Psychiatrische Störungen: Was ist normal?
Von Tina Goebel, Sebastian Hofer und Salomea Krobath
Im Nachhinein betrachtet war es wohl eine Art Burnout oder Lebenskrise. Es kam viel zusammen, im Job und privat, aber Marion K. wollte weiter funktionieren. Sie entschied sich für eine psychiatrische Behandlung. Als die Kärntnerin im vergangenen Juni trotz angstlösender Medikamente eine Panikattacke erlitt, nahm sie aus Frustration eine zusätzliche Tablette und spülte diese mit Alkohol hinunter. Einer Freundin erzählte K., sie wisse nicht mehr weiter und würde am liebsten ausbluten. Die Freundin alarmierte einen Arzt. Dann geriet der Fall K. aus dem Ruder.
Krankheitsuneinsichtige Patientin
Eine Ärztin erkundigte sich, ob K. freiwillig zur Behandlung bleiben wolle. Die noch immer berauschte Frau bestand darauf, nach Hause zu ihren beiden Kindern zu wollen. Diesen Wunsch bereut K. bis heute. Als krankheitsuneinsichtige Patientin wurde Marion K. im Fixationsbett auf die geschlossene Abteilung überstellt und musste in der Folge feststellen, dass der Weg hinaus verbaut war. Durch regelmäßige Medikamentenverabreichung blieb sie in einem ständigen Dämmerzustand. Ihre Traurigkeit wurde als Instabilität interpretiert, patziges Verhalten gegenüber den Pflegerinnen als Anpassungsstörung und der Wunsch, nach Hause zu gehen, als Krankheitsuneinsichtigkeit. Wenn man drinnen ist, ist man in der Schiene. Keiner schaut einen mehr von einer anderen Seite an, sagt sie heute. Erst nach acht Tagen in der geschlossenen Anstalt konnte K.s Psychiater ihre Verlegung auf eine offene Station und schließlich ihre Entlassung durchsetzen. Bis heute laboriert K. an der traumatischen Episode.
Was ist "normal"?
Der Fall berührt eine alte Grundangst des Menschen: urplötzlich verrückt zu werden oder, noch schlimmer: für verrückt erklärt zu werden. Die Angst ist nicht immer ganz unberechtigt. Die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Störung verläuft unscharf. Auf welcher Seite man landet, wird auch von Umständen und Zufällen bestimmt. Marion K. ist fraglos ein Ausnahmefall. Die Gefahr, mit einer falschen Diagnose in eine psychiatrische Krankenhausabteilung eingewiesen zu werden, ist extrem gering, sagt Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie an der Uniklinik Wien. Irren kann man sich grundsätzlich bei jeder Diagnose, so wie sich auch der Hausarzt irren kann. Aber es passiert sehr selten. Zudem werden Diagnosen bei Unterbringungen innerhalb kürzester Zeit auch von Gerichtsgutachtern überprüft. Dabei kommt es kaum je zu Abweichungen von der Erstdiagnose.
Zweifellos herrscht in der modernen Psychiatrie keine fahrlässige Willkür, und unbestritten sind die dunklen Zeiten der freihändigen psychiatrischen Zwangseinweisung lange vorbei. Unbestritten bleibt aber auch die Tatsache, dass eine gewisse Uneindeutigkeit zum Wesen des Fachs gehört. Germain Weber, Dekan der Fakultät für Psychologie an der Uni Wien: Psychologie und Psychiatrie verwenden zwar naturwissenschaftliche Methoden, können deshalb aber noch nicht mit den exakten Naturwissenschaften gleichgesetzt werden. Ihre Befunde sind zu einem gewissen Grad immer auch gesellschaftlich geprägt. Sprich: Was eine Gesellschaft für normal hält, bleibt verhandelbar, Störungen sind relativ. Im engeren Sinn der psychiatrischen Diagnostik liegt es in der Verantwortung des einzelnen Arztes oder Gutachters, die Symptome seiner Patienten zu deuten. Es gibt keinen Labortest für Bindungsstörungen, kein Depressionsmessgerät.
Diese Ungewissheit überschattet freilich nicht nur Extremfälle wie jenen von Marion K. Auch diesseits der geschlossenen Anstalt werden psychische Störungen zu einer wachsenden Belastung und einige Fragen damit immer virulenter: Steckt wirklich hinter jeder Burnout-Diagnose eine Erschöpfungsdepression? Muss jedes Kind mit ADHS-Symptomen auch pharmakologisch behandelt werden? Und, noch grundlegender: Werden ungewöhnliche, nicht-alltägliche Verhaltensweisen und Charakterzüge sogar unnötig pathologisiert? Wenn ja: von wem? Wer zieht die Grenze?
Der Hamburger Medizinphilosoph Thomas Schramme beschäftigt sich seit Jahren mit diesen Fragen. Er meint: Ganz pragmatisch lässt sich sagen, dass die solidarisch finanzierte Behandlung einer Erkrankung nur nach einer Diagnose möglich ist. Die Diagnose ist die Eintrittskarte, und zweifellos sollen Menschen, die leiden, mit solidarischer Hilfe rechnen können. Die Frage bleibt, ob diese Hilfe eine medizinische sein muss ...
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