Was die Anti-Fett-Spritze Ozempic kann – und was nicht
Von Elena Crisan
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Ein Strahl Flüssigkeit spritzt ins Waschbecken, als käme er aus dem Wasserhahn. Gabriel zielt mit dem Ozempic-Pen in die Ecke der Spüle, um zu demonstrieren, wie das Gerät funktioniert. Der 34-jährige Mann hat schon öfter versucht abzunehmen, zwei Mal auch mithilfe von Ozempic – jenem beinah zum Modemedikament avancierten Präparat, dessen Basis der Wirkstoff Semaglutid ist.
Sieben Millionen Menschen weltweit verwenden Produkte wie Ozempic, und mittlerweile ist die europäische Entwicklung weit mehr als eine medizinische Behandlung. Es ist zum Lifestyle-Medikament geworden und zu einer Art Statement. Manch ein Hollywoodstar macht längst kein Geheimnis mehr daraus, es zu nehmen. Sogar auf den Laufsteg hat es das Präparat geschafft: Bei der diesjährigen Berliner Fashion Week zeigte das Berliner Label Namilia ein T-Shirt mit der Aufschrift „I love Ozempic“.
Ob Ironie oder nicht: Die Substanz lässt sich blendend vermarkten – und das ist auch keine Überraschung. Mehr als die Hälfte der österreichischen Erwachsenen ist übergewichtig. Unter den Jugendlichen ist es rund ein Viertel – Tendenz merklich steigend. Übergewicht ist freilich nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern ein ernsthaftes gesundheitliches. Und Betroffene wissen: Abnehmen ist alles andere als leicht.
Wie funktionieren die noch neuartigen Präparate?
Hier kommt Semaglutid ins Spiel. Bei dem 2018 in der Europäischen Union zugelassenen Wirkstoff handelt es sich um einen GLP-1-Rezeptor-Agonisten: Semaglutid imitiert das Sättigungshormon GLP-1 (Glucagon-like Peptide-1), das der Darm natürlicherweise bildet. Zudem verlangsamt das Mittel die Magenentleerung und fördert das Sättigungsgefühl. Das Hormon gegen den Hunger ist Grundlage der ersten wirksamen und noch relativ neuartigen Medikamente gegen Übergewicht – und hat die Behandlung von Adipositas in kurzer Zeit revolutioniert.
Die Spritztherapie ist unter den Markennamen Ozempic sowie Wegovy erhältlich. Dabei wurde Ozempic ursprünglich gegen Diabetes Typ-2 entwickelt: Semaglutid fördert zu diesem Zweck die Ausschüttung von Insulin. Im Unterschied zu anderen Diabetesmedikationen hat es den – für viele willkommenen – gewichtsreduzierenden Nebeneffekt. Ein wesentlicher Vorteil: Bei adipösen Nichtdiabetikern bringt Semaglutid den Zuckerstoffwechsel dennoch nicht durcheinander. Denn der Effekt auf den Blutzucker stellt sich nur dann ein, wenn dieser Spiegel erhöht ist. Wegovy dagegen ist seit 2022 dezidiert gegen Adipositas zugelassen, wird aber weniger oft verschrieben.
Als Gabriel 135 Kilogramm wog, sprach ihn eine Vertrauensperson auf sein Gewicht an. „Es war mir nicht aufgefallen, wie sehr ich zugenommen hatte“, erzählt der 34-Jährige. So war er entschlossen, etwas zu ändern. Im Herbst 2021 fing er an, gesünder zu essen, nur Bewegung fiel ihm schwer. „Ein Hungergefühl hatte ich lange nicht mehr. Trotzdem habe ich ständig gegessen.“ Schließlich holte er sich ein Rezept für Ozempic, ein Jahr später war er zehn Kilo leichter und hatte weniger Appetit auf Nasch- und Knabberzeug.
Dann, bei einem Body-Mass-Index von inzwischen 32,5, merkte Gabriel: Kleiner wurde die Zahl auf der Waage nicht mehr. Er hatte jenes Gewichtslimit erreicht, das mithilfe von Ozempic möglich ist. Typischerweise liegt diese Grenze bei übergewichtigen Menschen bei zehn Prozent des Körpergewichts. Grund dafür, dass diese Barriere eines Tages erreicht wird, dürften Gewöhnungseffekte des Körpers sein. Eine Studie mit 304 Erwachsenen über mehr als 100 Wochen zeigte, dass dieses Plateau nach etwa 60 Wochen eintritt.
Diese Einschränkung der Wirksamkeit zeigt: Semaglutid mag hoch effektiv und in seiner Wirksamkeit bisher einzigartig sein, um ein Wunderelixier handelt es sich aber keineswegs. Nur wenn man in Kombination damit weniger isst und mehr Bewegung macht, sind langfristige Erfolge möglich.
Einen zweiten Anlauf nahm Gabriel Anfang dieses Jahres, nachdem er wieder leicht zugenommen hatte. Doch diesmal zeigte das Mittel nicht mehr die gewünschte Wirkung. Und so beschloss er, das Medikament wieder abzusetzen – wie zwei Drittel aller Patientinnen und Patienten nach einem Jahr.
Was wissen wir bisher über Semaglutid?
Eine erste Zwischenbilanz von Semaglutid zeigt: Mit neuen Medikamenten können adipöse Menschen ihr Gewicht zumindest auf ein erträglicheres Maß reduzieren, stoßen allerdings schließlich an eine Grenze. Und sie müssen dafür tief in die Tasche greifen: Monatlich müssen sie je nach angeordneter Häufigkeit der Einnahme bis zu 143 Euro für Ozempic hinblättern. Wegovy ist mit 540 Euro pro Packung noch wesentlich teurer. Nichtsdestotrotz sind seit der Zulassung von Semaglutid 2018 immer mehr Menschen in Behandlung. In diesen Jahren hat sich auch das Wissen über eine Reihe weiterer Effekte der Präparate erweitert. Nach derzeitigen Erkenntnissen wirkt sich Semaglutid beispielsweise auch positiv auf das Herz-Kreislauf-System aus, außerdem könnten Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen davon profitieren. In einer Studie namens „Select“ zeigte Semaglutid bei mehr als 17.000 Erwachsenen mit kardiovaskulären Erkrankungen und Übergewicht oder Adipositas eine etwa 20-prozentige Verringerung der wichtigsten kardiovaskulären Komplikationen.
Das Mittel soll aber auch in anderen Bereichen gesundheitsfördernd sein, indem es zum Beispiel das Verlangen nach Alkohol und Nikotin verringert und womöglich sogar die Lust auf Nägelkauen und Spielsucht dämpft. Die Ursachen dafür werden noch debattiert, möglicherweise beeinflussen die Substanzen das Belohnungssystem im Gehirn.
Dennoch begeistern sich längst nicht alle potenziellen Anwender uneingeschränkt dafür. Für Daniela beispielsweise kam Ozempic nicht infrage. In ihrer Jugend entwickelte sie eine Essstörung – vermutlich mit ein Grund für ihre Schilddrüsenkrankheit. Der Stoffwechsel der 31-Jährigen funktioniert nicht wie bei den meisten Gleichaltrigen, sie kann kaum abnehmen, dafür aber sehr schnell zunehmen. Als sie deshalb im vergangenen Herbst vor einem Arzt saß, riet dieser, „einfach weniger zu essen“ – und schrieb Ozempic auf den Rezeptblock.
„Ich habe das Rezept und das Infomaterial dazu sofort weggeschmissen“, sagt Daniela. Ob Semaglutid bei ihr gewirkt hätte, weiß sie daher nicht. Aber sie berichtet, dass Ärztinnen sie stark zur Einnahme von Semaglutid „drängen“ würden. Ähnlich wie bei Gynäkologen, wo jungen Mädchen pauschal die Pille verschrieben werden würde.
Mittlerweile habe sie gelernt, „vor allem genug“ zu essen, sagt Daniela. Sie macht regelmäßig Sport, was ihr große Freude bereitet. Um ihr kaputtes Verhältnis zu ihrem Körper zu reparieren, ging sie in Therapie. Dass ihr Körper nur langsam an Gewicht verliert, hat sie akzeptiert: „Ich muss einfach damit leben.“
Tatsächlich sei laut Bianca Itariu, Vorstandsmitglied der Österreichischen Adipositas Gesellschaft, mehr Spezialisierung im Adipositas-Bereich nötig. „Dafür, dass Übergewicht inzwischen als Volkskrankheit gilt, gibt es bei den Gesundheitsberufen noch nicht ausreichend Expertise“, bemängelt die Expertin. Gleichzeitig jedoch müssen nicht alle übergewichtigen Menschen aus gesundheitlichen Gründen abnehmen: „Schauen Sie sich die Olympischen Spiele an. Fitte und gesunde Körper gibt es in allen Größen und Formen.“
„Semaglutid kann ein Gamechanger sein. Manche Patienten fühlen sich wie neu.“
Adipositas-Expertin Bianca Itariu
Ein Wirkstoff allein kann die Adipositas-Pandemie jedenfalls nicht stemmen. Die Spritze, die innere Gelüste bändigt, eignet sich nicht zur optischen Selbstverbesserung. Zugelassen ist Semaglutid bei einem BMI ab 30 oder ab einem BMI von 27 bei gewichtsinduzierten Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck.
Führt Ozempic zu mehr Schwangerschaften?
Auch wenn Superstars wie Elon Musk und Oprah Winfrey es anders erscheinen lassen: Die Behandlung mit Ozempic oder ähnlichen Produkten ist alles andere als glamourös. Eine Bandbreite an Nebenwirkungen inklusive Erbrechen und Durchfall ist möglich und durchaus nicht selten – diese Effekte könnten zum „Ozempic-Babyboom“ beitragen, der vor einigen Monaten breit debattiert wurde, auf sozialen Plattformen wie TikTok und ebenso in medizinischen Journalen.
Theoretisch können parallel zur Einnahme von Semaglutid tatsächlich unerwartete Schwangerschaften auftreten. Aber warum? Zum einen fördert eine Gewichtsabnahme generell die Fruchtbarkeit. Zum anderen könnten die typischen Nebenwirkungen zu einer verminderten Wirksamkeit der Anti-Baby-Pille führen. Wenn eine Patientin sich übergeben muss und die Pille dabei zu schnell nach der Einnahme ausscheidet, kann das Verhütungspräparat nicht schnell genug aufgenommen werden.
Kann aber Semaglutid in der Schwangerschaft schädlich sein? Das ist noch unklar. Daten aus Tierversuchen deuten auf mögliche Risiken hin, weshalb der Hersteller rät, Ozempic zwei Monate vor einer geplanten Schwangerschaft abzusetzen. Aus einer Beobachtungsstudie von schwangeren Frauen mit Typ-2-Diabetes geht zumindest hervor, dass kein erhöhtes Risiko für schwere angeborene Fehlbildungen bei den Neugeborenen besteht. Freilich: All dies sind vorläufige und noch spärliche Daten, die in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich erweitert werden.
Mit welchen Präparaten ist noch zu rechnen?
Dennoch scheint das Geschäft mit den Abnehmspritzen schon jetzt kaum Limits zu kennen. Das dänische Unternehmen Novo Nordisk, Hersteller von Ozempic, hat sich mit 500 Milliarden Euro Börsenwert zum wertvollsten europäischen Konzern entwickelt. Im ersten Halbjahr 2024 konnte das Unternehmen seinen weltweiten Umsatz bereits um 25 Prozent im Vergleich zur Vorjahresperiode steigern. Doch die Konkurrenz schläft nicht. Andere Unternehmen wie Eli Lilly sind ins florierende Geschäft mit Medikamenten gegen Fettleibigkeit eingestiegen. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass das Produkt Mounjaro von Eli Lilly mit dem Wirkstoff Tirzepatid die Gewichtsabnahme sogar noch effektiver fördert als Semaglutid. Seit Juni ist Mounjaro auch in Österreich erhältlich und kostet 541 Euro im Monat.
Der Gesamtmarkt könnte bis zum Ende des Jahrzehnts ein Volumen von fast 120 Milliarden Euro erreichen. Weitere Mittel werden folgen, etwa vom Schweizer Pharmakonzern Roche. Mit Ozempic waren die Forscher von Novo Nordisk allerdings die Ersten auf dem Gebiet. Das Produkt wurde zur Marke, die synonym für eine neue Gattung an Medikamenten steht – und für eine gesellschaftliche Debatte. Inzwischen gilt die Therapie mit Semaglutid als Statussymbol. Ozempic ist für Reiche gedacht, die Body-Positivity-Bewegung für Arme, heißt es bissig im Satire-Comic „South Park“.
Der Konzern Novo Nordisk mit seiner 100-jährigen Geschichte, der für etwa die Hälfte der Insulinversorgung weltweit verantwortlich ist, steht immer wieder in der Kritik, zu wenig gegen den Wahn um seine Produkte zu unternehmen. profil traf Aleksandar Ciric, den Geschäftsführer von Novo Nordisk Österreich. Der österreichische Ableger ist für den Vertrieb in Österreich verantwortlich und trägt maßgeblich zur Forschung an neuen Produkten und zur Initiierung von Studien bei.
Der serbisch-kanadische Mediziner bestritt seine gesamte Karriere bei dem dänischen Unternehmen. Das plötzliche Interesse an Abnehmspritzen habe ihn überrascht, immerhin sei Novo Nordisk seit mehreren Jahren mit Adipositas-Medikamenten am Markt, für die das Unternehmen über 25 Jahre an der Entwicklung gearbeitet habe. „Anfangs war noch nicht sicher, ob es uns auch wirklich gelingen wird, ein wirksames Präparat zu entwickeln. Es war ein echter Durchbruch, als wir die ersten klinischen Ergebnisse gesehen haben“, so Ciric. „Niemand konnte mit dieser Nachfrage rechnen – vor allem, da bislang vielen nicht bewusst war, dass Adipositas eine behandelbare Erkrankung ist.“
Die gewaltige Nachfrage zeigt sich in sozialen Medien. Dort lässt der Hype um Ozempic nicht nach. Ist sich das Unternehmen seiner Verantwortung bewusst? „Wir beteiligen uns nicht daran und initiieren nichts von alldem“, sagt Ciric über die Inszenierung der Novo-Nordisk-Produkte als Wundermittel. Das Unternehmen geht dort nicht aktiv auf kursierende Falschinformation ein. „Wir empfehlen aber, dass niemand diese Produkte verwenden sollte, ohne einen Arzt aufzusuchen.“ Diese seien „definitiv nicht“ für eine schnelle Gewichtsabnahme oder für Schönheitskorrekturen gedacht. „Selbst ich als Mediziner würde Semaglutid nicht ohne eine ärztliche Verschreibung mit den dazugehörigen Analysen nehmen.“
Muss man Ozempic dauerhaft einnehmen?
Bis die Patente für Ozempic und Wegovy auslaufen und Generika erhältlich sein werden, forscht Novo Nordisk an einer Reihe von Medikamenten, die sich langfristig auf das Essverhalten auswirken. Der Haken von Ozempic ist, dass man es lebenslang einnehmen muss. Ansonsten droht eine erneute Gewichtszunahme in Gestalt des berüchtigten Jo-Jo-Effekts. Derzeit werden künftige Generationen von Adipositas-Medikamenten erforscht, die langfristige Effekte bewirken sollen.
Außerdem arbeitet das Unternehmen mit Hochdruck daran, seine Produktionsstätten auszubauen, um der starken Nachfrage nachzukommen – und um weitere Innovationen zu entwickeln. In Zukunft soll Semaglutid nicht mehr gespritzt werden müssen, sondern als Tablette geschluckt werden können.
Allerdings: Bei der nach wie vor herrschenden Knappheit an Medikamenten wirkt dieses Vorhaben ziemlich ambitioniert – trotz Maschinenbetriebs rund um die Uhr. Denn Tabletten benötigen weitaus mehr Wirkstoff als Spritzen. Für die orale Aufnahme braucht es täglich die 20-fache Menge der wöchentlichen Dosis per Injektion, die direkt in die Blutbahn aufgenommen wird. Hingegen könnte durch Tabletten die Produktion effizienter werden, weil das Medikament dafür in keinen Pen mit Spritze verpackt werden müsste.
Wer soll das bezahlen?
So oder so – Abnehmen mithilfe der Medizin ist im Moment teuer, und besonders Frauen verspüren Druck dazu. Dabei sind mehr Männer als Frauen übergewichtig, und für Frauen kann eine höhere Fettmasse normal sein. Medizinerin Bianca Itariu hält das für ein gesellschaftlich bedingtes Ungleichgewicht. Gleichzeitig sind aber auch gravierende Erkrankungen mit Übergewicht assoziiert. Adipöse Menschen haben mehr Herzprobleme, höheren Blutdruck, häufiger Schlaganfälle und Demenz. Sie gehen häufiger in den Krankenstand und vorzeitig in Pension. Zudem stehen mehrere Krebsarten mit Übergewicht in Verbindung, darunter Darm-, Brust- und Nierenkrebs. Doch selbst wenn das Abnehmen medizinisch notwendig sei, so Itariu, „kommt die Gesundheitspolitik dem Bedarf derzeit nicht nach“.
