Spaltkräfte: Braucht die Welt Atomkraft, um das Klima zu retten?
Dieser Text erschien erstmals im profil Nr. 39 / 2021 vom 26.09.2021.
Gasmaske, Gummistiefel, Ganzkörperanzug: Wenn das Personal von Atomkraftwerken aus aller Welt nach Zwentendorf kommt, dann probt es immer auch für den Ernstfall. Nirgendwo auf der Welt finden Nukleartechniker derart perfekte Gegebenheiten vor.
Sie können Erfahrungen in einem voll ausgestatteten AKW sammeln, dessen Inbetriebnahme 1978 durch eine Volksabstimmung im letzten Moment verhindert worden ist. Hier können sie in Zonen vordringen, die in ihren Meilern zu Hause aufgrund der tödlichen Strahlung tabu sind. Lange Jahre pilgerten Nuklear-Techniker zu Sicherheitsschulungen nach Niederösterreich, und heute reisen immer noch welche an – freilich mit einer etwas anders gelagerten Absicht: Sie üben das Abwracken. Vor allem deutsche Ingenieure kommen nach Zwentendorf, um zu lernen, wie man Turbinen durch Sandstrahlen von radioaktiver Strahlung befreit und sie mithilfe von Kränen zerlegt. Sie begutachten Schweißnähte und Verbindungsrohre nahe der Brennstäbe, um zu erfahren, wie sie sich beim Abbau vorarbeiten müssen.
Zwentendorf kann als Sinnbild einer immer schon umstrittenen Technologie dienen: nie in Betrieb gegangen, jetzt ein Modell für die Stilllegung.
Eigentlich dachte man, der 11. März 2011 sei der Anfang vom Ende der Kernenergieerzeugung gewesen. An diesem Tag, um 14.46 Uhr Ortszeit, ereignet sich vor der Küste Japans, knapp 100 Kilometer vom Atomkraftwerk Fukushima entfernt, ein Seebeben der Stärke neun. Zu diesem Zeitpunkt sind drei Reaktorblöcke in Betrieb. Die Schnellabschaltung wird ausgelöst, die Notkühlung läuft an. Etwa eine dreiviertel Stunde später jedoch rollt ein von dem Seebeben ausgelöster Tsunami auf die Küste zu. Bis zu 15 Meter hohe Wellen brechen über die Reaktorblöcke herein, die Notstromversorgung bricht zusammen, und damit auch die Kühlung.
Die Kernschmelzen in den drei Reaktorblöcken können nicht verhindert werden. Der Unfall wird von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) mit der Stufe sieben klassifiziert – der höchsten. Fast eine halbe Million Menschen muss aus der Region in Sicherheit gebracht werden – wegen des Bebens, des Tsunamis und der Strahlengefahr.
Die ganze Welt blickt verstört nach Japan, am allermeisten die Staaten, in denen Atomkraftwerke in Betrieb oder zu diesem Zeitpunkt in Planung sind. Am schnellsten reagiert Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. Sie verkündet drei Tage nach dem Unglück den Ausstieg aus der Atomenergieerzeugung.
Seither wurden elf Meiler stillgelegt, für die letzten sechs folgt das Aus bis 2022. Doch Deutschland bleibt mit seinem Totalabbau ziemlich allein. Die Schweiz plant einen langfristigen Atomausstieg, Italien verwirft Pläne für einen Wiedereinstieg.
Doch fast alle anderen Staaten, die bereits Atomkraftwerke betreiben, halten an dieser Technologie fest. Und so sind heute, mehr als zehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, weltweit 443 Atomkraftwerke in Betrieb, 50 neue Meiler werden gebaut.
Großbritannien, die USA, Kanada, Japan, China und viele andere halten die Kernenergie für unverzichtbar, um ihren -Ausstoß zu zügeln. Polen plant, in die Atomkraft einzusteigen, um von der Kohle wegzukommen. Die Milliardäre Bill Gates und Warren Buffett bauen ein neuartiges Mini-AKW im US-Bundesstaat Wyoming. Der Triebwerkshersteller Rolls-Royce will den britischen Behörden noch heuer die Pläne für zehn Kleinreaktoren vorlegen, die ab 2035 alte Atommeiler ersetzen sollen. Und auch China, Argentinien und Russland setzen neuerdings auf Miniaturreaktoren.
Die Angst währte nach Fukushima nur kurz. Inzwischen hat der Kampf gegen den Klimawandel der Kernenergie anscheinend neue Attraktivität verliehen. Strom aus Atomkraftwerken ist zwar auch nicht gänzlich -neutral, aber fast.
So spielt in vielen Szenarien des Weltklimarats (IPCC) zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels die Nuklearenergie eine Rolle. Als Greta Thunberg, Gründerin von Fridays for Future, 2019 in einem Facebook-Posting auf diesen Bericht hingewiesen hat, war die Aufregung groß: Die Galionsfigur der Klimabewegung spreche sich für Kernenergie aus, echauffierten sich viele Medien mit einer gewissen Häme. Allerdings hatte sie gleichzeitig recht deutlichgemacht, dass sie persönlich gegen Atomkraft sei. Der austroamerikanische Klimaökonom Gernot Wagner meint im Gespräch mit profil, dass wir auf die Kernenergie nicht verzichten können. Und die Internationale Atomenergie Organisation (IAEA) prognostiziert in einem aktuellen Bericht bis zum Jahr 2050 die Verdoppelung der aktuellen weltweiten Kernenergieerzeugungskapazität. Derzeit stammen rund zehn Prozent des weltweit erzeugten Stroms aus Kernkraftwerken.
Doch wie groß muss die Rolle der Atomkraft in Zeiten des Klimawandels tatsächlich sein? Wie gefährlich ist die Technologie? Wie teuer ist sie wirklich? Und haben die Finnen das Problem der Endlagerung gelöst?
So gefährlich ist Atomkraft
Dreimal Super-GAU: Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. So viele Katastrophen, die den im Sicherheitskonzept einkalkulierten „Größten anzunehmenden Unfall“ (GAU) übertreffen, weil die Vorgänge unkontrollierbar sind, hat die Atomenergie bisher zu verbuchen. Das sei nicht viel, berechnet nach den Todesfällen pro erzeugter Energieeinheit, sagen Atomkraftbefürworter. Das stimmt, wenn man nur die unmittelbar beim Unfall Verstorbenen zählt. Freilich fehlen hier die Langzeitschäden durch Krebserkrankungen.
Lassen sich Katastrophen, die ganze Landstriche auf lange Zeit unbewohnbar machen und viele Menschenleben fordern, künftig vermeiden? Neue Reaktoren seien um ein Zehnfaches sicherer als die alten, versichern Betreiber überall auf der Welt. Es stimme, dass viel Mühe in Sicherheitsmaßnahmen gesteckt werde, sagt der Wiener Risikoforscher Wolfgang Liebert. „Aber ein nuklearer Unfall kann nie gänzlich ausgeschlossen werden.“ Computersimulationen am Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU) zeigten: Ein Super-GAU ist ein dermaßen komplexes Phänomen, dass man bis heute Unfälle wie jene in Fukushima und Tschernobyl nicht prognostizieren kann.
Hinzu kommt: Nur ein kleiner Teil des Atomstroms stammt aus neuen Anlagen. Denn generell ist der globale atomare Kraftwerkspark ziemlich in die Jahre gekommen. 67 Prozent aller in Betrieb befindlichen Reaktoren haben bereits mehr als 30 Jahre auf dem Buckel. 20 Prozent sind sogar schon über 40 Jahre im Dienst. Und immer öfter werden die Laufzeiten der Kraftwerke noch weiter verlängert.
Wie lange hält also ein Atomkraftwerk? Reaktoren wie jene in Zwentendorf wurden für 40 Jahre Laufzeit gebaut, jüngere Modelle halten etwa 60 Jahre, sagt Helmuth Böck vom Atominstitut der TU Wien. „Ein Reaktor ist dann am Ende, wenn der Druckbehälter spröde wird.“ Der riesige Zylinder aus Stahl ist das Herz eines Kraftwerks, in dem sich die Brennstäbe befinden. Die ständige Neutronenbestrahlung setzt dem Stahl mit der Zeit zu. „Der Druckbehälter ist nicht austauschbar und muss regelmäßig untersucht werden“, sagt Böck.
Hierzulande ist Atomenergie zwar nicht mehrheitsfähig, dennoch lässt das Thema die Menschen nicht kalt. Immerhin liegen 14 Reaktoren in nächster Nähe zur österreichischen Grenze – viele davon gelten als Hochrisikoreaktoren. Da wäre etwa das Schweizer AKW Beznau, das mit einer Betriebsdauer von über 50 Jahren als eines der ältesten der Welt gilt. Oder das slowenische Kraftwerk Krško, bei dem Umweltschutzorganisationen regelmäßig darauf hinweisen, dass es sich in einem Erdbebengebiet befindet. Als 2020 in Kroatien die Erde bebte, wurde es – als reine Vorsichtsmaßnahme, wie die Betreiber betonten – umgehend vom Netz genommen.
Wie teuer Kernkraftwerke wirklich sind
Nach wie vor gehen jedes Jahr neue Atomkraftwerke ans Netz. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA) wurden im vergangenen Jahr weltweit fünf neue Reaktoren in Betrieb genommen. Allerdings wurden gleichzeitig sechs Reaktoren endgültig abgeschaltet. Ein Trend, der sich vermutlich fortsetzen wird. In den USA wurden ältere Atomkraftwerke sogar vorzeitig geschlossen, weil sie unwirtschaftlich geworden waren.
AKW-Neubauten, das zeigen einige Beispiele, enden regelmäßig in einem ökonomischen Fiasko. Beim finnischen Reaktor Olkiluoto 3 beträgt die Bauzeit statt vier nun schon 16 Jahre. Vertragsstreitigkeiten, Sicherheitsbedenken und fehlerhafte Bauteile haben immer wieder zu Verzögerungen geführt. Erst kürzlich wurde die geplante Inbetriebnahme von Europas größtem Reaktor erneut verschoben: Im Juni 2022 soll nun aber wirklich mit der Stromproduktion begonnen werden. Statt 3,2 Milliarden Euro wird er dann – je nach Schätzung – zwischen neun und zwölf Milliarden Euro gekostet haben. Ein finanzieller GAU ist auch der Reaktorblock Flamanville 3 in der Normandie. An der Nuklearanlage mit einer vorgesehenen Leistung von 1600 Megawatt baut der französische Energiekonzern EdF bereits seit 2007. Fertig wird der neue Reaktor nach derzeitiger Schätzung frühestens 2023. Die erwarteten Baukosten haben sich in den vergangenen 14 Jahren auf zwölf Milliarden Euro fast vervierfacht.
2019 ergab eine Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, dass „keines der bisher über 600 weltweit gebauten Atomkraftwerke wettbewerbsfähig“ sei, wenn sie ohne direkte und indirekte Subventionen liefen. Ein Neubau von Atomkraftwerken ist also nur mit staatlichen Firmen oder mit massiver staatlicher Hilfe machbar. Und so sind in einem liberalisierten Energiemarkt wie in der EU neue AKW die absolute Ausnahme – schlicht deshalb, weil sie sich nicht rechnen.
Auch der Rückbau ausgedienter Anlagen verschlingt Riesensummen. Das lässt sich derzeit am Beispiel Deutschland beobachten. Für den Abbruch des 1990 stillgelegten DDR-Kraftwerks bei Greifswald wurden anfangs 3,2 Milliarden Euro veranschlagt, inzwischen wird mit 6,6 Milliarden gerechnet. Es dauert Jahrzehnte, um ein AKW sachgemäß zu schleifen, weiß man mittlerweile in Deutschland. Man arbeitet sich dabei von innen nach außen vor. Zuerst werden die Brennelemente in Castor-Behältern in Zwischenlager gebracht, dann wird der Rest langsam abgetragen. Beton, Bauschutt, Metalle, Turbine: Jedes Einzelteil aus dem Kraftwerk wird einem radioaktiven Test unterzogen, bevor es das Gelände verlassen darf.
Die enorm gesunkenen Kosten für erneuerbare Energien graben der Atomkraft die wirtschaftliche Grundlage ab. Laut dem World Nuclear Industry Report ist die Kernkraft mittlerweile die teuerste Stromerzeugungs-Technologie der Welt. Demnach betragen die Stromgestehungskosten – diese ergeben sich aus Kapitalkosten, Betriebskosten, Brennstoffkosten sowie der angestrebten Kapitalverzinsung über den Betriebszeitraum – für Kernenergie 155 US-Dollar pro Megawattstunde, während sie sich für Solarstrom und Windkraft auf 41 respektive auf 40 Dollar belaufen. 2009 war das noch ganz anders. Damals war Sonnenenergie die mit großem Abstand teuerste Form der Stromerzeugung. Seither sanken die Kosten um 89 Prozent, für Wind um 70 Prozent, während jene für die Atomkraft um 26 Prozent gestiegen sind.
Sind Kleinkraftwerke die Technologie der Zukunft? Kleinere AKWs könnten die Lösung sein, findet unter anderen Microsoft-Gründer Bill Gates. „Am wichtigsten ist, dass die Menschheit sich wieder darauf besinnt, den Fortschritt auf dem Gebiet der Kernenergie ernsthaft voranzutreiben – sie ist einfach zu vielversprechend, um ignoriert zu werden“, schreibt er in seinem Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“. Gemeinsam mit Warren Buffett und finanziell unterstützt von der US-Regierung plant er den Bau eines Mini-AKWs auf dem Areal eines stillgelegten Kohlekraftwerks in Wyoming. In sieben Jahren soll es fertig sein.
„Ignoriert“, wie Bill Gates meint, wurde die Kernenergieforschung allerdings nie. Sogenannte „schnelle Brüter“ oder Small Modular Reactors (SMR), wie er einen bauen will, erfand man in den 1960er-Jahren. Seither investierte die Atomindustrie eine Menge Geld in ihre Entwicklung. Kein Wunder, die Vorteile klingen bestechend gut: Die kleinen Reaktoren sollen Uran-238, das in den großen Kraftwerken übrig bleibt, durch „Erbrüten“ von Plutonium besser verwerten. Zudem soll der Bau deutlich schneller laufen und günstiger sein als bei den Großkraftwerken. Liefern sollen die Kleinreaktoren etwa 300 Megawatt Strom, das ist rund ein Drittel der bislang üblichen AKWs. Und, der wohl größte Vorteil: Bill Gates und seine Mitstreiter versprechen absolute Sicherheit. Die Anlagen könnten unterirdisch gebaut werden und wären damit vor Anschlägen gefeit. Zudem würden „geniale Konstruktionsmerkmale“ den Reaktor sicher machen, so Gates: „Ein Unfall würde buchstäblich durch die Gesetze der Physik verhindert werden.“
Fachleute bezweifeln das. Wie die meisten Schnellbrüter soll auch Gates’ Reaktor mit Natrium gekühlt werden. Das Problem: Natrium reagiert explosiv mit Wasser und Luft. Von den weltweit existierenden sechs Versuchsanlagen hatte bisher jede mit Natriumlecks und in der Folge mit Bränden zu kämpfen. 1995 fing der Reaktor in Monju in Japan Feuer und musste stillgelegt werden. Auch Frankreich investierte enorme Summen in Brutreaktoren, zuletzt flossen 700 Millionen Euro in einen Prototyp namens Astrid. 2019 wurde er eingemottet: zu teuer, technisch zu unausgereift, zu gefährlich.
Nur im russischen AKW Belojarsk sind seit 1980 schnelle Reaktoren in Betrieb, das „Brüten“ funktioniert aber auch dort noch nicht. Seit vergangenem Mai dümpelt zudem ein Kleinreaktor an Bord des Schiffes Akademik Lomonossow vor der sibirischen Stadt Pewek, die er ebenso mit 35 Megawatt Strom versorgt wie die Bohrinseln der Region. Sind das schwimmende Kraftwerk oder die russischen Brutversuche ein Lichtblick für die Atomindustrie? Wohl kaum, sagt Risikoforscher Wolfgang Liebert. Auch die Russen würden die Natriumbrände nicht in den Griff bekommen. „Die Reaktoren wären nach westlichen Standards nicht genehmigungsfähig.“ In einer Studie analysierten Liebert und sein Team das Potenzial von schnellen Brütern.
Fazit: Mit ersten Kraftwerken außerhalb Russlands sei frühestens in den 2040er-Jahren zu rechnen. Für die Klimawende ist das zu spät.
Wie man ein Grab für hochradioaktiven Müll schaufelt
Bisher konnte sich weltweit nur ein einziger Staat auf ein Endlager einigen: Finnland. 2000 entschieden sich die Finnen für die Ostseeinsel Olkiluoto, 2004 begannen sie mit dem Bau, in den nächsten Jahren soll mit der Einlagerung des Atommülls in Stollen tief unter der Erde begonnen werden. „Hier ist der Granit ungefähr zwei Milliarden Jahre alt, er ist das Fundament einer sehr alten Bergkette. So wie heute sah es hier schon vor 100 Millionen Jahren aus. Und auch in Zukunft wird es hier nicht anders aussehen“, sagte die Geologin Johanna Hansen kürzlich im „Deutschlandfunk“. Sie arbeitet für die Betreiberfirma Posiva. Der finnische Granit habe schon Eiszeiten und das Gewicht kilometerdicker Gletscher unversehrt überstanden, so Hansen.
Grundsätzlich kommen für Endlager Ton-, Salz- oder Granitvorkommen infrage, die Hunderte Meter tief reichen müssen. Aber jeder Kandidat hat seine Schwächen: Ton umschließt austretende radioaktive Teilchen, ist nicht wasserlöslich, dafür temperaturempfindlich. Salz fließt und verschließt dabei Hohlräume, ist hitzeresistent – aber wasserlöslich. Granit wiederum ist sehr hart und stabil, neigt aber zu Rissen. Deshalb wollen die Finnen ihre Schächte mit Bentonit-Pellets versiegeln, die sich bei Wassereintritt ausdehnen. Schweden und Tschechien setzen wie Finnland auf Granit, Frankreich, Belgien, Ungarn und die Schweiz auf Ton. Die Deutschen favorisierten lange den Salzstock Gorleben, nun suchen sie nach anderen Standorten. Erst 2031 soll die Entscheidung fallen.
Schweden, dessen Endlagersuche neben Finnland am weitesten fortgeschritten war, stoppte im August sein Genehmigungsverfahren. Das Problem: Die mit Kupfer ummantelten Zylinder, die die Brennstäbe fassen sollen, sind anfällig für Rost. Das Endlager solle 100.000 Jahre halten, da dürfe man keine überhasteten Entscheidungen treffen, argumentierte Umweltminister Per Bolund. Dafür werde jetzt ein bestehendes Zwischenlager vergrößert. Damit macht Schweden weiter wie alle anderen Atomländer auch: Es bunkert die hoch radioaktiven Brennstäbe in Castor-Behältern mit dicken Metallwänden, die kaum Strahlung durchlassen. Die meisten dieser 1,5 Millionen teuren Mülltonnen stehen in kleinen Lagern auf den Arealen der Kraftwerke. Ihr Mindesthaltbarkeitsdatum beträgt gerade einmal 40 Jahre.
Ja oder Nein zur Atomkraft?
Risikoforscher Wolfgang Liebert hat darauf eine klare Antwort. Er und seine Kollegen haben in einer Studie das Potenzial der Atomkraft zur Einsparung von analysiert. Das vernichtende Fazit: Ihr Beitrag ist schon jetzt äußerst gering, und so wird es auch bleiben. „Rechnet man die derzeit geplanten Kernkraftwerke mit ein, wird die Nuklearenergie zwischen 2020 und 2040 jährlich maximal zwei bis drei Prozent der weltweiten -Emissionen vermeiden können“, sagt Wolfgang Liebert. Ein signifikanter Ausbau sei durch die geringen Uranvorkommen limitiert. Ihre Rolle bei der Klimawende wird jedenfalls verschwindend klein sein.
Die Politik dagegen ist in dieser Frage uneins. Manche Länder – wie etwa Österreich – schaudert bei dem Gedanken, Atomkraftwerke in Betrieb zu nehmen, andere hingegen sehen überwiegend Vorteile.
„Wir sind das Land in Europa mit dem geringsten -Ausstoß pro Einwohner. Und warum? Weil wir Atomkraft haben!“ So argumentiert Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident, und er weiß die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage hinter sich. Kernenergieerzeugung ist in Frankreich eine seit den 1950er-Jahren erprobte Technologie, die derzeit rund 70 Prozent des Strombedarfs deckt und für vergleichsweise niedrige Preise sorgt. Dennoch will das Land seinen Atomstromanteil bis zum Jahr 2035 auf 50 Prozent reduzieren und 14 Meiler stilllegen. Die Frage, ob neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen, wird im Präsidentschaftswahlkampf im kommenden Jahr jedenfalls debattiert werden.
In Finnland wiederum argumentiert die Regierungschefin Sanna Marin pragmatisch: Atomkraft werde in einigen Jahrzehnten „nicht mehr Teil unseres Energie-Mixes“ sein, doch bis die Erneuerbaren ausreichend entwickelt sind, sei Kernkraft „eine klimaneutrale Form von Energie“.
So kommt jedes Land zu einem nationalen Konsens, und dabei könnte man es belassen – wären da nicht die internationalen Folgewirkungen. Der Kampf gegen die Klimaerwärmung ist – sinnvollerweise – eine Anstrengung der Staatengemeinschaft, und dazu braucht es Regeln. Die Europäische Union etwa legt fest, welche Formen der Energiegewinnung als ökologische Investments gelten und damit bevorzugt behandelt werden. Staaten wie Frankreich und Ungarn plädieren dafür, dass die Atomenergie in dieser sogenannten „Taxonomie-Verordnung“ gelistet wird. Der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission kommt zu dem Schluss, dass beim Betrieb eines Atomkraftwerks und der anschließenden Lagerung des Atommülls „keine signifikanten Schäden“ für die Umwelt entstünden.
Gegen diese Einschätzung will nun die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler notfalls klagen, um zu verhindern, dass Atomenergie auf EU-Ebene gefördert wird. Gestützt auf ein Gutachten hält sie fest, „dass die Atomenergie nicht den Anforderungen an eine nachhaltige Investition entspricht“.
Die politischen Streitparteien werden bei diesem Thema wohl gespalten bleiben.