Pseudowissenschaft: Wenn Forscher haarsträubenden Unsinn verbreiten
Der Aufschrei der Empörung kam so zuverlässig, als hätte man ihn bestellt. "Glatte Fehleinschätzung", schnaubte der Wiener Gynäkologe Christian Fiala Ende November via Presseaussendung. Ein anerkannter Arzt werde von einer Jury "ohne nennenswerte Wissenschaftskompetenz" lächerlich gemacht. Und weil das bei manchen Zeitgenossen immer gut ankommt, erhielt die Protestnote eine Prise Verschwörungstheorie: "Wird Kampagne von Industrie gesponsert?"
Was war geschehen? Fiala sprang für seinen Kollegen Johannes Huber in die Bresche, ebenfalls Gynäkologe, Hormonspezialist, langjähriger Professor am Wiener AKH und einst Leiter der Bioethikkommission. Ausgerechnet diese Koryphäe war für einen Schmähpreis nominiert worden: das "Goldene Brett (vorm Kopf)", eine alljährlich vergebene Trophäe für den größten antiwissenschaftlichen Unsinn des Jahres (Der Autor des vorliegenden Textes hielt bei der Preisverleihung die Laudatio auf Johannes Huber). Prämiert wird, wer sich im abgelaufenen Jahr redlich bemühte, aus einer reichen Auswahl von Proponenten hervorzustechen, die nicht nur lupenreinen Unsinn produziert, sondern sich auch als dauerhaft resistent gegen jede Form der Einsicht erwiesen haben.
Die von Fiala verachtete Jury besteht aus Wissenschaftern, die in der "Gesellschaft für kritisches Denken" organisiert sind und sich der Vernunft verpflichtet fühlen. Gute Chancen auf die Goldene Himbeere der Wissenschaft hat, wer Lichtnahrung für eine brauchbare Diät hält, Geistheilung als sinnvolle Therapie betrachtet, feinstoffliche Empfindungen nicht allein auf das Tragen von Textilien beschränkt, Wasser ein Gedächtnis zubilligt oder generell hartnäckig Widerstand gegen die Wirklichkeit leistet.
Wenn Wissenschafter abdriften
Bemerkenswert ist, dass sich nicht nur Wünschelrutengeher, Chemtrail-Phobiker und Erfinder fantastischer Energiemaschinen dank unermüdlichen Einsatzes für die Auszeichnung empfehlen, sondern immer wieder Wissenschafter - akademisch gebildete und vermeintlich im rationalen Denken verankerte Menschen, von denen man annimmt, dass sie eher den Methoden solider, überprüfbarer Forschung zuneigen als krass abwegigen Gedankengebäuden, die mit den Naturgesetzen auf Kriegsfuß stehen. Doch manchmal propagieren just Mediziner, Physiker oder Biologen, was sie kraft ihrer Expertise unterbinden sollten: wilde Spekulation statt faktisch fundierter Äußerungen, mystische Ahnungen statt logisch geknüpfter Argumente, glatte Leugnung leicht belegbarer Tatsachen statt kundige Erläuterung von gesicherten Erkenntnissen aus Evolution, Kosmologie oder Anatomie.
Bisherige Preisträger des Goldenen Bretts stehen exemplarisch für dieses irritierende Phänomen: Ryke Geerd Hamer, ein berüchtigter, heuer verstorbener Arzt, der Krebs für ein sinnvolles biologisches Programm hielt und eine ernsthafte Gefahr für todkranke Menschen darstellte, die seinen Lehren anhingen; oder der Deutsche Stefan Lanka, der - ausgerechnet als Molekularbiologe - bestreitet, dass Keime wie das Masernvirus nachgewiesen seien.
Huber-Verteidiger Christian Fiala hat zwar noch keine Nominierung in der Tasche, manche Wortspenden kommen jedoch durchaus als Bewerbung in Betracht. So sieht er eine "endlose Anzahl von Widersprüchen" im Zusammenhang mit HIV-Infektionen, spricht von einer "angeblichen Ebola-Epidemie" und bringt die Einreise von Notfallhelfern in die Ebola-Gebiete mit Erdölinteressen in Verbindung.
Fiala stand aber nicht nur seinem österreichischen Fachkollegen bei, sondern auch gleich einem zweiten dieses Jahr für das Goldene Brett Nominierten: Andrew Wakefield, Pionier der Impfgegnerszene. Der britische Mediziner setzte durch eine grob fehlerhafte Studie das Gerücht in Umlauf, dass Impfungen Autismus begünstigten. Der Artikel wurde zwar vom Fachjournal "The Lancet" zurückgezogen; es stellte sich heraus, dass Wakefield Geld von Anwälten erhalten hatte, die Familien autistischer Kinder vertraten, und er erhielt Berufsverbot. Doch die Mär vom Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus ist unausrottbar, und Wakefield wird von seinen Fans wie ein Guru verehrt. Seit dem Vorjahr geht er mit dem Film "Vaxxed" hausieren, der von Robert De Niro persönlich aus einem Festivalprogramm gekippt wurde. Was meint nun Fiala? Er empfiehlt das Machwerk als ein Stück Aufdeckungsjournalismus.
Schutzengel-Forschung
Kommen wir aber zu Johannes Huber - genauer: ProfessorDoktorDoktor Johannes Huber, denn niemals wird auf die Nennung aller Titel verzichtet, um sogleich jedermann angesichts des vollen akademischen Gewichts dieser Kapazität in Ehrfurcht verstummen zu lassen. Einen Doktor hat Huber in Medizin, den anderen in Theologie, wobei man sich des Verdachts nicht erwehren kann, dass seine Tätigkeit zuletzt eher von letzterer Disziplin inspiriert ist. Huber hat Bücher geschrieben, die "Es existiert" oder "Der holistische Mensch" heißen. Worum es darin geht? Schwer zu sagen - irgendwie um alles und nichts zugleich. Dafür zündet Huber ein Dauerfeuer von Begriffen, das jeden Leiter eines Quantenheilerseminars vor Neid erblassen ließe: Herzensbildung. Energie. Schwingungen. Karma. Wünsche ans Universum. Das Übersinnliche. Schutzengel.
Richtig: Schutzengel. Huber hält dieses Konzept für plausibel. Privat oder aus wissenschaftlichen Gründen? Seine Unterstützer sind in diesem Punkt uneins. "Dass er persönlich an Schutzengel glaubt, mag zwar befremden, ist aber irrelevant", spielt Fiala neuerlich auf die Reputation an, die jede noch so schrullige Äußerung überwiege. In denkwürdigem Kontrast dazu steht der Kommentar von Hubers Verleger, der sich ebenfalls umgehend beschwerte: eine Frechheit, Herrn Prof. DDr. als "Hormonpapst, der an Schutzengel glaubt", zu verunglimpfen. Denn niemals würde er eine "derart persönliche Aussage treffen". Vielmehr lege er dar, dass es "aufgrund moderner Forschung wissenschaftlich legitim geworden ist, an die Existenz von Schutzengeln zu glauben".
Man ist versucht zu fragen: Wie jetzt?
Schlagen wir bei Huber selbst nach. Wie knallhart sein Forschungsansatz ist, erkennt man an der Häufigkeit, mit welcher er Begriffe wie "möglicherweise","wahrscheinlich" oder "Es könnte sein" verwendet. Solcherart abgesichert, postuliert er, dass Astronomie zur "Jenseitsforschung" werde und gemeinsam mit Quantenphysik (auf die man bei Exkursionen in die Esoterik nie verzichten sollte, weil sie spirituell klingt und ohnehin kaum jemand versteht) verblüffende Parallelen zwischen der Welt der Engel und der Teilchenphysik aufzeige. Hubers Argumentationskette ist so eingängig wie bestechend: "Photonen sind Lichtquanten. Engel sind Lichtgestalten. Engel sind ewig, Photonen sind zeitlos. Photonen sind die Engel der Physik, und beide sind Vermittler der Transzendenz."
Der Weg zu dieser originellen Theorie führt über eine halsbrecherische Aneinanderreihung richtiger, halbrichtiger und falscher Behauptungen, wobei Huber Banalitäten zum Mirakel erhebt, fundierte Studienergebnisse in räumlicher Nähe zu vagen Andeutungen parkt und diesen Brei so lange verrührt, bis schließlich eine durchschlagende Erkenntnis herauskommt: Es gibt Dinge, die wir nicht erklären können. Kurz: "Es existiert." Ein Satz, der im gleichnamigen Buch gefühlte 93 Mal vorkommt.
Von Däniken-Logik
Für jene, die noch immer nicht ganz überzeugt sind, zückt Huber seine schärfste Waffe: "Keine Beweise zu haben, dass etwas existiert, ist noch längst kein Beweis, dass es nicht existiert." Damit könnte sich Erich von Däniken bestimmt auch anfreunden, und derart ließe sich sogar eine Invasion rosaroter Aliens begründen.
Natürlich wurde das Buch zum Bestseller.
Dennoch gab es vereinzelt kritische Stimmen, etwa einen Rezensenten, der Huber "grobe Mängel im physikalischen Wissen" attestierte. Das war sehr höflich formuliert. Denn in den seltenen Fällen, in denen Huber die Grundlagen echter Naturwissenschaft streift, werden die Erörterungen schnell zum Totalschaden, etwa wenn es heißt, dass Rinder mittels CO2 Löcher in die Atmosphäre schlagen.
Doch nicht nur Huber ist nicht ganz trittfest in Klimaforschung. Auch der Mathematiker Rudolf Taschner, heuer von der ÖVP an Bord geholt, äußerte wiederholt Ansichten zur Erderwärmung, die gesicherten Erkenntnissen heftig widersprechen. Die Klimakatastrophe sei abgesagt, meinte Taschner zum Beispiel - bei dem ganzen alarmistischen Gerede handle es sich bloß um Geschäftemacherei.
Nun könnte man einwenden: Das mag zwar alles Unfug sein und Hubers Begeisterung für Jenseitiges oder für Menschen, die mit der Kraft ihrer Gedanken angeblich Löffel verbiegen können (was nicht einmal mehr Uri Geller behauptet), hochgradig absurd - aber immer noch harmlos verglichen mit den Umtrieben eines Ryke Geerd Hamer oder Andrew Wakefield. Natürlich sind die Lehren dieser Herrschaften bedenklicher als Hubers angewandte Schutzengelforschung. Und Letztere wiederum sind deutlich skurriler als zum Beispiel manche Wortmeldung von Herbert Pietschmann. Doch auch dieser Physiker, einer der frühen populären Wissenserklärer Österreichs, erweckt in Büchern wie "Mythos Urknall" den Eindruck, dass man sich je nach Gusto aussuchen kann, welchen Mechanismen die Natur gehorcht. Vielleicht war es ja als anregender Debattenbeitrag gemeint, doch muss Pietschmann klar sein, welche Botschaft ankommt, wenn es im Klappentext heißt: "Wir sind nicht die Einzigen, die die Urknall-Theorie näher am Mythos als an der Naturwissenschaft sehen." Im Gedächtnis vieler Menschen bleibt: Selbst ein Physiker sagt, dass es Ansichtssache ist, wie man sich die Entstehung des Universums vorstellt.
Naturgesetze keine persönliche Meinung
Das ist es aber nicht, und hier landen wir beim verbindenden Element sämtlicher Fälle: Ob die Naturgesetze gelten, ist keine Frage der persönlichen Meinung oder der Weltanschauung. Prinzipien wie Evolution, Quantenmechanik oder Gravitation lassen sich nicht verhandeln, sie existieren unabhängig von uns Menschen, und wir können lediglich versuchen, annäherungsweise zu verstehen, wie sie funktionieren. Den Wissenschaftern kommt dabei eine zentrale Rolle zu, und wenn es um die Geheimnisse der Natur geht, hat ihr Wort besonderes Gewicht. Es muss ihnen bewusst sein, dass man aufgrund ihrer Ausbildung und Kompetenz davon ausgeht, dass sie ihre Aussagen wohl überlegen, mit Fachwissen unterfüttern und keine haltlosen Mutmaßungen anstellen.
Es ist nicht dasselbe, ob Lotte Ingrisch über ihre Unterhaltungen mit Verstorbenen plaudert oder Johannes Huber seine Einfälle über Gemeinsamkeiten von kosmischer Hintergrundstrahlung und "höchsten Himmelsregionen" zu Papier bringt. Es ist ebensowenig dasselbe, ob sich ein selbst ernanntes Medium über Telepathie verbreitert oder ein Forscher wie Rupert Sheldrake. Der britische Biologie will mit Experimenten übersinnliche Fähigkeiten von Menschen und Tieren belegen, indem er etwa darüber berichtet, dass Hunde auf wundersame Weise ahnen, wenn Herrchen nach Hause kommt. Die Kollegen schütteln den Kopf darüber, doch Sheldrake erntet öffentliche Aufmerksamkeit. Und für Laien stehen dann seine obskuren "morphogenetischen Felder" mehr oder minder gleichberechtigt neben vielfach kritisch geprüften Erkenntnissen aus der Neurologie. Immerhin handelt es sich in beiden Fällen um Wissenschafter.
Von Wissenschaftern darf man faktengestützte, belastbare Argumente erwarten. Außerdem nimmt man an, dass Akademiker auch dann, wenn sie sich zu fachfremden Themen äußern, die gleiche inhaltliche Sorgfalt walten lassen wie in ihrem Kerngebiet, also nicht auf einmal Unsinn ohne sachliche Erdung erzählen. Wenn jemand als Mathematiker den Umgang mit Zahlen beherrscht, vermutet man nicht, dass er sich zum Klimawandel auf Stammtischniveau äußert. Und wenn jemand Hormonspezialist ist, vertrauen ihm viele Menschen auch, wenn er Querverbindungen zwischen Photonen und Engeln herstellt.
Wenn aber Wissenschafter aus dieser stillen Vereinbarung ausscheren, quasi die Qualitätsgarantie missachten, hat das unangenehme Folgen. Die Grenzen zwischen verlässlichem Wissen, auf das man wichtige Entscheidungen gründen kann (zum Beispiel in Bezug auf konkrete Maßnahmen gegen den Klimawandel), und purem Quatsch werden fahrlässig verwischt. Die Beurteilungsmaßstäbe verblassen, das Bewusstsein schwindet, dass nicht alles im Leben Geschmacks-oder Ansichtssache ist. Es schleicht sich die Überzeugung in die Köpfe, dass jede beliebige Erklärung über die Beschaffenheit der Welt zulässig sei und jede wilde Fantasie ebenso akzeptabel wie kontrollierte Experimente, dass jeder nach Herzenslust alles in Zweifel ziehen oder behaupten dürfe, was gerade zu seiner Befindlichkeit passt.
Es ist wie ein akademisch abgesegneter Freibrief für den Aberglauben.
Forscher und ihre Regeln
Der Haupteinwand dagegen lautet stets: Ja, aber was ist mit Einstein, was mit Galileo? Wurden nicht die klügsten Köpfe der Menschheit einst angefeindet oder verlacht, und standen ihre Thesen nicht im Widerspruch zur damals gültigen Weltsicht? Und wurde nicht die Urknalltheorie zunächst mit dem Begriff "Big Bang" verspottet? Der Einwand verfängt nicht, denn alle großen Forscher hielten sich an gewisse Regeln. Einstein entwarf ein neues Konzept von Raum und Zeit, aber er bezog sich direkt auf seine Vorgänger, schrieb deren Einsichten fort, ergänzte, erweiterte und korrigierte deren Annahmen auf nachvollziehbare Weise. So verstörend seine Überlegungen anfangs erscheinen mochten, er führte mathematische Beweise, die überprüfbar waren und gegebenenfalls widerlegt hätten werden können.
Große Wissenschafter mögen Denkmäler ihrer Disziplinen von Thron stoßen und anerkanntes Wissen aushebeln, doch sie bewegen sich dabei innerhalb eines genormten Korsetts, verwenden geeichte Werkzeuge ihrer Fächer, sprechen und zanken mit Kollegen und auch Kritikern in derselben Sprache, betten neue, gängigen Erkenntnissen zuwiderlaufende Ideen immer in einen Konsensrahmen ein. Nie stellen sie sich einfach hin und postulieren wie aus dem Nichts die Existenz von rosa Aliens. Das ist der Unterschied zwischen streit-und fehlbarer Wissenschaft und blankem Nonsens.
Warum aber weichen manche von ihnen von diesem Weg ab? Geht es um Publicity? Bestimmt ist es attraktiv, das Medizinlabor einmal gegen das Studio einer TV-Talkshow zu tauschen, und in Letzteres wird man gewiss eher eingeladen, wenn man über Schutzengelphysik statt über Moleküle doziert. Oder wollen manche Wissenschafter etwas Großes, Bleibendes hinterlassen, über die nüchternen Grenzen ihres Fachs mit einem allumfassenden Gedankengebäude hinauswachsen und verlieren dabei die Bodenhaftung? Dafür spricht, dass es sich häufig um ältere Männer handelt, die irgendwann abdriften. Ein beinahe legendäres Beispiel dafür ist der Chemienobelpreisträger Linus Pauling, der sich in späten Jahren in die Vorstellung verrannte, Unmengen von Vitamin C würden gegen Krebs helfen.
Vielleicht tritt bisweilen aber auch eine Sonderform des Dunning-Kruger-Effekts ein. Dieser bezeichnet grundsätzlich den Umstand, dass dumme Menschen im Regelfall ihre Fähigkeiten als besonders hoch einschätzen, während kluge Geister eher zu Bescheidenheit in Bezug auf ihre Leistungen neigen. Womöglich sind manche Wissenschafter für einen Spezialfall dieses Effekts anfällig, quasi auf hohem Niveau: Weil sie auf ihren angestammten Gebieten mit viel Hirnschmalz Herausragendes vollbracht haben, sind sie so überzeugt von sich, dass sie mit beeindruckender Selbstsicherheit irgendwann auch groben Unfug absondern -kraft ihrer Reputation aber kaum mehr mit einem Korrektiv konfrontiert sind.
Die Yale University gab 2003 einen Sammelband zum Thema heraus - Titel: "Why smart people can be so stupid".