Pubertätsforschung: Wie Teenager-Gehirne funktionieren
Die Neurowissenschafterin und Psychologin Sarah-Jayne Blakemore erforscht seit 20 Jahren die Gehirne von Teenagern. Ihre Vorträge beginnt sie stets mit dem Tagebucheintrag einer Jugendlichen vom 20. Juli 1969:
„Ich ging ins Kunstzentrum (allein) in gelben Cordhosen und einer Bluse. Ian war auch da, aber er sprach nicht einmal mit mir. Jemand steckte mir ein Gedicht in die Handtasche, er steht offensichtlich auf mich. Es war Nicholas, glaube ich. UAH. Ein Mann landete auf dem Mond.“
Es ist ein eindrucksvolles, kaum gealtertes Beispiel, wie die Gehirne von Teenagern funktionieren. Die Pubertät sei eine „einzigartige Periode biologischer, psychologischer und sozialer Entwicklung, in der es vor allem darum geht, die eigene Identität zu finden“, sagt Blakemore. Im Vergleich dazu ist die Tatsache, dass Neil Armstrong erstmals den Erdtrabanten betrat, eine Bagatelle.
Als Studentin in den 1990er-Jahren hatte Blakemore gelernt, dass die Entwicklung des Gehirns noch während der Kindheit so gut wie abgeschlossen werde. Ein gewaltiger Irrtum, wie wir heute dank der Neurowissenschaft – und dank Blakemores eigener Studien – wissen.
Vielmehr ähnelt das Gehirn im Alter zwischen zwölf und 24 einer chaotischen Großbaustelle. Zudem fluten Hormone Körper und Gehirn. Was aber bewirkt das alles im Alltag der Teenager und jungen Erwachsenen? Die Abläufe bei der Entwicklung des Gehirns können vieles erklären, vor dem sich Eltern fürchten: Wutausbrüche, Draufgängertum, Rebellion, Depression. Die Pubertät werde viel zu oft dramatisiert, manchmal sogar „katastrophisiert“, sagt die Familientherapeutin Romy Winter, die gerade ein kluges Buch darüber veröffentlicht hat, im profil-Interview. Neurowissenschafterin Blakemore sieht das ähnlich: „Heranwachsende werden wie kaum eine andere Gruppe von der Gesellschaft dämonisiert. Wenn ich zum Beispiel über meine Arbeit zum Teenager-Gehirn etwas twittere, kommen immer Reaktionen wie: ‚Was? Teenager haben ein Gehirn?‘“
Die Pubertät kommt immer früher
Dorschs Lexikon der Psychologie definiert die Pubertät folgendermaßen: „Sie beschreibt die umfassende Umgestaltung biologischer und physischer Funktionen des Menschen mit dem Ziel der körperlichen bzw. sexuellen Geschlechtsreife.“ Dieser Prozess beginnt immer früher; bei Mädchen in westlichen Ländern aktuell durchschnittlich mit elf, bei Burschen mit 13 Jahren. Das ist früher als bei allen Generationen davor: Seit den 1970er-Jahren sank der Pubertätsbeginn pro Jahrzehnt um drei Monate, während der Coronapandemie sogar noch stärker. Warum ist das so? Eine endgültige Erklärung dafür gibt es nicht, wahrscheinlich gibt es mehrere Gründe. Einerseits sind die körperlichen Grundbedürfnisse in unserer Wohlstandsgesellschaft so gut erfüllt, dass eine frühere Geschlechtsreife möglich ist. Eine weitere Ursache ist das auch unter Kindern grassierende Übergewicht, das während der Pandemie durch den Bewegungsmangel im Homeschooling noch weiter zunahm; denn der im Fettgewebe entstehende Botenstoff Leptin treibt die Pubertät voran. Außerdem stehen Umweltbelastung, Fleischkonsum und Nahrungsmittelzusätze unter Verdacht, den Schub in Richtung sexueller Reife zu befeuern.
Der Umbau vom kindlichen zum erwachsenen Gehirn verläuft in den verschiedenen Arealen unterschiedlich schnell. Während die für Wahrnehmung, Orientierung, Bewegungskontrolle und Sprache verantwortlichen Areale recht schnell ähnlich gut funktionieren wie bei Erwachsenen, dauert es beim limbischen System und beim präfrontalen Cortex länger. Das limbische System ist maßgeblich für Emotionsverarbeitung, soziale Interaktionen und Impulskontrolle verantwortlich – also Fähigkeiten, für die Teenager eher nicht berühmt sind. „Das heißt, wir dürfen in dieser Zeit Geduld und Verständnis haben“, sagt Therapeutin Winter. Der präfrontale Cortex wiederum ist, sehr vereinfacht ausgedrückt, der Sitz der Vernunft. Dort werden Konsequenzen abgeschätzt, längerfristige Projekte geplant, Risiken berechnet. Lauter Dinge, die ebenfalls nicht zu den herausragenden Eigenschaften von Jugendlichen gehören.
Riskofaktor Autofahren
Statistisch gesehen ist eine der größten Gefahren, die Jugendlichen droht, ein selbst verschuldeter Verkehrsunfall. Dabei spielt nicht nur die erhöhte Risikobereitschaft eine Rolle, sondern auch der Gruppendruck. Studien zeigten: Je mehr Freundinnen und Freunde im Wagen sitzen, desto gefährlicher wird es. Nimmt eine junge Autofahrerin eine Person mit, steigt das Risiko für einen Unfall um etwa 50 Prozent. Zwei Mitfahrer erhöhen das Risiko auf knapp 100 Prozent, drei auf 300 Prozent. In manchen Regionen Australiens und Kanadas dürfen Jugendliche deshalb im ersten Jahr, nachdem sie den Führerschein gemacht haben, nachts nur noch einen Passagier unter 21 Jahren mitnehmen. In New South Wales, Australien, halbierte sich dadurch die Zahl der Unfälle.
Der enorme Einfluss, den Jugendliche aufeinander haben, kann auch sinnvoll eingesetzt werden. Deutlich machte das ein Anti-Mobbing-Experiment an 56 Mittelschulen im US-Bundesstaat New Jersey. Elizabeth Levy Paluck von der Princeton University teilte die Schulen in zwei Hälften: Die einen bekamen das übliche Anti-Mobbing-Programm von ihren Lehrerinnen serviert, in den anderen sollten Teenager die Kampagnen führen. Wer dafür infrage kam, entschieden die Jugendlichen indirekt ebenfalls selbst. Paluck ließ alle 24.191 Schülerinnen und Schüler in einem Fragebogen jene zehn Mitschüler nominieren, mit denen sie am liebsten Zeit verbrachten: in der Schule, außerhalb oder online. Sie erstellte ein soziales Netzwerk für jede Schule, eruierte die 30 am besten vernetzten Teenager und lud sie zu freiwilligen Workshops ein.
Über ein Jahr hinweg führten die Jugendlichen dann ihre eigenen Kampagnen, die allesamt unter dem von Paluck gewählten Titel „Roots“ (Wurzeln) liefen und eine Bewegung von unten signalisieren sollten. Die Teenager malten Poster, verteilten T-Shirts und bunte Armbänder mit selbst gewählten Sprüchen, zum Beispiel für Streitschlichterinnen: „Eine Roots-Schülerin hat dich bei etwas Großartigem erwischt“. Zudem posteten sie ihre Botschaften in sozialen Medien. Ergebnis: Im Vergleich zu den Kontrollschulen sanken die Berichte über Konflikte unter den Schülern um 30 Prozent. „Mobbing lässt sich am besten eindämmen, wenn die Jugendlichen selbst als Botschafterinnen fungieren“, schreibt Forscherin Paluck in der Studie.
Die kollektiv ausgewählten, einflussreichsten Teenager waren übrigens nicht automatisch die beliebteste Cheerleaderin oder der talentierte Quarterback; Paluck fand allerdings einige Gemeinsamkeiten unter ihnen: Viele hatten ältere Geschwister, die meisten waren bereits in einer festen Partnerschaft und kamen aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status. „Diese Faktoren dürften sie zu geschickten Kommunikatoren machen“, erklärt Paluck.
Pickel im Scheinwerferlicht
Der US-Kinderpsychologe David Elkind widmete sich einem Phänomen, das wohl jeder aus seiner eigenen Pubertät kennt: dem Jugend-Egozentrismus. Zum Zweck der Selbstfindung beschäftigen sich Teenager so intensiv mit sich selbst, dass alles andere um sie herum verblasst – sogar Neil Armstrong auf dem Mond. Elkind geht davon aus, dass sich die Jugendlichen schwertun, zwischen den eigenen, permanent um sich selbst kreisenden Gedanken und den Gedanken anderer Menschen zu unterscheiden. Das führt dazu, dass sie sich ständig von einem „imaginären Publikum“ beobachtet fühlen. All ihre Handlungen, Gefühle, Gedanken und sogar jeder Pickel werden aus ihrer Sicht von der Umgebung ebenso intensiv beäugt wie von ihnen selbst. Das erklärt, warum Jugendlichen einfach alles peinlich ist – und wie sich kleinste Pannen zu riesigen Dramen auswachsen können.
Der Sinn der Selbstüberschätzung
Zum Jugend-Egozentrismus gehört noch ein weiterer Effekt, den Elkind „die persönliche Fabel“ nennt. Teenager haben ein ausgeprägtes Gefühl der eigenen Andersartigkeit; sie glauben, ihr Denken, ihre Emotionen, ihre Erfahrungen und Probleme würden sich grundlegend von jenen anderer Menschen unterscheiden. Sie fühlen sich deshalb oft unverstanden und allein. „Man fühlt sich wie ein Eremit, umgeben von lauter Misanthropen. Hier wird erneut deutlich, dass Liebe und Verständnis tatsächlich auch in der Pubertät oft die Antwort sind, egal wie die Frage lautet“, sagt Familientherapeutin Romy Winter.
„Die persönliche Fabel“ mündet oft in Weltschmerz und Selbstmitleid – sie kann aber auch das genaue Gegenteil bewirken: Selbstüberschätzung. Diese hat entwicklungspsychologisch durchaus ihre Berechtigung, auch wenn sie für die Umgebung oft anstrengend ist, wie Winter erklärt. „Jugendliche brauchen Phasen überschießender Energie, Euphorie und Größenfantasien für ihren Ablöseprozess. Das Gefühl, immer mehr Fähigkeiten, immer größere Möglichkeiten und einen größeren Handlungsspielraum zu besitzen, ist ja essenziell, wenn man selbstständig werden soll. Die häufig damit einhergehende Selbstüberschätzung ist Energiequelle und Mutmacher zugleich.“