Elterliche Fürsorge ist weniger gefragt, bleibt aber essenziell für das Erwachsenwerden.
Wissenschaft
Pubertät: „Solange hauptsächlich die Eltern leiden, ist es o.k.“
Die Familientherapeutin Romy Winter über Wutausbrüche, das richtige Maß an Regeln und Freiheiten für Pubertierende – und wie man mit Teenagern am besten über Sex spricht.
Sie haben selbst zwei Teenager zu Hause. Ist man als Therapeutin besser gewappnet für pubertäre Ausbrüche?
Romy Winter
Dass die Pubertät bei uns eingezogen ist, merkte ich, als mein damals zwölfjähriger Sohn vor versammelter Verwandtschaft vom Geburtstagstisch aufsprang, „du kannst mich mal!“ schrie und in sein Zimmer stampfte. Mein Vergehen: Ich hatte ihn in einem Nebensatz an eine Französisch-Klassenarbeit erinnert. Alle schauten mich erwartungsvoll an. Was wird die Therapeutin jetzt tun?
Wie haben Sie reagiert?
Winter
Als Therapeutin weiß ich, dass sich Kinder und Jugendliche erst einmal beruhigen müssen. Die Klärung kann erst später kommen, wenn die Wut verraucht ist. Also blieb ich sitzen, auch wenn es mir sehr unangenehm war. Nach zehn Minuten ging ich zu ihm und sagte ihm, dass er jederzeit wieder zu uns kommen könne und nicht aus Scham in seinem Zimmer hocken muss.
Ich erkläre Eltern und Jugendlichen vereinfacht, was im Gehirn passiert: Jeder Mensch hat dort viele Trupps an Bauarbeitern, die sich um die Abläufe kümmern. Beim Umbau des Gehirns in der Pubertät werden die Trupps manchmal von einer Stelle an eine andere versetzt. Das ist, als wären Teile des Gehirns abgesperrt; sie funktionieren eine gewisse Zeit lang nicht mehr so gut. Zum Beispiel die Impulskontrolle, die Fähigkeit, Konsequenzen abzuschätzen, oder auch die Dopaminausschüttung. Das Gehirn gleicht während der Pubertät einer chaotischen Großbaustelle.
Auch das Belohnungszentrum im Gehirn funktioniert nur eingeschränkt. Ist das die Ursache für Depressionen bei Teenagern?
Winter
Gemütsverstimmungen sind zunächst eine völlig normale Begleiterscheinung der Pubertät. Während des Makeovers im Gehirn verschwinden einige Dopaminrezeptoren. Dopamin ist jener Botenstoff, der Vorfreude auslöst und uns motiviert. Dazu kommt eine Abnahme der Serotoninausschüttung – ebenfalls ein Glückshormon. Jugendliche werden also weniger mit positiven Gefühlen belohnt, was bedeutet, dass sie extremere Reize brauchen, um ein ähnliches Niveau an Freude zu empfinden wie Erwachsene. Die Aufforderung „Lach doch mal“ ist da wenig hilfreich.
Zu signalisieren, dass es okay ist, wenn man sich vorübergehend schlecht fühlt. Und zu erklären, was gerade in ihrem Gehirn los ist. Meine aktuell zwölfjährige Tochter fragte mich kürzlich, ob ich wisse, warum sie in letzter Zeit immer so down sei. Ich erklärte ihr stark vereinfacht, dass in ihrer „Glücksfabrik“ im Gehirn gerade weniger Arbeiter sind, weil sie woanders gebraucht werden. Das nahm ihr das Gefühl, mit ihr stimme etwas nicht. Ich sagte ihr, sie könne immer zu mir kommen, wenn sie reden will – oder wenn sie zusammen mit mir schlecht drauf sein will.
Ab wann muss man sich denn Sorgen machen?
Winter
Solange hauptsächlich wir Eltern leiden, ist es okay. Ein Alarmzeichen ist, wenn auch die Kinder selbst sehr leiden und selbst Dinge, die ihnen sonst immer Spaß gemacht haben, keine Freude mehr bringen. Wenn das ein, zwei Wochen der Fall ist, würde ich mir keine Sorgen machen, wenn es aber Monate andauert, würde ich das abklären lassen.
Das Selbstwertgefühl von Jugendlichen gleicht einer Achterbahn, mal ist es völlig übersteuert, manchmal total am Boden. Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, eine allgemeingültige Linie dahinter?
Winter
Die Entwicklung des Selbstwertgefühls verläuft wie ein U. Am Anfang der Pubertät nimmt es typischerweise ab, den Tiefpunkt erreicht es etwa im Alter von zwölf, 13 Jahren und steigt dann meistens wieder an. Die Kinder erleben sich mit der Zeit zunehmend kompetenter, selbstwirksamer, unabhängiger und weniger emotionsgesteuert.
Eine der Hauptaufgaben in der Pubertät ist es, sich von den Eltern zu lösen. Muss man sich Sorgen machen, wenn Kinder so gar nicht rebellieren?
Winter
Nicht automatisch. Es gibt Kinder, die näher an den Eltern dranbleiben und sich trotzdem gut lösen können, zum Beispiel viel mit ihren Freunden unterwegs sind. Näher hinschauen würde ich, wenn das Ablösen mit sehr viel Zurückhaltung oder gar Ängsten behaftet ist. Da würde ich nachsehen, ob die Eltern auch zulassen, dass der Teenager autonomer wird.
Haben Sie einen Tipp für Eltern, denen es schwerfällt, ihre Kinder loszulassen?
Winter
Zuerst sollte man sich fragen: Wo kommt meine Angst her? Ist es Angst um das Kind? Oder ist es die Angst vor der Leere, wenn das Kind plötzlich nicht mehr so viel Fürsorge braucht? Diese Ängste sind normal, aber sie dürfen die Kinder nicht behindern. Es ist die Entwicklungsaufgabe der Eltern, die Leere wieder zu füllen. Der Tipp, den ich vielen Eltern immer wieder gebe: Versteht es als Kompliment, wenn die Kinder flügge werden! Kinder können sich nur raus in die Welt wagen, wenn sie einen sicheren Hafen haben.
Was Teenager wirklich brauchen: bedürfnisorientiert durch die Pubertät. Kösel, 254 S., EUR 20,60
Man mutiert plötzlich zum Telefonjoker, der nur noch gebraucht wird, wenn’s brennt.
Winter
Das stimmt, und auch ich bin dann oft versucht zu sagen: Ich habe dich ja gewarnt. Man sollte sich in solchen Situationen aber möglichst zurückhalten mit der Moralkeule. Denn das sind oft die einzigen Situationen, in denen die Jugendlichen überhaupt noch kommen und uns brauchen.
Die Jugendlichen sind zwar frühreif, aber spät sexuell aktiv wie nie: Die meisten haben ihr erstes Mal mit 17 aufwärts. Wie erklären Sie sich das?
Winter
Einerseits ist der Umgang mit Sexualität heute offener denn je, auch offener als in der Zeit, in der ich Teenager war. Durch die Enttabuisierung ist der Reiz des Verbotenen weniger groß. Außerdem geht es in der Pubertät ja nicht nur um die sexuelle Reifung, sondern auch um eine hormonelle Umstellung, die auch auf vielen anderen Ebenen stattfindet.
Viele Eltern fragen sich: Sollten sie über das erste Mal ihres Kindes Bescheid wissen? Und wie sehr sollten sie es darauf vorbereiten?
Winter
Wir sollten unsere Kinder durchaus darauf vorbereiten. Es gibt Aufklärung in der Schule, im Freundeskreis, in sozialen Medien – aber wir kennen deren Qualität nicht. Mein Mann und ich haben unseren Kindern zum Beispiel angekündigt, dass wir ein Gespräch führen wollen – und sie über den Rahmen entscheiden lassen: wann und wo sie darüber sprechen wollen, beim Spazierengehen oder beim Eisessen. Beim Gespräch selbst haben wir immer wieder gefragt, ob es okay ist, über dies oder jenes zu sprechen. Es gibt auch Kinder, denen es extrem unangenehm ist, mit ihren Eltern über Sexualität zu sprechen. Dann würde ich versuchen, jemanden im Umfeld zu finden, dem sie vertrauen. Und lieber zwei, drei kurze Gespräche führen als ein langes, das die Kinder total überlädt.
In Ihrem Haus sind alle Freundinnen und Freunde der Kinder willkommen. Was können Eltern tun, wenn sie befürchten, ein Freund sei kein guter Umgang?
Winter
Auch meine Kinder bringen manchmal Freunde nach Hause, mit denen ich mich eher nicht treffen würde. Dann rufe ich mir ins Bewusstsein, dass sich Teenager oft Freunde aussuchen, die ganz anders sind als die Eltern. Auch das gehört zum Ablösungsprozess. Außerdem kann man ihnen den Umgang schlecht verbieten; die Kinder würden sich dann einfach woanders treffen. Da ist es mir lieber, sie sind bei uns. Und häufig schwindet die Skepsis, wenn man die Freunde näher kennenlernt.
Manche Eltern wollen lieber beste Freunde ihrer Teenies sein anstatt Reibebaum. Was halten Sie davon?
Winter
Ich kann den Impuls verstehen, und in gewissen Bereichen ist eine Kumpel-Ebene sicher möglich, etwa beim Sport oder beim Musikhören. Aber eine gleichwertige Freundschaft ist unmöglich. Als Mutter muss ich unpopuläre Entscheidungen treffen können.
Teenager suchen sich oft Freundinnen aus, die ganz anders sind als ihre Eltern. Auch das gehört zum Ablöseprozess.
Brauchen Teenager noch Regeln?
Winter
Auf jeden Fall. Regeln geben Struktur und Orientierung in einer Zeit, in der sie ohnehin oft völlig orientierungslos sind. Man kann mit ihnen wunderbar gemeinsam Regeln entwickeln. Man kann sie fragen: Das ist uns wichtig, was ist dir wichtig, wie können wir da eine gemeinsame Lösung finden?
Welche Aufgaben können Teenager im Alltag übernehmen?
Winter
Grundsätzlich gilt: Mehr als wir denken. Eltern neigen heute dazu, die Fähigkeiten ihrer Kinder etwa beim Medienkonsum zu überschätzen – und in anderen Bereichen zu unterschätzen. Es ist durchaus anstrengend, einem lustlosen Teenager Aufgaben im Haushalt zu geben, die dieser dann ungründlich erfüllt. Aber wir wollen ja, dass sie Verantwortung übernehmen.
Auch Teenager sollten nicht unbegrenzt an Handy, Tablet oder Konsole hängen.
Manche Kinder werden zu richtigen Monstern, wenn man ihnen das Tablet aus der Hand nimmt. Sie nennen das postdigitale Regulationsstörung. Wie können Eltern dem begegnen?
Winter
Da hilft es, die Bildschirmzeit klar zu begrenzen und deren Ende vorher anzukündigen, anstatt einfach das Handy wegzunehmen. Ein Alternativangebot, etwa gemeinsam etwas zu machen, hilft vor dem Loch, das sich vor manchen Kindern nach der Bildschirmzeit auftut.
Sie empfehlen wie viele Expertinnen eine Faustregel: 13-Jährige sollten 13 Stunden Bildschirmzeit pro Woche bekommen, 14-Jährige 14 und so weiter. Aber ist das nicht unrealistisch wenig?
Winter
Einer Studie der deutschen Krankenkasse DAK zufolge verbringen Kinder im Schnitt zehn Stunden am Tag vor Bildschirmen. Die Richtwerte sind tatsächlich sehr gering im Vergleich zur Realität. Aber sie bieten eine gute Orientierung. Wir verhandeln die Bildschirmzeit mit unseren Kindern, die natürlich argumentieren, ihre Freunde dürften viel mehr spielen. Am Ende kommt meistens mehr heraus als empfohlen, aber immerhin weniger, als sich im Alltag eingeschlichen hat.
Australien hat gerade soziale Medien wie TikTok, Instagram, Snapchat und Facebook für Kinder unter 16 verboten. WhatsApp und YouTube bleiben erlaubt. Was halten Sie davon?
Winter
Ich finde es gut. Es ist erwiesen, dass Kindern auf diesen Plattformen Inhalte geboten werden, für die sie viel zu jung sind. Außerdem gibt es auch im Kino Altersgrenzen, darüber regt sich kaum jemand auf.
Sie sagen, die Pubertät werde viel zu sehr dramatisiert, manchmal sogar katastrophisiert. Wie kann man sie entspannter sehen?
Winter
Statistisch gesehen übersteht der Großteil der Jugendlichen die Pubertät sehr gut. Ja, es kann wild werden, aber es gilt dasselbe Mantra wie in Babyzeiten: Alles ist nur eine Phase.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.