Gartenbau Bauer züchtet Tomaten im Glashaus

Patente auf Nutzpflanzen: Sind Tomaten eine Erfindung?

Ob Salat, Mais, Paprika oder Brokkoli: Konzerne patentieren Tausende Pflanzengene. Forschende warnen vor einer Ausdünnung der Sortenvielfalt.

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Schuld ist der Brokkoli. Das Gemüse beschäftigte Juristen auf europäischer Ebene zehn Jahre lang. Sie mussten sich mit einer scheinbar simplen Frage befassen: Darf man Brokkoli patentieren? Präziser: Ist es zulässig, dass ein Unternehmen Besitzrechte an den Eigenschaften der Pflanze erwirbt? Die Antwort lautete: nein, ja, nein, ja, nein.

Schon diese stark verknappte Zusammenfassung der Entscheidungen zeigt: Die Sachlage ist komplex.

Anlass war ein Patentantrag von Syngenta, einem der größten globalen Saatguthersteller. Der Konzern wollte eine Brokkoli-Sorte schützen lassen, die krebsvorbeugende Stoffe enthält. Die Sorte entstand klassisch durch Kreuzungszüchtung. Allerdings dienten sogenannte molekulare Marker dazu, jene Abschnitte im Erbgut aufzuspüren, die für die Ausprägung des erwünschten Merkmals verantwortlich sind. Es ging somit um ein Gewächs, das zwar auch ganz natürlich hätte entstehen können, zugleich jedoch mit einem speziellen Verfahren analysiert wurde, um bestimmte Eigenschaften zu identifizieren. Kann man das patentieren lassen, die Natur gleichsam unter Patentschutz stellen?

Die Brokkoli-Causa wurde zum Präzedenzfall, wobei Europas Behörden über die Jahre zu krass widersprüchlichen Einschätzungen gelangten. Vor drei Jahren entschied eine Kammer des Europäischen Patentamts, der Brokkoli sei nicht patentwürdig, weil er auf „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ beruhe.

Erledigt war die Problematik damit nicht. Fast ständig müssen Juristen weitere ähnliche Anträge beurteilen. Ein Knackpunkt ist oft die Frage, wie „im Wesentlichen biologisch“ im Einzelfall zu interpretieren ist.

Beim österreichischen Verein Arche Noah, der sich für den Erhalt alter Sorten einsetzt, ist man überzeugt, dass die Debatte bald neuen Schub erhält. „Wir stehen erst am Beginn einer Entwicklung“, meint Katherine Dolan, die bei Arche Noah die Saatgutpolitik leitet. Denn ab Juni gilt eine Novelle des Europäischen Patentrechts: das „Einheitspatent“. Dieses erleichtert die Anmeldung von Patenten in vorerst 17 EU-Staaten, die die neue Regelung übernehmen. Dazu zählt auch Österreich.

Bisher war die Patentierung mühsam: Sollte ein Patent auch in anderen Ländern gelten, musste man es für jedes einzelne Land „validieren“: national anpassen, übersetzen, Gebühren entrichten. Das Einheitspatent spart viel Aufwand: Man reicht nur noch in einem Land ein, und basierend auf dessen Rechtslage gilt das Patent auch in allen anderen Ländern. Das Prozedere wird somit stark vereinfacht, was Unternehmen motivieren wird, sich vermehrt Eigentumsrechte an ihren Erfindungen zu sichern – gewiss auch in der Nutzpflanzenzucht. „Die Zahl der dann auch in Österreich angemeldeten Patente wird massiv steigen“, vermutet Dolan.

4000 Patente auf Pflanzen

Viele Menschen finden es irritierend, dass Pflanzen überhaupt einer Patentierung zugänglich sind. In aller Regel assoziiert man mit geistigem Eigentum technische Innovationen – kaum aber Pflanzen, die seit Tausenden Jahren existieren. Und doch entfalten vor allem große Agrar- und Saatgutkonzerne wie Syngenta, BASF, Bayer und Corteva intensive Bemühungen, Schutzrechte für ihre Entwicklungen zu erlangen. Rund 4000 Patente auf Pflanzen sind bisher erfasst. Kaum etwas aus dem Supermarktregal, das nicht schon Ziel von Patentanträgen gewesen wäre: Paprika, Gurken, Salat, Kartoffeln, Spinat, Tomaten, Melonen.

Welche Auswirkungen hat es auf unseren Speiseplan, wenn Unternehmen Eigentumsrechte an Nahrungsmitteln erwirken? Was bedeutet das für Angebot, Qualität und Vielfalt der Ernährung? Und welchen Effekt haben die bevorstehenden Neuregelungen? Dazu zählt neben dem Einheitspatent die Klärung der Frage, ob neue molekularbiologische Methoden wie die Genschere CRISPR/Cas9 künftig unter Gentechnik fallen oder nicht.

Bevor wir uns im Detail damit befassen, lohnt es, eine kleine Zeitreise zu unternehmen und in mehreren Etappen zu den Anfängen der Geschichte zurückzublenden.

Eins: Die Erfindung der Gentechnik

Vor 10.000 Jahren begann der Mensch, eine Frühform von Gentechnik zu betreiben. Gerade sesshaft geworden, beobachtete er, welche Pflanzen besonders schöne oder nahrhafte Früchte trugen. Diese versuchte er zu vermehren, während er weniger erwünschte ausschied. Es war der Anfang der Selektion, der Auswahl nach günstigen äußeren Merkmalen. Es war zugleich eine frühe Reduktion der Vielfalt, weil nur bevorzugte Kulturpflanzen weitergezogen wurden. Den ersten „genetischen Flaschenhals“ nennt dies Hermann Bürstmayr, Professor am Institut für Biotechnologie in der Pflanzenproduktion in Tulln.

Tausende Jahre änderte sich wenig. „Zur ersten genetischen Revolution kam es um 1900 mit der Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln“, sagt Bürstmayr. Inspiriert von Gregor Mendels Vererbungsregeln verbreitete sich geplante Kreuzungszüchtung: Fortan ließen sich Eigenschaften zweier Pflanzen gezielt im Erbgut der Nachkommen vereinen.

Es setzte eine Professionalisierung der Züchtung ein. Bisher hatten Bauern Teile ihrer Ernte behalten, Körner wieder ausgesät, Saatgut mit den Nachbarn getauscht, was einen bunten Kosmos von Landsorten gedeihen ließ. Mit neuen Methoden wurde die Vermehrung von Saatgut zum Beruf. Bereits in den 1920er-Jahren ersannen findige Geister die Hybridzüchtung. Dabei kreuzt man zwei reinerbige Linien und nutzt das Resultat des sogenannten Heterosis-Effekts: höheren Ertrag. Bei Mais steigt die Ausbeute um bis zu 300 Prozent, weshalb Mais heute nur noch in Hybridkulturen angebaut wird.

Viele Konsumentinnen und Konsumenten finden Hybridsorten unsympathisch, doch Unternehmen wie Bayer und auch Landwirte verweisen nicht zu Unrecht auf die Effizienzsteigerung: Ernährte ein Landwirt vor einem halben Jahrhundert 17 Menschen, sind es heute 140. Auch Gemüsesorten stammen zu einem hohen Anteil aus Hybridzüchtung, das Ergebnis sehen wir täglich im Supermarkt: viel, groß, gleichmäßig, häufig ziemlich geschmacksarm.

Die nächste Innovation kam in den 1930er-Jahren und heißt Mutagenese. Dabei bestrahlt man Saatgut radioaktiv, mit Röntgenstrahlen oder behandelt es mit mutagenen Substanzen. Die Folge ähnelt übermäßigem Sonnenbaden: Im Erbgut sammeln sich Mutationen an (beim Menschen verbunden mit Hautkrebsrisiko), von denen wenige vorteilhaft sind, die man durch Rückkreuzungen vom Rest trennen muss. Das Verfahren ist weit verbreitet, auch Bio-Ware kann derart entstehen, was im Gegensatz zur Gentechnik interessanterweise kaum jemanden stört. „Sehr vieles beruht auf Mutagenese, im Supermarkt wie im Bioladen“, sagt Ortrun Mittelsten Scheid, Molekularbiologin am Wiener Gregor Mendel Institut für Molekulare Pflanzenbiologie der Akademie der Wissenschaften.

Die Idee, Patente auf Pflanzen zu erwerben, kam mit der Gentechnik in den 1990er-Jahren auf. Forschungsstarke Agrarunternehmen schleusten nun gezielt Gene ins Erbgut von Pflanzen, zum Beispiel zum Schutz vor Schädlingen oder zur Pestizidresistenz. Sie schufen gentechnisch veränderte Organismen (GVO), entwickelten somit neuartige technische Methoden zur Veränderung des Pflanzengenoms.

Das jüngste Kapitel begann 2012 mit der Entwicklung der Genschere CRISPR/Cas. „Die Idee stammt von Bakterien, die sich vor Viren schützen, indem sie virale DNA zerschneiden“, sagt Mittelsten Scheid. Auf ähnliche Weise lässt sich die Schere mit einer Art molekularem Etikett an eine bestimmte Stelle im Pflanzenerbgut steuern. Planzeneigene Enzyme fügen die DNA-Abschnitte wieder zusammen, wobei es zu Mutationen an genau dieser Stelle kommt.

Zwei: Ein Feld für Großkonzerne

Traditionelle Kreuzung ist gleichsam eine aufwendige Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Sie spürt in einer Vielzahl neuer Varianten verbesserte Typen auf. Großindustrielle Saatgutproduktion dagegen designt, häufig mithilfe von Gentechnologie , global einsetzbare Blockbuster- oder Hochleistungssorten. Nur wenige Konzerne spielen in dieser Liga mit. Rund 8000 Saatgutunternehmen gibt es weltweit, doch ein Dutzend von ihnen beherrscht 70 Prozent des kommerziellen Saatgutmarktes, der auf mehr als 60 Milliarden Dollar geschätzt wird. Es ist ein internationales Geschäft: Gut 99 Prozent allen Saatgutes für Gemüse, das uns die Supermärkte anbieten, stamme aus Deutschland, Holland und Frankreich, berichtet Anton Brandstetter, Geschäftsführer des Branchenverbandes Saatgut Austria. Der Anbau mag teils in Österreich erfolgen, dass die Samen für als regional beworbenes Obst und Gemüse aus heimischen Betrieben stammen, ist aber ein romantischer Irrglaube.

Manche Schätzungen gehen davon aus, dass von rund 7000 historisch als Nahrung genutzten Pflanzenarten nur noch 30 Arten dazu dienen, 90 Prozent des globalen Kalorienbedarfs zu decken. Ein nennenswerter Anteil davon basiert, global betrachtet, auf Gentechnik – anders wäre es auch kaum möglich, den ständig wachsenden Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Dass große Konzerne ihren Entwicklungsaufwand in Form von Rechten absichern wollen, ist nachvollziehbar. „Jede Innovation in der Pflanzenzüchtung erfordert erhebliche Investitionen unterschiedlicher Ressourcen“, heißt es von Bayer auf eine profil-Anfrage.

Selbst viele NGOs haben – abgesehen von einer generellen Ablehnung der Gentechnik – kein Problem damit, wenn sich globale Konzerne Patente auf technische Erfindungen sichern. In der aktuellen Debatte um Patente geht es aber genau darum nicht: Es geht um Patente auf konventionell gezüchtetes Obst, Gemüse oder Getreide, das grundsätzlich auch die Natur hätte hervorbringen können. Und dies werde durch das neue Einheitspatent verschärft, mein Katherine Dolan: „Die Auswirkungen werden wir erst in ein, zwei Jahren sehen. Viele Züchter werden sich dann vielleicht fragen, womit sie überhaupt noch arbeiten können.“

Dabei sollte der Fall seit der Causa Brokkoli klar sein. Vereinfacht gesagt: Alles, was mit Gentechnik zustande kommt, ist patentierbar, alles andere nicht – klassische Kreuzung, Mutagenese und sonstige traditionelle Verfahren, die als „im Wesentlichen biologisch“ gelten.

Tatsächlich jedoch erteilte das Europäische Patentamt seither rund 300 Patente auf konventionell entstandene Sorten, allein im vergangenen Dezember waren es vier. Circa 1000 Anträge sind in der Warteschleife, und es klingt durchaus plausibel, dass diese Zahl mit den bürokratischen Erleichterungen dank des Einheitspatents weiter steigen wird.

Drei: Natur unter Patentschutz

Zum Beispiel das Europäische Patent EP 2966992: Es schützt Salatpflanzen, die auch in warmem Klima gut keimen. Oder EP 2440664: Es bezieht sich auf Tomaten mit verbesserter Trockenheitstoleranz. Oder EP 1727905: geschmacksstabile Gerste für die Bierherstellung. Andere Patente betreffen die Erhöhung des Stärkegehalts von Kartoffeln, bessere Verdaulichkeit von Mais oder Resistenzen gegen Krankheiten wie Mehltau. Und sie beziehen sich häufig auf Zellen, Samen sowie Nachkommen und Produkte einer Pflanze wie Nahrungs- und Futtermittel, ob Soja, Reis, Weizen oder Sonnenblumen. Mitunter sind mehr als 100 Sorten einer Pflanzenart umfasst.

Gemeinsam ist all diesen Patenten: Die Eigenschaften der betreffenden Pflanzen kamen konventionell zustande, durch Kreuzung oder Mutagenese – und nicht durch Verfahren der Gentechnik. Warum sind sie trotzdem patentiert?

Häufig ist von „Tricks“ oder „gesetzlichen Schlupflöchern“ die Rede. Tatsächlich geht es um Auslegung und Interpretation der Rechtsmaterie sowie deren Spielräume. Es ist dabei kein Nachteil, wenn ein Unternehmen eine pfiffige Patentrechtsabteilung unterhält. Einige Beispiele, wie man konventionell gezüchtete Nutzpflanzen patentieren kann: Der Antrag bezieht sich nicht auf die Pflanze, sondern auf Teile davon, etwa Zellen. Oder: Man kann zwar nicht eine bestimmte Krankheitsresistenz schützen, weil diese in der Natur ebenso vorkommt, aber eine Methode, um diese Resistenz im Genom zu identifizieren.

Am wichtigsten ist sicher die Patentierung von Eigenschaften. Das bedeutet: Ein bestimmter DNA-Abschnitt im Genom einer Pflanze steht für eine spezielle Eigenschaft, etwa Toleranz gegenüber Hitze oder Trockenheit. Man sichert sich gleichsam die Rechtshoheit über DNA-Sequenzen, die konkrete Eigenschaften beinhalten. Der Clou daran: Verschiedene Pflanzen tragen dieselben DNA-Abschnitte im Erbgut. Patente können daher Dutzende Nutzpflanzen zugleich betreffen – weil eben nicht eine konkrete Pflanze patentiert wird, sondern eine Eigenschaft. Manche Patentschriften listen Hunderte oder sogar Tausende Genvarianten auf, die auf einen Schlag unter Schutz gestellt werden – sofern die Patentrichter dem Wunsch der Unternehmen entsprechen, was am Europäischen Patentamt mit Sitz in München relativ häufig der Fall ist. Österreich dagegen hat soeben im Alleingang eine recht strikte Regelung beschlossen, die konventionell gezüchtete Pflanzen von der Patentierung ausschließt.

Vier: Wo ist das Problem?

Vereine wie Arche Noah, die Wissenschaft und Vertreter traditioneller Saatguthersteller wie Saatgut Austria und der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter sind in einem Punkt ungewöhnlich einig: Patente auf konventionelle Nutzpflanzen seien strikt abzulehnen. Die Position lautet im Kern: kein Problem mit Rechten auf geistiges Eigentum, aber bitte keinesfalls auf Entwicklungen, die auch natürlich oder konventionell entstehen könnten.

Die Haltung der traditionellen Züchter erklärt sich aus dem Umstand, dass sie die Ersten sind, die von Patenten betroffen sind. Mitglieder von Saatgut Austria sind (neben Regionalablegern mancher Konzerne) kleine oder mittelgroße Züchtungsbetriebe. Sie sind es gewohnt, Saatgut als Ausgangsbasis für eigene Züchtungen zu verwenden, aus denen neue Sorten hervorgehen. Das Saatgut kaufen sie bei Händlern, erhalten es von Kollegen oder beziehen es aus sogenannten Genbanken, Speichern biologischen Materials. Derart bereichern sie die Sortenauswahl mit ihren Innovationen. In Österreich sind das vor allem Getreidearten und Kartoffeln.

