Quantensprung: Die genaueste Uhr aller Zeiten
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Seine Frau sah ihn prüfend an und sagte: „Du planst doch schon wieder eine Vakuumkammer.“ Ertappt, dachte Thorsten Schumm. Vermutlich hatte sein Gesichtsausdruck verraten, dass er im Geist mögliche Experimente durchspielte. Den wahren Physiker lasse sein Thema eben nie los, auch nicht am Abend zu Hause.
Sein Beruf, sagt der 49-jährige Wissenschafter, sei nicht bloß ein Job, sondern eine Aufgabe, die ihn in einem Ausmaß fessle, das die unablässige Auseinandersetzung damit mehr zum Privileg als zur Anstrengung mache – selbst wenn das bedeutet, sich den Kopf mit kniffligen Problemen zu zermartern, die sich jahrelang einer Lösung widersetzen. Ideen dazu notiert Schumm auf kleine Zettel und legt diese am jeweiligen Ort der Eingebung ab, auf seinem Schreibtisch genauso wie neben dem Bett.
Der gebürtige Berliner forscht seit 2006 am Atominstitut der Technischen Universität Wien. Herzstück der TU-Außenstelle nahe dem Wiener Prater ist eine riesige Halle, in der Österreichs einziger Forschungsreaktor untergebracht ist. Das Fachgebiet des Professors ist die Quantenmetrologie: die Entwicklung von Messinstrumenten mithilfe der Phänomene der Quantenwelt – der teils bizarren Eigenschaften winziger Teilchen, die im Inneren von Atomen wirken. Das Ziel, das Schumm verfolgt, beschäftigt die Physik seit Mitte der 1970er-Jahre. Viele Fachleute hielten die Lösung für zwar theoretisch greifbar, in der Praxis aber für enorm herausfordernd bis unmöglich. Manch ein Kollege, erzählt Schumm, habe ihm auf die Schulter geklopft und gemeint: Super, dass du das machst! Meist folgte der Zusatz: Und noch besser, dass ich es nicht machen muss.
Doch zuletzt stellten sich die Erfolge in Serie ein, und sie schlugen sich in der wichtigsten Währung der Wissenschaftsgemeinde nieder: in Publikationen in renommierten Fachzeitschriften. Den Höhepunkt bildete am Mittwoch dieser Woche eine Veröffentlichung in „Nature“, dem weltweit neben „Science“ bedeutendsten Journal. Und „Nature“ druckte nicht nur den Artikel, den Schumms Wiener Team gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA verfasst hatte. Die Zeitschrift hob das Thema der Physikergruppe sogar aufs Titelblatt. Die allermeisten Forscher können von dieser Ehrung bloß träumen.
Eine harte Nuss der Physik
Was hatten die Forschenden zuwege gebracht, das zu dieser Auszeichnung führte? Zunächst knackten sie jenes Rätsel, das die Physik seit Jahrzehnten plagte: ein lang gesuchtes Phänomen namens Thoriumübergang. Das klingt ein wenig speziell, doch dessen Nachweis öffnet die Tür zu einer Fülle von Anwendungen, die auf einer bisher unerreicht genauen Messung der Zeit beruhen – für bessere GPS-Systeme, präzisere Erdbebenvorhersagen, zielsicheres Aufspüren von Bodenschätzen und die Neuvermessung der Naturkräfte. Verhalten sich Gravitation und Elektromagnetismus tatsächlich exakt so, wie bisher angenommen? Verändern sie sich womöglich über die Zeit? Diese Fragen könnten sich mit einer völlig neuartigen Generation atomarer Uhren beantworten lassen. Und deren Konstruktion stand nun im Mittelpunkt des „Nature“-Artikels.
Die Grundlagen dieser Innovation führen tief ins Innere der Materie: in den Aufbau der Atome, die oft wie winzige Planetensysteme dargestellt werden, bestehend aus dem Atomkern, aus Protonen und Neutronen sowie den Elektronen, die den Kern umkreisen wie Miniaturmonde. Das Bild hat zwar mit der Realität wenig zu tun, doch sehr viel besser lässt sich nicht veranschaulichen, was auf subatomarer Ebene geschieht. Im Atom kann sich ein Ereignis zutragen, das auch außerhalb der Physik geläufig ist: ein Quantensprung. Im Gegensatz zur sprichwörtlichen Verwendung im Alltag handelt es sich dabei um kein epochales Geschehen, sondern um die eigentlich geringstmögliche Veränderung: wenn ein Teilchen, im Regelfall ein Elektron, seinen Zustand wechselt.
Führt man eine genau dosierte Menge an Energie zu, wechselt das Elektron vom Grund- in einen sogenannten angeregten Zustand. Im Planetenmodell lässt sich dieser Übergang von einem Energiezustand in einen anderen so vorstellen, dass das Elektron auf eine andere Umlaufbahn um den Kern „springt“. Diese Erkenntnis wird längst für eine sehr konkrete Anwendung genutzt: zum Bau von Atomuhren.
Was aber ist überhaupt eine Uhr? „Eine Uhr ist ein Gerät, das eine periodische Frequenz erzeugt“, sagt Thorsten Schumm. „Es benötigt einen Frequenzgenerator und einen Zähler.“ Eine sehr grobe Uhr ist die Bewegung der Erde um die Sonne, die Frequenz beträgt ein Jahr. Die Erde dreht sich im Tagesrhythmus um sich selbst und taktet damit Tag und Nacht. Viel feiner sind mechanische Uhren, deren Frequenzgenerator ein Pendel oder eine Feder ist. Ein klassisches, knapp einen Meter langes Pendel schwingt pro Sekunde einmal von Seite zu Seite.
Quantensprung als Taktgeber
Dasselbe Prinzip machen sich Atomuhren zunutze. Entscheidend dabei ist jene Frequenz, die benötigt wird, um einen Quantensprung auszulösen. In der etablierten Variante bestrahlt man Cäsium-Atome mit Mikrowellen bei einer Frequenz von 9,2 Milliarden Schwingungen pro Sekunde. Bei exakt dieser Frequenz – und nur bei dieser – vollführt ein Elektron im Cäsium-Atom den Bahnwechsel. Eine Sekunde ist damit durch exakt 9.192.631.770 Schwingungen definiert, und seit 1967 ist dies das Maß für die Weltzeit. Die ungeheure Genauigkeit solcher Atomuhren dient heute dazu, die Signallaufzeiten von Satelliten zwecks präziser Positionsangaben abzustimmen, die Zeit im Leistungssport zu erfassen oder die zeitlich korrekte Abfolge von Finanztransaktionen zu gewährleisten.
Über die Jahre verfeinerten Forschende Atomuhren immer weiter. Sie verwendeten statt Cäsium Isotope der Elemente Strontium und Ytterbium, und statt Mikrowellen bestrahlten sie die Atome mit sichtbarem Licht, weil dieses viel höhere Frequenzen besitzt – und je höher die Frequenz, je mehr Schwingungen also pro Sekunde, desto höher auch die Auflösung und damit die Genauigkeit der Uhr. Moderne optische Atomuhren funktionieren bei 430 Billionen Schwingungen pro Sekunde und würden in 15 Milliarden Jahren nicht mal eine Sekunde vor- oder nachgehen.
Die Physik weiß allerdings seit Langem: Es könnte noch viel genauer gehen, zumindest theoretisch. Denn Elektronen, die durch die Atomhülle schwirren, sind störungsanfällig, beispielsweise durch Einflüsse des Elektromagnetismus. Anders verhält es sich im Atomkern: Er ist kompakt und robust, aber trotzdem nicht unveränderlich. Auch im Atomkern kann ein Quantensprung stattfinden. „In dem Fall werden Neutronen angeregt, einen anderen Zustand anzunehmen“, erklärt Schumm. Um einen Atomkern zu manipulieren, braucht man allerdings weitaus höhere Energien als bei Elektronen – mit einer Ausnahme: Thorium, genauer das Isotop Thorium-229.
Es entsteht aus dem radioaktiven Zerfall von Uran und ist extrem selten: Weltweit existieren davon nur wenige Milligramm, die fast zur Gänze aus Beständen des Manhattan Project stammen. Mit Glück, guten Kontakten und geschicktem Netzwerken gelang es Schumm, einige Proben davon für sein Labor zu erhalten. Experimente mit dem Material sollten die entscheidende Frage beantworten: Bei exakt welcher Energie gehen Thorium-Neutronen von einem Zustand in einen anderen über, vollziehen also einen Quantensprung im Atomkern? Es gibt schier unendlich viele Möglichkeiten, und wenn man nicht vollkommen präzise die korrekte Energiemenge kennt, passiert gar nichts – und die Neutronen bleiben, wo sie sind. Das war die harte Nuss der Physik seit Jahrzehnten: Man wusste, der Übergang muss existieren, doch im Vergleich dazu ist die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen eine leichte Übung.
Jahre des Zweifelns
Im Jahr 2008 beschloss Thorsten Schumm, die Herausforderung anzunehmen. Ursprünglich hatte er Maschinenbau studiert und sich für Bühnen- und Tricktechnik begeistert. Nach Ausflügen in die Philosophie und Literatur landete er bei der Physik. Er absolvierte Forschungsaufenthalte in Innsbruck (an jenem Institut, an dem auch Anton Zeilinger tätig war) und Heidelberg, dann wechselte er an die TU Wien und überlegte, was sein Thema sein könnte. Er zog sich auf eine Berghütte zurück und grub sich durch die großen offenen Fragen der Physik. Schließlich entschied er sich für die Suche nach dem Thorium-Übergang.
Recht blauäugig, sagt Schumm, habe er Forschungsanträge eingereicht – und überraschend tatsächlich Fördermittel bekommen: in Gestalt eines Start-Preises des österreichischen Wissenschaftsförderungsfonds FWF sowie eines ERC-Grant der Europäischen Union. „Dann musste ich natürlich liefern“, sagt Schumm. Doch es sollte eineinhalb Jahrzehnte dauern, das Problem zu lösen. Wie oft zweifelte er, dass es klappen könnte? „Mehrmals täglich“, sagt Schumm.
Die Schlüsselfrage in diesen Jahren lautete: Wie viel Energie braucht es für einen Quantensprung im Kern eines Thoriumatoms? Ohne dieses Wissen fehlt auch die Kenntnis jener Frequenz, die man als Taktgeber einer Atomkernuhr benötigt. Doch wie lässt sich das herausfinden? Und wie testet man die optimale Energiemenge?
Die Wiener Physikergruppe überlegte: Man müsste Thoriumatome stabil einschließen, um sie mit Energie traktieren zu können, und zwar in ein perfekt lichtdurchlässiges Material. Zu diesem Zweck begannen die Forschenden, an der TU Wien Kristalle zu züchten, erst faustgroße, dann immer kleinere, bis sie im Millimeterbereich landeten. Es war eine aufwendige Prozedur bei Temperaturen von bis zu 1600 Grad. „Wir sind heute weltweit die Einzigen, die solche Kristalle herstellen können“, sagt Schumm.
Die kleinen Kristalle mit fest darin eingeschlossenen Thoriumatomen bildeten fortan das Herz der Experimente. Der Versuchsaufbau bestand aus einer Vakuumkammer, in der die Atome Laserstrahlen verschiedenster Energieniveaus ausgesetzt wurden – mit dem Ziel, genau jene Energiemenge aufzuspüren, die den Übergang in einen anderen Zustand vulgo Quantensprung bewerkstelligt. In mühevoller Kleinarbeit näherten sich die Forschenden dem optimalen Wert immer weiter an, bis sie ihn tatsächlich fanden: bei 8,355743 ± 0,000003 Elektronenvolt. Ausdauer spielte dabei gewiss eine Rolle, „ich bin mir aber auch des Faktors Glück bewusst“, so Schumm.
Woher weiß man aber, Laserstrahlen mit der genau passenden Energie auf die Atome gerichtet zu haben? Das lässt sich messen: Jene Energiemenge, die den Quantensprung auslöst, geben die Neutronen in Form von Lichtteilchen wieder ab, wenn sie zeitverzögert in den Ausgangszustand zurückkehren – und dieser Wert kann erfasst werden, genau wie die gesuchte Frequenz, die mit dem Quantensprung einhergeht. Beim Thoriumkern ist sie unvorstellbar hoch: 2 hoch 15 Schwingungen pro Sekunde oder zwei Petahertz (Million mal Milliarde Hertz). Dies wiederum war eine neue und die bisher genaueste Definition einer Sekunde, was Schumms Team im Vorjahr eine Publikation samt Titelseite in den „Physical Review Letters“ einbrachte.
Neuvermessung der Naturgesetze
Dieses Grundlagenwissen war die Basis für die erste Bauanleitung einer Atomkernuhr, die nun diese Woche in „Nature“ veröffentlicht wurde. Einfach, robust und kompakt könne sie sein, so Schumm, und eines Tages könnte sie in eine Schuhschachtel passen. Doch wozu braucht man überhaupt noch genauere Uhren? „Man kann damit vor allem Wissenschaft betreiben“, sagt Schumm. So könnte Milliarden Jahre altes Licht eines längst erloschenen Sterns neu vermessen und untersucht werden, ob elektromagnetische Wellen – ebenfalls eine Form von Licht – über die enorm langen Zeiträume konstant blieben oder Veränderungen unterworfen waren. „Man könnte eventuell Neues über die fundamentalen Naturkräfte lernen“, meint der Physiker.
Gleiches gilt für die Gravitation: Albert Einstein postulierte mit der Kraft seines Geistes und komplexer Mathematik, dass Gravitation die Zeit beeinflusst: Wo mehr Schwerkraft wirkt, vergeht die Zeit langsamer. Die Vorhersage ist durch Experimente längst triumphal bestätigt, unter anderem mittels Atomuhren. Selbst auf wenige Zentimeter genau ist dieser Effekt nachweisbar: Zehn Zentimeter über der Erdoberfläche vergeht die Zeit um einen Hauch langsamer als 20 Zentimeter über dem Boden.
Noch präzisere Uhren könnten dieses Phänomen nicht nur neuerlich bestätigen, sondern auch praktischen Nutzen haben, etwa beim Aufspüren von Bodenschätzen: Weil solche Ressourcen meist in Hohlräumen liegen, ist dort die Dichte und damit die Gravitation geringer – das ließe sich messen, weil die Uhr eine Spur schneller tickt. Gleiches gilt für Erdbebenprognosen: Selbst geringste Hebungen im Boden könnten sich durch Zeitabweichungen verraten. Es sind viele weitere Anwendungen denkbar, und sobald diese ihre Funktionalität bewiesen haben, wäre durchaus eine weitere Auszeichnung von Schumms Grundlagenforschung möglich – jene, die in Form eines überraschenden Anrufs aus Stockholm kommt.
Vorerst denkt Thorsten Schumm darüber nach, was die nächsten Schritte seiner Arbeitsgruppe sein könnten. Zum Beispiel: selber einen Prototyp der Atomkernuhr bauen oder diesen Job anderen Kollegen in aller Welt überlassen, die nach der „Nature“-Publikation vermutlich die Ärmel hochkrempeln? Man werde sehen. Das Thema, das ihn seit eineinhalb Jahrzehnten beschäftigt, lässt ihn jedenfalls gewiss weiterhin nicht los. Denn: „Ich habe noch eine Rechnung offen mit den Fundamentalkonstanten.“
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft