Notfall Natur: Kann das neue EU-Renaturierungsgesetz das Artensterben aufhalten?
Von Christina Hiptmayr und Franziska Dzugan
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Die tierischen Mähmaschinen haben über das Jahr im niederösterreichischen March- egg ganze Arbeit geleistet: Kurzer Rasen wechselt mit Stellen kräuterreicher Vegetation, dazwischen stehen Stauden und Sträucher. Seit 2015 lebt eine Herde halbwilder Konik-Pferde in dem Au-Reservat des WWF. Die robuste polnische Rasse – der Name bedeutet übersetzt „Pferdchen“ – ist dem europäischen Wildpferd ähnlich und hat seit ihrer Ansiedlung einiges zur Artenvielfalt beigetragen. Trampelpfade, Tritt- und Scharrspuren bilden Mikrohabitate, auf denen sich Dungkäfer und andere Insekten wohlfühlen, die wiederum Nahrungsquelle für Vögel sind. So wurden im Reservat seltene Vogelarten wie Wendehals und Neuntöter entdeckt, und auch der Bruterfolg der Weißstörche erreichte einen Rekord: Auf ein Storchenpaar kamen zuletzt 2,77 ausgeflogene Jungvögel.
Marchegg ist eine der wenigen Oasen in Österreich, in denen die Natur noch in Ordnung ist. Geht es nach der EU, muss in ganz Europa kräftig nachgebessert werden. Im Februar wird das Europaparlament über ein Renaturierungsgesetz abstimmen. Höchste Zeit, meinen Wissenschafter und Forscherinnen, denn die Biodiversität nimmt rasant ab. Das Gesetz soll die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, Städte zu begrünen, trockengelegte Moore wieder zu vernässen, Meeresökosysteme instand zu setzen, Flüsse und Wälder naturnaher zu gestalten. Auch Äcker und Weiden sollen insekten- und vogelfreundlicher werden.
Lange wurde darüber gestritten. Vor allem die Europäische Volkspartei wehrte sich vehement, am Ende passierte der Gesetzesentwurf aber doch den federführenden Umweltausschuss. Der Plan ist nun, vier Fünftel der Lebensräume in der EU bis 2050 wiederherzustellen. Damit soll das massive Artensterben aufgehalten werden. Kann das gelingen? Wie groß sind die Chancen, dass das neue Gesetz im EU-Parlament genug Stimmen bekommt? Was heißt das alles für Österreich? Und wie steht es eigentlich um die heimische Natur?
So kaputt ist Österreichs Flora und Fauna
Österreich präsentiert sich in Tourismusbroschüren gerne als malerisches Umwelt-Musterland. Davon ist die Alpenrepublik jedoch weit entfernt. Alle sechs Jahre vermisst die EU-Kommission den Zustand der Natur auf dem Kontinent, der letzte Befund aus dem Jahr 2020 war katastrophal: Die meisten Arten befinden sich im freien Fall. Die Zahl der Feldvögel sinkt dramatisch, Fischen, Amphibien und vielen Pflanzenarten geht es nicht besser. Das gilt ganz besonders für Österreich: 82 Prozent der untersuchten Spezies sind in „mangelhaftem“ oder „schlechtem Zustand“, lediglich 14 Prozent der Arten sind nicht gefährdet. Damit belegt Österreich den vorletzten Platz in der EU und lässt nur das junge Unionsmitglied Kroatien hinter sich (das allerdings aufgrund der schlechten Datenlage so weit hinten landete).
Auch bei den Lebensräumen belegt Österreich nur einen der hinteren Ränge. 78 Prozent der heimischen Landschaft sind für Tiere und Pflanzen „mangelhaft“ oder „schlecht“. Kein Wunder: Wer durch Österreich fährt, schlängelt sich von einem Gewerbegebiet zum nächsten, dazwischen gibt es Kreisverkehre, Äcker und Wiesen ohne ausreichend Hecken oder Bäume. Die Flüsse sind großteils begradigt, die Moore trockengelegt, die Wälder oft Monokulturen. Kaum ein Staat der EU ist derart zugepflastert wie die Alpenrepublik. „Unsere Natur wird übernutzt, verschmutzt, zerschnitten und zerstört“, sagt Rafaela Schinegger vom Institut für Landschaftsentwicklung, Erholungs- und Naturschutzplanung an der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien im aktuellen Tauwetter-Podcast. Die von der EU bisher vorgegebenen Richtlinien zum Naturschutz wurden teils über Jahrzehnte verschleppt oder halbherzig umgesetzt. Im Renaturierungsgesetz sieht sie nun, wie das Gros ihrer Kollegen, eine „historische Einigung und eine große Chance für die Wiederherstellung unserer Biodiversität“.
Artenreichtum pur
Wertvolle Wiesen wie diese verschwinden von Jahr zu Jahr durch Verbauung oder zu intensive Nutzung.
Wiesen ohne Vielfalt
Sie geben ja ein pittoreskes Bild ab, die saftig grünen Wiesen, die im Frühjahr landauf, landab zu sehen sind. In Wahrheit jedoch gleichen sie Monokulturen. Das liegt daran, dass sie heutzutage vier bis fünf Mal pro Saison gemäht werden. Viel häufiger als früher, als die Bauern die Heuernte einmal im Juni und einmal im August einbrachten. Aus Sicht der Landwirtinnen ist das verständlich: Gras, das regelmäßig in der Wachstumsphase geschnitten wird, ist proteinreicher und damit wertvoll für die Leistung der Milchkühe. Für Wiesenbrüter wie beispielsweise das Braunkehlchen ist das frühe Mähen aber fatal. Häufig werden nicht nur die blauen Eier zerstört, sondern auch das brütende Weibchen, weil es das Nest nicht früh genug verlässt. Zudem schwindet das Nahrungsangebot auf Österreichs Wiesen. Knabenkraut, Schafgarbe und sogar die früher so häufige Margerite kommen mit Frühschnitt und Dünger nicht zurecht. Mit der abnehmenden Vielfalt verschwinden auch viele Insekten, was die Populationen von Insektenfressern wie Wiesenpieper, Braunkehlchen und Wachtelkönig einbrechen ließ.
Nur zwölf Prozent des heimischen Grünlands sind ökologisch gesund. Über 42 Prozent hingegen befinden sich in „unbefriedigendem Zustand“, wie der Studie des Umweltbundesamts zur Restauration von Ökosystemen zu entnehmen ist. Richtig schlecht steht es dieser zufolge um die grünlandgeprägten Kulturlandschaften im Waldviertel, im Inn- und Hausruckviertel sowie im Flachgau. Sie wird das neue Gesetz besonders betreffen.
Wie es um den Wald steht
Österreich ist fast zur Hälfte mit Wald bedeckt. Wie steht es um ihn? Etwas besser als um Grünland und Äcker, aber auch hier ist viel zu tun. Es fehlt an sogenannten Veteranenbäumen, an Totholz und allgemein an einer gesunden Baumartenmischung – in vielen Gebieten herrschen immer noch Monokulturen vor. Die Anzahl der Waldvögel ist zwar nicht derart am Abstürzen wie die der Feldvögel, sie befindet sich aber ebenfalls im Sinkflug. Fast die Hälfte der 133 Arten steht auf der Roten Liste, gilt also als gefährdet; darunter das Auerhuhn, der Mittelspecht und der Halsbandschnäpper. „Wir müssen den Vorrat von dickstämmigem Totholz in den Wirtschaftswäldern verdoppeln“, sagt Norbert Teufelbauer von der Vogelschutzorganisation BirdLife Österreich. Dort finden die Vögel Plätze zum Nisten und Larven, Käfer, Wespen und Ameisen zum Fressen. Insgesamt nimmt die Nutzung der Wälder stetig zu. Das zeigt die Anzahl der Forststraßen, die in den vergangenen 30 Jahren um 40 Prozent stieg, wie die Umweltschutzorganisation WWF kürzlich feststellte.
Das Problem: Nicht einmal die Natura 2000-Schutzgebiete, welche die EU und damit auch Österreich wie ein Netz überziehen sollen, sind von der intensiven Nutzung ausgenommen. Wie ist das möglich? „Die EU-Richtlinien wurden einfach nicht ins nationale Forstrecht übernommen“, erklärt Thomas Ellmauer vom Umweltbundesamt. Deshalb gilt in Schutzgebieten dasselbe wie in allen anderen Wirtschaftswäldern. Zum Beispiel sind die für die Natur besonders schädlichen Kahlschläge nicht bewilligungspflichtig, solange sie eine Fläche von 0,5 Hektar nicht überschreiten. Pflanzen können Waldbesitzerinnen nach dem Kahlschlag weitgehend, was sie wollen, ohne ausreichend Rücksicht auf die heimische Biodiversität nehmen zu müssen.
Kein Schutz in Schutzgebieten
Man fand, wie so oft hierzulande, eine typisch österreichische Lösung: Um Landbesitzer und -nutzerinnen möglichst nicht zu verschrecken, sind geförderte Naturschutzmaßnahmen – etwa die nur zweimalige Mahd von Wiesen – auf wenige Jahre befristet. „Danach ist wieder alles offen, die Behörden müssen erneut auf die Landbesitzer zugehen. Das führte bisher oft dazu, dass für die Biodiversität wichtige Flächen nach fünf Jahren wieder zerstört wurden“, sagt Ellmauer vom Umweltbundesamt.
Nicht einmal vor Verbauung sind die Schutzgebiete gefeit. Ein Beispiel dafür ist die Isel in Osttirol. Der Gletscherfluss kann bisher frei fließen – und ist damit eine seltene Ausnahme in Österreich: Nur 14 Prozent der heimischen Flüsse und Bäche sind ökologisch intakt, im Durchschnitt können sie nur 900 Meter frei fließen. 2018 wurde die Isel mit ihren Zubringern mit reichlicher Verspätung zum Natura 2000-Gebiet erklärt. Trotzdem sind dort mehrere Kraftwerke geplant. Wegen Verfehlungen wie dieser hat Österreich aktuell ein Vertragsverletzungsverfahren am Hals.
Was das neue Gesetz wo ändern wird
Mutmaßlich wird das neue Gesetz durchgehen – auch wenn Teile der Konservativen und Rechten bis zuletzt für Zittern sorgen werden. Und ist es erst einmal da, hat es einen großen Vorteil: Es handelt sich um eine Verordnung, die sofort schlagend wird, und nicht um eine Richtlinie, die erst von den Mitgliedstaaten in nationale Gesetze gegossen werden muss.
Das wissen auch die Bundesländer, die hierzulande für den Naturschutz zuständig sind. Sie beraten bereits mit Thomas Ellmauer und einem Team vom Umweltbundesamt über jene Regionen, um die sie sich als Erstes kümmern müssen. „Bis 2030 hat vor allem die Verbesserung bestehender Schutzgebiete Priorität“, sagt Ellmauer. Als Beispiele nennt er die Grenzmur, die Raabklamm, die Donau- und die Marchauen, wo etwa abgestorbene Altarme wiederbelebt und die Wasserspiegel wieder erhöht werden sollen. Auch die Lobau bei Wien ist dringend restaurierungsbedürftig.
Leckermoos
Dämme sorgen für die Wiedervernässung des Hochmoors bei Göstling an der Ybbs. Das Renaturierungsgesetz wird die Wiederherstellung von Mooren forcieren, vor allem in Tirol und Vorarlberg.
Moore gegen die Klimakrise
Moore müssen ebenfalls schleunigst revitalisiert werden. Sie wurden einst im großen Stil trockengelegt, um Platz für Vieh und Felder zu schaffen. Die Folge: Von den 2997 Mooren in Österreich sind lediglich 163 unberührt oder nicht gefährdet. Mehr als 90 Prozent der ursprünglichen Moorflächen wurden zerstört – durch Entwässerung, Verbauung und landwirtschaftliche Nutzung, wie der Studie des Umweltbundesamts zur Restauration von Ökosystemen zu entnehmen ist.
Wie wichtig Moore für das globale Klima sind, war lange Zeit unbekannt. Tatsächlich zählen sie jedoch zu den größten und effizientesten Kohlenstoffspeichern der Erde. Verrotten Pflanzen an Land, setzen sie CO2 frei. Unter Wasser hingegen wird der Kohlenstoff gespeichert. So speichern Moore, die gerade einmal drei Prozent der weltweiten Landfläche bilden, mit 600 Milliarden Tonnen rund doppelt so viel CO2 wie alle Wälder der Erde. Weil sie außerdem viel Wasser binden, sind sie ein natürlicher Hochwasser- sowie Hitzeschutz. Und sie sind einzigartige Ökosysteme mit Tier- und Pflanzenarten, die nur dort vorkommen und deshalb vom Aussterben bedroht sind.
Der Schutz der Moore in Österreich ist in zahlreichen Strategiepapieren verankert, im ganzen Land gibt es Wiedervernässungsprojekte. Und dennoch ist der Großteil der Moorlandschaften ein Sanierungsfall. Durch das Renaturierungsgesetz erhoffen sich Expertinnen wie Rafaela Schinegger einen Schub. „Dass die Wiederherstellung von Mooren gelingen kann und einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft darstellt, zeigen verschiedenste Projekte“, sagt Schinegger. Eines davon ist Weidmoos, nördlich von Salzburg. Nach dem Ende des Torfabbaus im Jahr 2000 wurde es wieder in ein Feuchtgebiet umgewandelt, das heute als Vogelparadies bekannt ist und sowohl schonend landwirtschaftlich als auch touristisch genutzt wird.
Gewerbegebiet Eugendorf
Kaum ein Staat in Europa ist derart zugepflastert wie Österreich.
Kann sich Europa bald nicht mehr ernähren?
Die Kritikerinnen des neuen Gesetzes trommelten im Vorjahr vor allem eine Botschaft: Man setze die europaweite, wenn nicht gar die globale Ernährungssicherheit aufs Spiel. „Leider wurden durch die EVP und Agrarverbände Ängste bewusst geschürt und Fehlinformationen verbreitet. Meiner Meinung nach, um sich für den heurigen EU-Wahlkampf zu profilieren“, sagt Forscherin Schinegger.
Die Wissenschaft begegnete der Kampagne mit Fakten: In einem offenen Brief, den 6000 Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa unterzeichneten, widerlegten sie im Sommer 2023 die Argumente gegen das Renaturierungsgesetz. „Das größte Risiko für die Ernährungssicherheit geht vom Klimawandel und vom Verlust von Biodiversität aus“, heißt es in dem Brief. Eine intakte Natur sei die wirksamste Versicherung gegen eine Nahrungsmittelknappheit: Die Bestäubung durch Bienen und andere Insekten bleibt aufrecht, Schädlinge werden in funktionierenden Ökosystemen in Schach gehalten, die Böden sind gesund. Und: „Zur globalen Ernährungssicherung kann die EU am meisten beitragen, indem sie ihren Fleischkonsum sowie die Lebensmittelverschwendung reduziert“, so die Forscher. Europaweit gehen aktuell 62 Prozent des Getreides in die Futtererzeugung. Thomas Ellmauer vom Umweltbundesamt hat noch ein weiteres Argument: „In Österreich werden täglich elf Hektar verbaut, das ist die Fläche von ungefähr 16 Fußballfeldern. Meistens handelt es sich dabei um bestes Ackerland.“
Auch wenn der Gesetzesvorschlag wohl strenger ausgefallen ist, als es sich die EVP gewünscht hat – sie hat immerhin für ein Schlupfloch gesorgt. Eine Art Notbremse erlaubt es der Landwirtschaft, die Umweltvorgaben zu ignorieren, wenn die Nahrungssicherheit bedroht ist. Wie dieser Notfall definiert sein wird, ist bisher allerdings unklar.
Christina Hiptmayr
war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.