In Österreich drängt Novo Nordisk auf Kostenerstattung seiner Abnehmprodukte und hat bereits in der Vergangenheit darum angesucht – für Saxenda mit dem Wirkstoff Liraglutid, dem Vorgänger von Ozempic und Wegovy. Dann kamen Lieferengpässe aufgrund der enormen Nachfrage dazwischen. Vor Kurzem wurden die Verhandlungen erneut aufgenommen. Ein Haken dabei: Wegovy, welches explizit zur Gewichtsreduktion in der EU zugelassen wird, kann zwar nach Österreich importiert werden, ist jedoch nicht direkt erhältlich. Das macht das Ganze kostspielig. Die Behandlung mit Ozempic wiederum erfolgt off-label, es ist also nicht offiziell als Abnehm-Medikament zugelassen.
Laut Österreich-Geschäftsführer Ciric will Novo Nordisk Wegovy auch auf den heimischen Markt bringen. „Aber wir müssen verantwortungsbewusst vorgehen. Die Lieferbarkeit muss gewährleistet sein, damit die Menschen stabil versorgt werden können, die es brauchen.“
Dafür müsste Novo Nordisk allerdings den Preis senken. Und genau dazu war das Unternehmen in der Vergangenheit nicht immer bereit: In Rumänien beispielsweise ist Ozempic seit Anfang August nicht mehr in Apotheken erhältlich – der Vertrieb hatte sich laut Medienberichten nicht länger ausgezahlt. Vermutlich konnten sich zu wenige Personen das Präparat leisten. Ciric beteuert nun, es sei wichtig, „dass wir gemeinsam eine Lösung finden, um Menschen mit Adipositas Zugang zu diesen Medikamenten zu gewähren – zumindest jenen, die es am dringendsten benötigen. So kann langfristig das Gesundheitssystem entlastet werden.“
Dafür, dass Übergewicht inzwischen als Volkskrankheit gilt, gibt es bei den Gesundheitsberufen noch nicht ausreichend Expertise.
Trotz aller medizinischen und gesellschaftspolitischen Einschränkungen „kann Semaglutid ein Gamechanger sein“, sagt Itariu, jedenfalls für bestimmte Personengruppen. Die Endokrinologin berichtet von Patienten, die sich „wie neu“ fühlen; von Frauen, die erleichtert sind, nicht mehr stündlich ans Essen zu denken; von Männern, die endlich wieder laufen können. Doch im Monat investieren sie viel Geld in das neue Lebensgefühl. Auf ewig können sich das nicht alle leisten. Für Itariu ist erfolgreiches Abnehmen daher noch immer auch eine Frage des sozialen Status. Viele Anträge ihrer Patientinnen und Patienten würden von den Krankenkassen abgelehnt. Ein Magenbypass wird von den Kassen hingegen erstattet – dieser wirke ähnlich wie Semaglutid, bei allerdings höherem Risiko von Nebenwirkungen. „Medikamente zur Gewichtsreduktion pauschal als nicht erstattungsfähig einzustufen, widerspricht den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen“, argumentiert die Ärztin.
Der Dachverband der Sozialversicherungen in Österreich wägt derzeit noch die Vor- und Nachteile einer grundsätzlichen Erstattung ab. Während manche Fachleute empfehlen, Semaglutid speziellen Gruppen wie etwa übergewichtigen Jugendlichen zu erstatten, sieht es Itariu anders: „Die Ärzteschaft soll entscheiden dürfen, wer das Medikament dringend braucht.“
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) versichert auf Anfrage, die medikamentöse Therapie in gravierenden Fällen bereits zu erstatten. Doch einen gesetzlichen Anspruch auf Arzneimittel zur Gewichtsreduzierung gibt es nicht. Aus dem Dachverband der Sozialversicherungen heißt es: „Im Einzelfall kann ein Krankheitswert vorliegen, der zu einer Kostenerstattung führt. Dies kann auch bei Adipositas der Fall sein.“ Generell sei „der Sozialversicherung der Handlungsbedarf betreffend Adipositas bewusst“, allerdings wäre es „verkürzt, Übergewicht nur mit Medikamenten bekämpfen zu wollen“. Man wolle auf umfassende Konzepte setzen: mehr körperliche Bewegung in der Schule, bessere Kennzeichnung ungesunder Nahrungsmittel, mehr Bewegung im Alltag, bessere Ernährung in Büros. In dieses Paket „werden auch medikamentöse Maßnahmen entsprechend einzuordnen sein“.
Womöglich lautet die Frage nicht, ob Semaglutid künftig auf Krankenschein verfügbar sein wird, sondern wann und für wen.
Elena Crisan
war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.