Bei ihrer Arbeit durften sie sich auf das Züchterprivileg verlassen: Es gestattet die Nutzung aller registrierten Sorten zur Herstellung neuer Sorten. „Der freie Zugriff auf das Saatgut ist der Grundstein des züchterischen Erfolges“, sagt Saatgut-Austria-Chef Brandstetter. Bei Patenten gilt das nicht: Sie verbieten die Arbeit mit geschützten Produkten. Zwar könnte man sich deren Nutzung mit Lizenzgebühren erkaufen, allerdings: Häufig ist es schier unmöglich herauszufinden, was überhaupt patentiert ist – eben weil nicht Pflanzen patentiert werden, sondern Eigenschaften, die in den Genen festgeschrieben sind und sich quer über viele Sorten erstrecken.

Kann man denn nicht nachsehen, was patentiert ist? Doch, in Online-Datenbanken. Dort steht zum Beispiel: „Novel Genetic Loci Associated with Disease Resistance in Soybeans.“ Oder: „Plants with Improved Digestibility and Marker Haplotypes.“ Darunter sind Kolonnen von DNA-Sequenzen aufgelistet, im Extremfall bis zu 5000. Ein Züchtungsbetrieb müsste ein ganzes Team von Molekularbiologen beschäftigen, um zu verstehen, was genau patentiert wurde – und welche Pflanzen sowie Eigenschaften erfasst sind.

Kreiert der Züchter ohne dieses Wissen eine beliebige neue Sorte im eigenen Betrieb, ist es möglich, dass diese ungewollt eine Eigenschaft in den Genen trägt, die in völlig anderem Zusammenhang patentiert wurde – oder in jenem oft langen Zeitraum erst patentiert wird, den konventionelle Kreuzungszüchtung in Anspruch nehmen kann: bis zu 15 Jahre. Die Annahme ist nun, dass traditionelle Züchter aus Unsicherheit oder Furcht vor Klagen ihre Entwicklungstätigkeit gleich präventiv einschränken.

Was bedeutet das für Konsumenten? Hier kommen die Begriffe Diversität und Sortenvielfalt ins Spiel.

Fünf: Das Mantra von der Vielfalt

Manche Schätzungen gehen davon aus, dass im vergangenen Jahrhundert 75 Prozent aller Sorten aus dem Anbau verschwanden. Anderen Quellen zufolge gibt es in der EU mit rund 42.000 zugelassenen Sorten sogar mehr als je zuvor – und viele das ganze Jahr über. Auf welche Zahlen Verlass ist, lässt sich schwer beurteilen. Plausibel scheint: Es gibt mehr Sorten, die einander immer ähnlicher sind. „Die Sortenvielfalt steigt, aber die genetische Distanz wird enger“, meint Brandstetter. „Die genetische Bandbreite innerhalb der Sorten im praktischen Anbau wird schmäler“, bestätigt Pflanzenbiologe Hermann Bürstmayr.

Das heißt: Die internationale Saatgutindustrie konzentriert sich auf wenige global bedeutsame Charakteristika wie Größe, Homogenität, Transport- und Lagerfähigkeit und offeriert eine wachsende Sortenzahl nach immer denselben Kriterien. Das Ergebnis sehen wir längst in den Supermärkten, wobei diese die Entwicklung ihrerseits befördern. „Der Handel spielt eine große Rolle“, so Bürstmayr. „Er will nicht

20 Apfelsorten im Regal haben, sondern drei oder vier, die am längsten halten und stark nachgefragt werden.“ Das Problem der Patentierung kommt – und durch das Einheitspatent vielleicht in größerem Ausmaß – zu den bestehenden Trends noch hinzu.

In Österreich könnten in Zukunft vor allem Güter betroffen sein, die hier noch großteils gezogen und angebaut werden: hauptsächlich Getreide, dessen Saatgut knapp zur Hälfte von heimischen Züchtern stammt und auf österreichischen Äckern wächst, die in Summe eine Million Hektar umfassen. Freilich kauft niemand ein Kilo Weizen, die Effekte geschützter Merkmale von Getreide schlagen sich bei daraus hergestellten Waren in Supermärkten und Bäckereien nieder: Nudeln, Mehl, Gebäck und tierische Produkte wie Eier, für die Futtermittel aus Getreide zum Einsatz kommen.

Die meisten Forschenden stimmen darin überein, dass es speziell in Zukunft nicht egal ist, welche Sorten in welchen Variationen verfügbar sind. Ohne Züchtung und genetischen Fortschritt ist es kaum vorstellbar, die Welt künftig zu ernähren, doch zugleich stellen sich regionale Herausforderungen: Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen, Schutz vor lokal gehäuft auftretenden Schädlingen und Krankheiten. „Um den Landwirten widerstandsfähige und regional angepasste Pflanzen zur Verfügung zu stellen, eignen sich in der jeweiligen Region gezüchtete Sorten am besten“, sagt Bürstmayr. „Ich bin daher ein großer Freund regionaler Züchtung.“

Bei der Frage, wie man Pflanzen fit für den Klimawandel machen könnte, kommt die jüngste verfügbare Technologie ins Spiel: die Genschere CRISPR/Cas9. Und hier scheiden sich die Geister wieder.

Sechs: Wie bio ist Gentechnik?

Mit CRISPR/Cas kann man Stellen im Genom schneiden, die für Allergien verantwortlich sind oder die Pflanze anfällig für Krankheiten, Hitze- und Trockenstress machen. Ist der Genabschnitt geknipst, lassen sich zwar die Buchstaben des Erbguts abzählen und Veränderungen nachweisen – aber nicht, wie diese zustande gekommen sind. Die Mutationen hätten ebenso gut natürlich entstehen können. Ist das Gentechnik oder nicht? Bisher ja, ab Juni vielleicht nicht mehr – dann soll auf EU-Ebene entschieden werden, ob solche Methoden künftig aus der Gentechnikregelung fallen.

Katherine Dolan von der Arche Noah ist strikt dagegen. Sie sieht einen doppelten Nachteil: Gentechnisch erzeugte Produkte müssten dann nicht mehr ausgewiesen werden, Patente darauf würden sich Konzerne wohl trotzdem sichern – nicht anders als jetzt bei Pflanzen aus konventioneller Züchtung.

Molekularbiologin Ortrun Mittelsten Scheid ist ganz anderer Ansicht. Erstens sei es unlogisch, eine Pflanze mit derselben Mutation einmal als gentechnisch erzeugt zu bezeichnen, ein anderes Mal aber als natürlich entstanden. Es käme auf das Produkt an, nicht auf die Methode der Herstellung, Zweitens biete CRISPR/Cas vielleicht das größte Potenzial, um internationaler Einheitsware etwas entgegenzusetzen: Man spüre in alten, regionalen Sorten wichtige Eigenschaften auf, etwa in Bezug auf Wärmetoleranz, und bearbeite neue Sorten so, dass sie dieselben Merkmale beinhalten. Traditionelle Kreuzung sei dafür viel zu langwierig, auch weil die gewünschten Eigenschaften meist nicht nur in einem Gen liegen, sondern in mehreren – um das angepeilte Ziel zu erreichen, müsste man jahrelange Kreuzungsserien durchführen. Noch komplizierter wird es dadurch, dass Weizen zum Beispiel drei verschiedene Genome besitzt, es existieren sechs Kopien jedes Gens. Eine zielgerichtete Bearbeitung in akzeptabler Zeit sei mit der Genschere rasch und relativ kostengünstig möglich. „Es geht darum, alte Sorten zu analysieren und das Ergebnis in neue Sorten zu integrieren“, sagt Mittelsten Scheid.

Aufzuhalten sei die Entwicklung ohnehin nicht. Die Hälfte aller neuen Publikationen zum Thema CRISPR/Cas käme inzwischen aus China. Es ist stark anzunehmen, dass die Innovationen nicht auf Forschungslabore beschränkt bleiben.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft