walrosse und vor allem Eisbären. „Der Ruf: ‚Ein Bär‘ hatte uns vom Mittagsmahl weggerufen; binnen Minuten standen zehn Schützen hinter der Nordwand und einigen Eisgruppen vertheilt … Nur noch etwa 50 Schritte entfernt, empfing er die Schüsse vom Schiffslieutnant Brosch und den Tirolern in die Brust“, schreibt Payer. Doch das Tier war noch nicht tot. Es wandte sich blitzschnell gegen Payer, dessen Gewehr versagte. „Haller befreite mich aus dieser Verlegenheit, indem er den Bären durch den Kopf schoss. Seine Länge betrug 2 Meter und 30 Zentimeter.“ Der Kadaver wurde anschließend stets penibel verteilt: „Der Lungenbraten und die vier Schenkel wurden für die gemeinschaftliche Tafel aufgehoben, die Zunge fiel dem Doctor anheim, das Herz dem Koch, das Blut den Scorbutkranken, das Rückgrat und die Rippen den Hunden … das Hirn gehörte der Officierstafel.“
Ohne die Jagd hätte die Mannschaft der „Tegetthoff“ wohl nicht überlebt. Dann wäre Carl Weyprechts Flaschenpost das einzige Zeugnis der abenteuerlichen Expedition geblieben. Es sollte aber anders kommen: Zwei Monate nach dessen Brandrede im Eis erreichten die 23 Männer und ihre drei letzten Schlittenhunde endlich das offene Meer. „Mit drei Hurrahs stießen wir vom Eise ab, und die Fahrt über das freie Meer begann. Ihr glücklicher Verlauf hing vom Wetter und unablässigem Rudern ab; trat ein Sturm ein, so mußten die Boote sinken“, beschrieb Payer die letzte Etappe. Das Meer blieb ruhig, nach tagelangem Rudern landete die Mannschaft Ende August 1874 auf der russischen Insel Nowaja Semlja. Einen Monat später kehrte die vermisst geglaubte Truppe nach Wien zurück, wo sie von einer euphorischen Menge empfangen wurde.
Rückzugsort für Eisbärinnen
150 Jahre nach der berühmten Expedition sieht die Arktis völlig anders aus. Die Erderhitzung ließ Packeis und Gletscher schrumpfen; die Nordostpassage ist im Sommer immer öfter eisfrei. 2018 bahnte sich die „Venta Maersk“ als erstes Containerschiff den Weg von Wladiwostok nach St. Petersburg – und ersparte sich damit ein Drittel des traditionellen Seewegs von Asien nach Europa durch den Suezkanal. Ab 2040 könnte sogar die direkte Route über den Nordpol schiffbar werden.
2023 verzeichneten norwegische Arktisforscher wieder einmal einen Rekord: Es war der wärmste Jänner seit Beginn ihrer Aufzeichnungen in Spitzbergen. Das Meer an deren Nordküste war beinahe den ganzen Winter über eisfrei. Jon Aars vom norwegischen Polar Institut in Tromsø beobachtet, was das für die Eisbären in der Region bedeutet. Ihn interessieren besonders die besenderten Muttertiere, die im Herbst Geburtshöhlen im Packeis aufsuchen müssen. „Immer mehr Eisbärinnen gebären in Franz-Josef-Land“, sagte Aars der Lokalzeitung „The Barents Observer“. Das Archipel liegt nordöstlich von Spitzbergen und ist aufgrund der Lage zuverlässiger mit Eis bedeckt.
Die 191 Inseln von Franz-Josef-Land galten als Niemandsland, bis die Sowjetunion sie 1926 für sich beanspruchte und später, in der Zeit des Kalten Krieges, zum militärischen Sperrgebiet erklärte. 2016 machte der damalige russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew sie zum Nationalpark, der vor allem chinesische Kreuzfahrt-Besucher anlocken soll.
Wie lange Franz-Josef-Land noch ein Rückzugsort für die Eisbärinnen sein kann, ist indes fraglich. Auch hier schmelzen die Gletscher: In den Jahren 2010 bis 2017 sogar zwei Mal so schnell wie in der vorhergehenden Dekade, wie NASA-Daten kürzlich zeigten. „Keine der Nordpol-Expeditionen hat eine so mannigfache Berührung mit den Eisbären erlebt, als die österreichisch-ungarische“, schreibt Julius Payer. Damit wird er wohl für immer recht behalten.
TIPP: Land, Land, endlich Land! 150 Jahre Franz-Josef-Land. Eine Ausstellung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 24. Mai bis 14. Juli, Bibliothek der ÖAW, Bäckerstraße 13, Wien