Proteine: Bausteine des Lebens und Geheimnis vieler Krankheiten
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Wie wäre es mit einem simplen Bluttest, der die Anfälligkeit für schwere Krankheiten verrät? Mit einer Laboranalyse, die zeigt, ob man zu Krebs, Alzheimer, Diabetes oder Herzleiden neigt? Solch einen Test beschrieben Forschende im vergangenen August im Fachjournal „Nature Medicine“. Die Untersuchung könne das Risiko für 18 chronische Erkrankungen angeben, und zwar auf Basis von Proteinen, also
Eiweißstoffen. Die Messung von 204 Proteinen soll diese Bestimmung erlauben, wobei 20 davon besonders aussagekräftig seien, darunter Elastin, Kollagen sowie Proteine, die das Immunsystem und Hormone regulieren.
Noch geht es hier um Grundlagenforschung. Doch sie demonstriert, welche Bedeutung Proteinen zukommt. Es handelt sich schlicht um die Grundbausteine allen Lebens. Die Gene beinhalten zwar die Baupläne des Lebens, doch erst deren Übersetzung in Proteine bringt einen Organismus zum Funktionieren.
So gut wie alles an und in unserem Körper besteht aus diesen Biomolekülen: Wir brauchen Kollagen, um Knochen und Haut zu bilden, und Keratin, damit Haare wachsen. Der Blutfarbstoff Hämoglobin basiert ebenso auf Proteinen wie unsere Muskelfasern. Für den Schlafsand in den Augen ist das antibakteriell wirkende Eiweiß Lysozym mitverantwortlich. Und wenn das Immunsystem Antikörper in den Kampf gegen Viren schickt, sendet es eine Protein-Armee ins molekulare Gefecht.
Gleichzeitig tragen Proteine aber auch Schuld an gravierenden Erkrankungen. Ein einziger ausgetauschter Baustein im Hämoglobin genügt, um Sichelzellanämie auszulösen, eine genetisch bedingte Form der Blutarmut. Die Alzheimer-Krankheit entsteht, wenn sich im Gehirn Proteine ablagern und Plaques bilden.
Fehlerhafte Proteine sind auch für die Nervenkrankheit Creutzfeldt-Jakob verantwortlich – und für den Rinderwahn BSE, der vor drei Jahrzehnten beim Menschen zu einer neuen Variante von Creutzfeldt-Jakob führte. Wenn Allergiker von Niesanfällen geplagt werden, sind Pollenproteine die Übeltäter. Und wenn das Coronavirus in unseren Körper eindringt, gelingt ihm das Manöver mithilfe seines Spike-Proteins auf der Virusoberfläche.
Auch tödliche Gifte bestehen aus Proteinen
Allerlei unangenehme Eiweißverbindungen hält auch die Tierwelt bereit: Ob Schlangen-, Spinnen-, Skorpion- oder Bakteriengifte – all diese Substanzen bestehen aus einer Mischung aus Proteinen. Latrotoxin, das Gift der Schwarzen Witwe, attackiert das Nervensystem, und das Bakterientoxin Botox ist nichts anderes als Eiweiß, das Muskeln lähmt.
Alles Leben auf dem Planeten hängt somit auf vielfache Weise von Proteinen ab. Daher müht sich die Wissenschaft seit Langem, das gigantische Universum der Proteine, das sogenannte Proteom, zu katalogisieren und zu verstehen – Abermillionen von Eiweißstoffen, die samt und sonders aus einem recht spärlichen Bausatz von nur 20 Aminosäuren kombiniert sind. Die Entschlüsselung dieses Mikrokosmos war über Jahrzehnte ein äußerst zähes Unterfangen. Aber vor wenigen Jahren entwickelten Forschende einen Turbo.
© Getty Images/Dan Kitwood/Getty Images
Google DeepMind Employees Share 2024 Nobel Prize In Chemistry
John Jumper und Demis Hassabis
Die beiden Chemie-Nobelpreisträger schufen mit der Künstlichen Intelligenz AlphaFold ein leistungsstarkes Werkzeug für die Vorhersage der dreidimensionalen Strukturen von Proteinen.
Er ermöglichte derart enorme Fortschritte, dass dafür soeben der Nobelpreis für Chemie vergeben wurde: an den Briten Demis Hassabis, 48, Neurowissenschafter und ehemals Programmierer von Computerspielen, sowie an den Amerikaner John Jumper, 39, Mathematiker und Physiker.
Die beiden Ausgezeichneten sind nicht nur untypisch jung, eine Novität ist auch, dass sie (wie auch die heurigen Physikpreisträger) die Ehrung für die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz bekamen: für AlphaFold, jenes leistungsfähige Werkzeug, das der Proteinforschung einen gewaltigen Schub verlieh. Er hoffe, meinte Hassabis nach der Bekanntgabe der Preisträger, dass AlphaFold im Rückblick „als erster Beleg für das unglaubliche Potenzial von KI bei der Beschleunigung wissenschaftlicher Entdeckungen“ betrachtet werde.
Der dritte Preisträger, der 62-jährige David Baker, verdankt den berühmten Anruf aus Stockholm dem Design künstlicher Proteine.
© Getty Images/Alika Jenner/Getty Images
University of Washington Professor Computational Biologist David Baker Awarded The Nobel Prize In Chemistry
Nobelpreisträger David Baker
Der heuer ausgezeichnete Wissenschafter stellte erstmals Proteine her, die in der Natur bisher nicht vorkamen.
Die drei Wissenschafter erweiterten das Verständnis von Proteinen, deren „Potenzial als chemische Bausteine des Lebens kaum überschätzt werden“ könne, wie die Royal Swedish Academy of Sciences urteilte. Dabei ist die Bedeutung dieser Eiweißstoffe seit Langem bekannt: Bereits im 19. Jahrhundert wussten Chemiker, dass sie wichtig für alle Prozesse des Lebens sind. Doch erst in den 1950er-Jahren gelang es, sie sichtbar zu machen – und zwar dem Österreicher Max Perutz, der nach der Machtübernahme der Nazis nicht im Land bleiben konnte und im britischen Cambridge forschte. Mit einer Methode namens Röntgen-Kristallografie ermöglichte Perutz erstmals Einblicke in das Innere von Proteinen: in eine fantastische, teils bizarr wirkende dreidimensionale Welt vielfach gewundener Schleifen und Fäden, die wirkt wie ein abstraktes Kunstwerk.
Max Perutz
Dem Österreicher gelang es, die Strukturen von Proteinen erstmals sichtbar zu machen und erhielt dafür einen Nobelpreis.
Derart enthüllte Perutz, der 1962 einen Chemie-Nobelpreis erhielt, die Struktur des Muskelproteins Myoglobin und jene von Hämoglobin. All die dreidimensionalen Schlaufen und Knäuel, Faltungen genannt, sind entscheidend für die Funktion eines Proteins. Die Aminosäuren, aus denen sie bestehen, sind stets dieselben, bloß in unterschiedlich langen Ketten angeordnet. Erst durch die Faltung erhält ein Protein seine Aufgabe und seine Funktion – und fehlerhafte Faltungen können für die Entstehung von Leiden wie BSE verantwortlich sein.
200 Millionen auf einen Streich
Es gibt bloß 20 Aminosäuren, doch sie können eine schier unendliche Zahl dreidimensionaler Strukturen bewirken. Eine kurze Kette von nur 100 Aminosäuren – viele Proteine besitzen 200 bis 300 – kann 1047 verschiedene dreidimensionale Strukturen hervorbringen. Das ist eine Eins mit 47 Nullen. Wie sollten Forscher dieses Ausmaß jemals bewältigen und die unfassbar große Zahl an Proteinen ergründen? Sie begannen, mithilfe verschiedener Techniken ein Protein nach dem anderen zu entschlüsseln. Mit etwas Glück schafften sie anfangs ein paar pro Jahr, später einige 100 im Monat, und nach rund 60 Jahren beinhalteten die Datenbanken die Strukturen von knapp 200.000 Proteinen.
Dann kam AlphaFold. Und knackte in kürzester Zeit mehr als 200 Millionen. In der sonst für Superlative nicht sehr empfänglichen Wissenschaftsgemeinde sprach man von einer Sensation.
Ihren Ausgang nahm diese bei einem Wettbewerb, der ausgerichtet worden war, um das Protein-Problem zu lösen. Seit 1994 treten Forschende alle zwei Jahre gegeneinander an und bestimmen auf Basis von Aminosäuresequenzen die 3D-Strukturen von Proteinen. Im Jahr 2018 nahm Demis Hassabis daran teil, der bereits Jahre zuvor die KI-Firma DeepMind gegründet hatte, die heute zu Google gehört. Hassabis schickte die Software AlphaFold ins Rennen – und gewann den Bewerb, weil die Vorhersagen deutlich präziser waren als jene der Konkurrenz.
Eine KI wird zum heißesten Thema der Biochemie
Zufrieden war er trotzdem nicht. Gemeinsam mit John Jumper verbesserte er das System, und 2020 lancierten die beiden den Nachfolger AlphaFold2. Ein Jahr später stellten die Wissenschafter ihre Kreation der gesamten Fachwelt frei zur Verfügung – und Forschende rund um den Globus begannen, Proteinstrukturen zu bestimmen und im Internet zu veröffentlichen.
Als das Potenzial von AlphaFold evident wurde, geriet die Proteinanalyse per KI zum heißesten Thema der Biochemie. „Es war wirklich sehr beeindruckend“, berichtet Christian Becker, Professor am Institut für Biologische Chemie der Universität Wien.
Das Potenzial der Proteine als chemische Bausteine des Lebens kann kaum überschätzt werden.
Kein Wunder, dass bald auch der Facebook-Konzern Meta in den Ring stieg, eine eigene KI präsentierte und ankündigte, rund 600 Millionen Proteine von Bakterien, Viren und anderen Mikroben bestimmt zu haben. Was die Frage aufwirft: Wie viele Proteine gibt es eigentlich? „Das lässt sich schwer beantworten“, sagt Becker. „Wir kennen ja nicht einmal die Zahl aller Spezies auf dem Planeten.“
Das Geheimnis der Mustererkennung
Die künstlichen Intelligenzen basieren auf einem Wissen, das bis in die 1960er-Jahre zurückreicht: Damals postulierte der Biochemiker und spätere Nobelpreisträger Christian Anfinsen, dass die dreidimensionale Struktur von Proteinen allein durch die Aminosäuresequenz definiert wird. Wer weiß, wie die Kette aus Aminosäuren für einen Eiweißstoff aussieht, kann daraus die 3D-Form des Proteins ableiten – die Voraussetzung für das Verständnis von dessen Funktion.
Nun sind die Sequenzen einer Vielzahl von Proteinen längst bekannt und in Datenbanken abgespeichert. Doch diese theoretischen Baupläne mussten gleichsam erst mit Leben erfüllt werden, indem man ihre 3D-Struktur ermittelte.
Bei diesem Job war Artificial Intelligence unschlagbar: Die Forschenden fütterten AlphaFold zu Trainingszwecken mit einer Unmenge Aminosäuresequenzen sowie mit bisher gleichsam von Hand entschlüsselten 3D-Strukturen. Das war der Lernstoff für die Systeme, sie brachten sich allmählich bei, bisher erworbenes Wissen mittels Mustererkennung zur Vorhersage beliebiger Zahlen anderer Proteine anzuwenden.
Und im Gegensatz zum Menschen benötigten sie bloß Sekunden zur Bestimmung neuer Eiweißverbindungen, sodass die Datenbank rasant wuchs. Im Moment weist die wichtigste Proteindatenbank UniProt 248,838.887 Einträge aus – fast 250 Millionen Proteinstrukturen von rund einer Million Lebewesen.
Die Suche nach Proteinen, die Krankheiten auslösen
Vor ziemlich genau einem Jahr folgte die nächste Innovation. Sie dient nicht mehr nur dem Befüllen digitaler Bibliotheken, sondern soll sich Krankheiten auf die Spur heften: Die KI AlphaMissense ist dazu gedacht, Mutationen in den Aminosäuresequenzen all der inzwischen bekannten Proteine auf ihre Bedeutung für genetische Krankheiten zu prüfen.
Man weiß zum Beispiel, dass genetische Leiden wie die Sichelzellanämie – bedingt durch die erwähnte Hämoglobin-Mutation – durch solche Fehler im Erbgut ausgelöst werden. Doch es sind in Summe mehr als 70 Millionen ähnliche Mutationen bekannt. Wie viele davon verursachen genetische Erkrankungen? Und welche? Bei der Beantwortung dieser für eine Medizin der Zukunft zentralen Fragen könnte, so die Hoffnung, AlphaMissense helfen.
Die Proteinforschung ist gerade im Begriff, sich von der Inventur möglichst aller Eiweißstoffe der belebten Welt zu konkreten Anwendungen zu bewegen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete David Baker, der dritte Chemie-Nobelpreisträger 2024. An der University of Washington ersann er zunächst Möglichkeiten, AlphaFold quasi umzukehren: Seine Software Rosetta rechnete Proteinstrukturen retour zur Aminosäuresequenz.
In einem zweiten Schritt erlaubte dies, die Kette der Aminosäuren zu verändern – und komplett neue Proteine herzustellen, die bisher in der Natur nicht existierten. Was Baker betreibt, ist Protein-Engineering: das Design maßgeschneiderter Eiweißstoffe.
Grippeschutz durch Proteine
Als künftiges Anwendungsgebiet kommt vor allem die Medizin infrage: Die meisten Medikamente wirken im Körper, indem sie an bestimmte Proteine binden. Bakers Team arbeitet unter anderem an einem Nasenspray auf Basis künstlicher Proteine, der Grippeviren daran hindern soll, an die Nasenschleimhaut anzudocken, und der dazu gedacht ist, Infektionen zu verhindern. Designer-Proteine könnten aber beispielsweise auch dazu dienen, im Wege enzymatischer Reaktionen Plastik abzubauen – ein Vorhaben, dem schon länger großer Nutzen beigemessen wird, um die Müllberge zu reduzieren.
Die Suche nach neuen Wirkstoffen ist aber sicher das Hauptziel der Proteinforscher – getrieben von der Vision einer neuartigen, auf der Auswertung gigantischer Datenmengen beruhenden Medizin. Die jüngste Variante von AlphaFold, im vergangenen Mai präsentiert, zielt darauf ab, all die bereits katalogisierten Proteine im Hinblick auf Wechselwirkungen mit anderen Molekülen abzugleichen. Denn im Grunde funktioniert die Mehrzahl aller Medikamente nach diesem Prinzip: Schmerzmittel etwa blockieren Proteine, die an der Schmerzweiterleitung beteiligt sind.
Ein unendlicher Reichtum an Wirkstoffen
Die Hoffnung ist, in Zukunft auf einen schier endlosen Reichtum an Wirkmechanismen zu stoßen. Um welche Dimension es geht, schätzte ein US-Biotech-Unternehmen im Vorjahr ab: Rund 36 Milliarden potenzielle Wirkstoffkomponenten könnten mit mehr als 15.000 menschlichen Proteinen interagieren. Daraus ergäbe sich – theoretisch – eine Fülle an möglichen Präparaten, die womöglich selbst leistungsfähigste KI-Werkzeuge nur mit Mühe ausloten können.
Allerdings dürfe man bereits jetzt anerkennen, so die Royal Swedish Academy, dass wir heute schon ein erweitertes Verständnis darüber errungen haben, „wie das Leben funktioniert und wie sich manche Krankheiten entwickeln“. Und das sei alles andere als ein kleiner Schritt.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft