Propheten des Terrors: Lassen sich Attentate vorausberechnen?
Das Prozedere ist nach jedem schrecklichen Terroranschlag ähnlich: Ob blutige Attentaten wie in Paris, Nizza, Berlin, der Türkei oder auch vereitelte Anschläge wie soeben in Wien -meist fordern Parteien und Terrorismusexperten umgehend eine härtere Gangart und ein massives Aufrüsten der elektronischen Aufklärung. Dazu zählen erweiterte Vorratsdatenspeicherung, verstärkte Videoüberwachung sowie das systematische Sammeln von Daten. Speziell die Überwachung von Chat-Plattformen, sozialen Netzwerken und Hotspots im Netz soll Attentäter und ihre geplanten Aktivitäten entlarven sowie Strukturen offenlegen. Aber können Daten tatsächlich so verdichtet und zielgenau ausgelesen werden, dass sich daraus verlässliche Vorhersagen generieren lassen?
James Shinn ist da ganz sicher. Aus unendlich vielen Daten, in Verbindung mit ausgefeilten Algorithmen und jeder Menge Rechenleistung möchte er mit seinem Unternehmen "Predata" belastbare Prognosen über künftige Anschläge erstellen. Sein Vorbild sind Softwarelösungen, die Polizeibehörden bereits in US- Metropolen einsetzen, um Kriminalitätsvorhersagen für heiße Stadteile zu treffen. Auf Basis dieser Analysen zeigen Polizei und Sicherheitsdienste in den kritischen Bezirken dann gesteigerte Präsenz. Shinn und seine Mitarbeiter bei Predata sind überzeugt, dieses Modell auf terroristische Anschläge übertragen zu können - und somit in der Lage zu sein, aus einem gigantischen Wust an Daten exakt jene Informationen abzuleiten, die rechtzeitig entscheidende Hinweise liefern, ob nun auf Attentate, Generalstreiks, Bürgerkriege oder sonstige sich abzeichnende Krisenherde. Geheimdienste, Polizeibehörden sowie global agierende Unternehmen sind an Shinns Vorhersagen immens interessiert und bereit, eine Menge Geld dafür zu bezahlen.
Wieder einmal ist es das Phänomen Big Data, das den erfolgreichen Blick in die Glaskugel erlauben soll. Predatas Mitarbeiter durchforsten rund um die Uhr das Internet, Social-Media-Kanäle und Wikipedia-Einträge mithilfe sogenannter Scraper-Programme nach ganz bestimmten Signalwörtern. Dabei kann es sich um Ortsnamen oder elektronische Korrespondenz handeln, die Kriegsparteien oder Terrororganisationen nutzen. Von zunehmendem Interesse sind derzeit Diskussionsforen. Dabei geht es den Mitarbeitern von Predata allerdings nicht um Inhalte, sondern um die Intensität, mit der eine Diskussion geführt wird. Ausschlaggebend ist die Masse an Beiträgen. Erreichen diese einen kritischen Schwellenwert, soll die Wahrscheinlichkeit steigen, dass beispielsweise aus einem elektronischen Protest gegen eine Regierung eine echte Demonstration auf der Straße werden kann. Das Virtuelle schwappt sozusagen ins echte Leben über.
Predata als Schlüssel?
Shinns Konzept fußt im Wesentlichen auf der Auswertung sogenannter Open Source Intelligence. Dahinter verbergen sich Daten aus dem Netz, die jedermann zugänglich sind. Das 14-köpfige Team um Shinn wertet jeden Tag mehr als 1000 Twitter-Feeds, 10.000 Wikipedia-Seiten und 50.000 YouTube-Videos aus mehr als 200 Ländern aus. Die Theorie dahinter: Je mehr Menschen im Internet über ein Thema diskutieren und je mehr Informationen es dazu gibt, desto eindeutiger zeichnen sich Spitzen ab. Und genau aus diesen Spitzen möchte Predata künftige Ereignisse in der realen Welt ableiten, und zwar mit 14-tägigem Vorlauf. Aber ist es wirklich so simpel? Kann man Terroranschläge wie in Florida oder Paris vorhersagen und dadurch verhindern?
Stefan Wuchty hält das für möglich, jedenfalls theoretisch. Der Associate Professor am Department of Computer Science der University of Miami und gebürtige Österreicher forscht seit mehr als zwei Jahren an der Möglichkeit, Realtime-Events vorherzusagen. Dazu stellte das amerikanische Verteidigungsministerium ihm und seinem Team, bestehend aus Physikern, Mathematikern, Computerspezialisten und Politikwissenschaftern, einen Berg an Daten zur Verfügung. Diese Daten hatten vor allem mit den Aufständen in Rio de Janeiro im Jahre 2013 zu tun. Die Aufgabe: Wuchty, 1972 in Wien geboren, sollte klären, ob man die Ereignisse mit moderner Technik und raffinierter Mathematik hätte voraussehen können. Und er hatte Erfolg, wenn auch zunächst retrospektiv. Sein Algorithmus erkannte aus dem Vergleich von Online-Gruppen und diversen Zeitstatistiken, dass die Menschen auf die Straße gehen würden.
Wuchtys Interesse war geweckt. Der studierte Biochemiker experimentierte nun vor allem mit Attentaten der IRA und landete irgendwann beim IS. Die Krönung des Ganzen war, dass er das derart gewonnene Wissen schließlich anwandte und tatsächlich einen Angriff vorhersah, den Dschihadisten am 8. September 2014 im syrischen Kobane verübten - ein Beleg für die Gültigkeit seiner Theorien. Genau wie Shinn benutzte Wuchty eine Scraper-Software, die Europas größtes soziales Netzwerk "VKontakte" nach bestimmten Schlüsselwörtern durchsuchte. "Eines war auffällig: Kurz bevor ein sicherheitsrelevantes Event passierte, gab es auf einmal zahlreiche neue Gruppen mit ähnlichen Mitgliedern", sagt Wuchty. Das explosive Wachstum der virtuellen Gruppen stach hervor. Es war demnach nur noch eine Frage der Zeit, bis ein entsprechendes Real-Life-Ereignis eintreten würde. Für Wuchty sind singuläre Erfolge jedoch noch kein Grund für allzu viel Enthusiasmus: Was er und seine Mitarbeiter momentan zuwege brächten, sei nur ein erster Schritt -eine Art Seismograf für geopolitische Zwischenfälle. Wuchty sieht noch keine gänzliche Verlässlichkeit der Prognosen.
Keine Prognose bei Verbrechen von Einzeltätern
Shinn ist da viel euphorischer. Er verkauft Predata schon als Produkt. Aber auch er gibt zu, dass sein System nicht zur Gänze funktioniert. Denn es basiert auf Vorhersagen, die Gruppen betreffen. Bei Verbrechen von Einzeltätern wie beim Terrorangriff von Orlando ist eine Prognose derzeit kaum möglich. Zudem muss ein Ereignis eine Historie aufweisen. Beispiel Paris, Bataclan: Hier gab es bereits vor dem verheerenden Anschlag 13 islamistisch motivierte Attacken auf die Konzerthalle. Nach eigenen Angaben sagte Predata bereits einen Monat vor dem letzten Attentat voraus, dass es mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit einen weiteren Anschlag geben wird. Den Behörden waren diese Berechnungen allerdings wohl doch zu wenig konkret, um im Vorfeld Maßnahmen zu ergreifen.
Wuchty zu den Unterschieden zwischen seinem und Shinns Zugang: "Predata macht Vorhersagen im klassischen Sinn, indem man sich die Posts einzelner Themen ansieht, also die Frequenz von Kommentaren. Wenn die Kommentare zu einem Thema beispielsweise auf Twitter einen Höhepunkt erreichen, liegt ein Event nahe. Unser Ansatz geht davon aus, dass ein Ereignis ansteht, wenn vermehrt Online-Gruppen aus dem Boden schießen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen." Das Problem beim Predata-Prinzip nach Wuchtys Ansicht: "Solche Peaks treten erst dann vermehrt auf, wenn das Event bereits im Gange ist oder aber nur vage Vorhersagen erlaubt."
Doch was, wenn eben keine Gruppen am Werk sind, sondern Einzeltäter? "Nach sogenannten Alone-Wolf-Attacks haben uns Leute gefragt, ob unser Ansatz auch solche vorhersagen kann", berichtet Wuchty. "Obwohl die Antwort ein eindeutiges Nein ist, legen unsere Analysen nahe, dass auch Lone Wolfs in der Regel nicht lange allein sind. Unsere Hypothese ist, dass viele Einzeltäter wahrscheinlich auch Online-Gruppen folgen und sich auf diese Weise radikalisieren." So könnte der Fokus auf Gruppen in manchen Fällen auch hier zielführend sein.
Wuchty schraubt die Erwartungen an exakte Prognosen dennoch vorsorglich lieber ein wenig herunter: "Derzeit stehen wir erst ganz am Anfang, was die Vorhersage von Terroranschlägen oder Kriegen mittels Big Data betrifft. Ich gehe nicht davon aus, dass es in naher Zukunft dazu kommt, derlei Dinge sicher vorherzusagen. Nur wenn sich Terrorzellen im Internet organisieren oder ein Einzeltäter Kontakt zu Gruppen sucht, haben unsere Programme einen Hebel, wo sie ansetzen können."
IBM will Flüchtlinge von Terroristen unterscheiden
Auch der Computerkonzern IBM verfolgt das Ziel, Terrorstrukturen zu erkennen und Bombenattentate zu vereiteln. All das soll die 2011 erworbene Software i2 EIA (Enterprise Insight Analysis) erreichen. Bisher wurde die Software benutzt, um Big-Data-Analysen zu ermöglichen. Doch IBM will i2 EIA weiterentwickelt haben und behauptet sogar, dass die Software nun in der Lage sein soll, etwa echte Flüchtlinge von Terroristen zu unterscheiden, Terrorzellen aufzudecken und drohende Attacken abzuwehren.
Die Software soll aus Reisepasslisten, Presseberichten, Sicherheitsdossiers sowie Informationen aus dem Dark Web Personen filtern, die mit Terroraktivitäten in Verbindung stehen könnten. Anschließend errechnet i2 EIA einen Score-Wert, der den Einzelnen entweder als Flüchtling oder als Terroristen ausweist. Doch damit nicht genug. IBM will sogar Detektiv spielen und Zusammenhänge aufdecken, die den ermittelnden Behörden entgangen sind. In einem Papier formuliert dazu Andrew Borene, bei IBM für strategische Initiativen zuständig: "Nehmen wir Strafzettel für Falschparker. Sammelt ein Verdächtiger viele Strafzettel an einem Ort, beispielsweise vor einer Konzerthalle, können wir annehmen, dass dies ein Ort ist, für den er sich interessiert. Wenn nun noch eine andere Person an diesem Ort in letzter Zeit auffällig viele Strafzettel erhielt, könnte es sich um eine Observierungsaktion handeln, die in Schichten durchgeführt wird. Vielleicht haben diese zwei einen gemeinsamen Twitter-Freund, der als DJ nächsten Monat in dieser Konzerthalle auftritt. Nun müssen wir nur noch wissen, ob es sich beim DJ um einen Komplizen oder ein Anschlagopfer handelt."
Auf moralische Bedenken, wonach solch eine Vorgangsweise viel zu simpel sein könnte, eine Bedrohung für die Privatsphäre Unbescholtener wäre und durch derartige Datenvergleiche irrtümlich völlig Unschuldige ins Visier geraten könnten, geht der Konzern nicht näher ein. IBM vermeldet lediglich, dass man keine Geheimdienstinformationen sammle oder gar Spionage-oder Agententätigkeiten übernehme. Man sehe sich schlicht in der Rolle von Ingenieuren.
Kritiker der Massenüberwachung und des Sammelns von Daten zur Prävention sind freilich generell der Meinung, dass eine digitale Aufrüstung allein noch keine Erfolge garantiere - sondern vielmehr zu einem unüberblickbaren Datenchaos führen könnte. Prominentester Skeptiker ist wohl der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden, der bereits 2015 davor warnte, dass die massenhafte Erfassung von Daten im Kampf gegen den Terrorismus sinnlos sei. Seinem Kenntnisstand nach sei noch kein Anschlag dadurch verhindert worden.