Die größte und leistungsstärkste Digitalkamera der Welt hat die Dimensionen eines Kleinwagens und eine Auflösung von 3200 Megapixel. Per Frachtflugzeug und Lastwagen-Konvoi gelangten die Komponenten des Vera-C.-Rubin-Observatoriums über holprige Straßen an ihren Bestimmungsort: auf den knapp 2700 Meter hohen Berg Cerro Pachón in Chile.
Derzeit laufen finale Tests, in den kommenden Monaten soll das neuartige Teleskop den Betrieb aufnehmen und in der zweiten Jahreshälfte erste Bildserien des Nachthimmels liefern. „The greatest movie of the Universe“ verspricht die Website des Observatoriums. Astronomen erwarten bisher unerreicht präzise Einblicke in den Kosmos: Aufnahmen von explodierenden Sternen, erdnahen Asteroiden und fernen Galaxien. Außerdem soll das Teleskop nach einem geheimnisvollen Objekt suchen, das vorerst nur in der Theorie existiert: Nach Planet 9, manchmal auch Planet X genannt.
Das neuartige Teleskop besitzt die größte Digitalkamera der Welt und soll spektakuläre Bilder von Supernovae, erdnahen Asteroiden und vielleicht auch vom rätselhaften Planeten neun liefern.
Dahinter steht eine Idee, die zunächst ziemlich abwegig klingt: Ist es denkbar, dass sich in unserem Sonnensystem, gleichsam im eigenen Hinterhof, ein bisher unentdeckter Planet verbirgt, ein Planet Nummer 9? Eine Reihe von Forschenden hält dessen Existenz für durchaus plausibel, basierend auf Phänomenen der Himmelsmechanik sowie auf Simulationen. Doch direkt beobachtet hat den mysteriösen Planeten noch niemand. Das neue Vera-C.-Rubin-Observatorium, so die Hoffnung, könnte nun den Nachweis liefern – oder aber die Existenz eines solchen Himmelskörpers endgültig ausschließen.
Die wahre Größe des Sonnensystems
Aber ist nicht allein der Gedanke absurd, dass, nach kosmischen Maßstäben, in unmittelbarer Nähe ein unbekannter Himmelskörper die Sonne umrunden soll? Und zwar nicht bloß ein unscheinbarer Steinbrocken, sondern ein Planet, vermutlich annähernd von Neptun-Größe? Immerhin können wir heute Exoplaneten in Hunderten Lichtjahren Entfernung nachweisen und sogar die dortigen Wetterbedingungen ermitteln – und dann wäre ein Planet im eigenen Sonnensystem bisher nicht aufgefallen?
Bei näherer Betrachtung ist die Vorstellung keineswegs so seltsam, und das ist das eigentlich Spannende an der Suche nach Planet 9: Sie führt vor Augen, welch gigantische Dimensionen und weitgehend unerforschte Bereiche unser Sonnensystem aufweist – und dass es nicht annähernd bei den üblicherweise angenommenen Grenzen endet, bei den finsteren, eisigen Welten von Neptun und Pluto. Jenseits der Orbits dieser Himmelskörper liegt vieles buchstäblich im Dunkeln. „Es könnte gut sein, dass wir längst nicht so viel über unser Sonnensystem wissen, wie wir dachten“, konstatiert das Fachmagazin „Scientific American“.
Es könnte gut sein, dass wir längst nicht so viel über unser Sonnensystem wissen, wie wir dachten.
Wissenschaftsmagazin „Scientific American“.
Zudem ist dieses Wissen keineswegs stabil, sondern ständig Änderungen unterworfen. Die längste Zeit kannte man nur jene Planeten, die mit freiem Auge oder kleinen Teleskopen leicht sichtbar sind: Merkur, Venus, Mars sowie jenseits des Asteroidengürtels Jupiter und Saturn. Im Jahr 1781 entdeckte der britische Astronom William Herschel eher zufällig den Planeten Uranus. Als man dessen Bahn untersuchte, zeigte sich, dass sie durch Schwerkrafteinflüsse gestört wird. Es musste dort draußen noch ein weiteres großes Objekt sein, dessen Gravitation auf Uranus wirkte. 1846 fand der deutsche Astronom Johann Gottfried Galle den großen Gasplaneten Neptun, ziemlich genau dort, wo er den Kalkulationen des französischen Himmelsmechanikers Urbain Le Verrier zufolge sein sollte. Der bläulich erscheinende Neptun, 17 Mal schwerer als die Erde, ist der äußerste bekannte Planet unseres Sonnensystems und benötigt für einen Umlauf um die Sonne fast 165 Jahre.
Doch die Suche ging weiter. Denn wieder führten Bahnberechnungen, diesmal von Neptun, zur Vermutung, dass es noch weitere Planeten geben könnte. Im Jahr 1930 landete der junge Astronom Clyde Tombaugh einen Treffer: Er fand, anders als erwartet, einen kleinen Himmelskörper, leichter als der Erdmond. Man taufte ihn Pluto, reihte ihn in die Planetenfamilie ein – und degradierte ihn später wieder: Vor knapp 20 Jahren entzog ihm die Internationale Astronomische Union den Planetenstatus, sehr zum Leidwesen vieler Fans. Der Grund dafür sollte beinahe unmittelbar mit der Existenz eines Planeten 9 verknüpft sein.
Vorerst jedoch machten Forschende weitere Entdeckungen. Zum Beispiel fragten sie sich, woher bestimmte Arten von Kometen kommen mochten. Zu Beginn der 1950er-Jahre postulierte der holländische Astronom Gerard Kuiper eine dichte Ansammlung solcher Gesteinsbrocken, die außerhalb der Bahnen von Neptun und Pluto liege. Beobachtungen belegten tatsächlich solch eine Zone, in der Zehntausende Asteroiden und andere Bruchstücke aus der Frühzeit des Sonnensystems umherschwirren, heute Kuiper-Gürtel genannt.
Der degradierte Planet
Mit der Zeit gelang es, immer mehr dieser sogenannten transneptunischen Objekte aufzuspüren und näher zu studieren. Pluto fällt nach aktueller Definition ebenso in diese Gruppe wie Eris, ein Zwergplanet, der in Bezug auf die Größe gut dessen Zwilling sein könnte, aber um knapp ein Drittel schwerer ist. Wie sollte man mit diesen neuen Erkenntnissen umgehen? Sollte man nun der Reihe nach immer weitere Planeten ins Sonnensystem aufnehmen? Die Entdeckung des Orbits von Eris, die vor genau 20 Jahren einem Team um Mike Brown vom California Institute of Technology glückte, führte zum gegenteiligen Entschluss: Man stufte auch Pluto zum Zwergplaneten herab.
Diese Entscheidung brachte Brown den scherzhaften Vorwurf ein, während andere Astronomen neue Planeten entdeckt hätten, sei er der einzige Wissenschafter, der einen solchen zerstört habe. Und seine damals zehnjährige Tochter meinte: Er müsse jetzt eben einen anderen Planeten finden. Seit damals sucht Brown nach Planet Nummer 9.
Das seltsamste aller Objekte
Doch zuvor ging ihm, zusammen mit den Kollegen Chadwick Trujillo und David Rabinowitz, Sedna ins Netz. Und Sedna war sehr, sehr seltsam: Zum Zeitpunkt der Entdeckung 2004 war Sedna, ebenfalls ein Zwergplanet, das am weitesten entfernte Objekt in unserem Sonnensystem. Es kommt unserer Sonne nie näher als 76 Astronomische Einheiten, ein gängiges Maß für kosmische Distanzen, wobei eine Astronomische Einheit (AE) den mittleren Abstand zwischen Erde und Sonne angibt: rund 150 Millionen Kilometer. Auf seiner Bahn entfernt sich Sedna bis zu 1000 Astronomische Einheiten von der Sonne.
Allein dies zeigt, dass es sich um einen äußerst merkwürdigen Orbit handelt, um eine elliptische und stark exzentrische Bahn um die Sonne, für die Sedna 13.600 Jahre benötigt, was erneut erahnen lässt, wie weit draußen im All sich dieser Himmelskörper befindet. Deshalb hat man bei der Taufe dieser Objekte noch einen Gang zugelegt: Sie heißen nicht mehr transneptunisch, sondern „extreme trans-Neptunian objects“, kurz ETNOs.
Niemand hätte je gedacht, dass so etwas existieren könnte. Und niemand hatte eine Erklärung, wie Sedna dorthin gekommen sein könnte.
Chadwick Trujillo, Astronom
Besonders eindrucksvoll erscheinen die Distanzen, wenn man sie auf einer Grafik veranschaulicht (siehe Seiten 54 und 55): Dann tritt deutlich zutage, wie mickrig unser Sonnensystem mit den üblicherweise angenommenen Grenzen bis zu Neptun und Pluto im Vergleich zu Sedna wirkt. Extrem ist aber nicht nur das Ausmaß des Orbits, sondern auch dessen Orientierung in Relation zur Ekliptik, zur Bahnebene der bekannten Planeten. Sedna fügt sich nicht in diese Ebene ein, seine Bahn ist, gemessen an der Ekliptik, um rund 20 Grad gekippt.
Es scheint gleichsam, als wäre Sedna nirgendwo am Himmel verankert, als handle es sich um ein Objekt ohne Bezug zu anderen Himmelskörpern. „Niemand hätte je gedacht, dass so etwas existieren könnte“, staunte Mitentdecker Trujillo. „Und niemand hatte eine Erklärung, wie Sedna dorthin gekommen sein könnte.“
Sedna blieb nicht das einzige dieser seltsamen Objekte. Brown, Trujillo und ihre Kollegen fanden noch weitere davon auf ähnlich ungewöhnlichen Bahnen, rund ein Dutzend davon bis heute. Sie alle wirken, als wären sie durch eine geheimnisvolle Kraft ein gutes Stück von der Sonne versetzt und würden durch einen anderen Einfluss gelenkt. Bloß: durch welchen? Es lag eine ähnliche Annahme nahe wie jene, die zur Entdeckung von Neptun geführt hatte: Ein verstecktes, großes, massereiches Objekt muss mächtig gravitative Wirkung entfalten und Sedna und weitere Kleinplaneten auf ihre exzentrischen Bahnen zwingen – ein Planet, der nun statt Pluto die Nummer 9 tragen würde.
Der Steckbrief von Planet X
Auf dessen Beschaffenheit kann nur indirekt geschlossen werden auf Basis der Effekte, die er hervorruft. Den gängigen Berechnungen zufolge müsste es sich um einen Eisriesen handeln, ein Stück kleiner als Neptun. Er hätte ungefähr fünf bis zehn Erdmassen, besäße einen Kern aus Gestein und Eisen und würde circa zur anderen Hälfte aus Wassereis bestehen. Seine mittlere Entfernung zur Sonne beziffern manche Astronomen mit um die 700 Astronomischen Einheiten, also 700 Mal die Distanz zwischen Erde und Sonne. Ein Umlauf um unser Zentralgestirn würde vermutlich an die 15.000 Jahre dauern.
Doch wenn Planet X tatsächlich existiert – wie ist er an seine weit entfernte, seltsame Position geraten, die auch die Bahnen anderer exotischer Himmelskörper dirigiert? Entstand er in dieser fernen Nische des Kosmos? Oder migrierte er aufgrund von Umwälzungen im Sonnensystem über Jahrmillionen dorthin? Sicher ist, dass die Konstruktionsphase des Sonnensystems eine raue und chaotische Zeit war, verbunden mit heftigem Rangieren und Karambolagen von Himmelskörpern. Manche Planeten wanderten weiter nach draußen, Jupiter rückte nach innen, Uranus und Neptun tauschten die Plätze, Bauschutt der Planetenentstehung wurde weit ins All geschleudert oder aber weiter nach innen und überzog auch die Erde mit einem Asteroidenhagel.
Wurde auch der ominöse Planet 9 damals an seinen Platz verwiesen? Möglich, aber es gibt auch andere Szenarien, genau wie für die exzentrischen Bahnen von Sedna und anderen ETNOs. Doch viele Forschende meinen auf Basis von Simulationsmodellen, dass ein noch unentdeckter Planet die Orbits am besten erklären könne.
Mit dem neuen Observatorium in Chile sollen die bisher großartigsten Bilder des Universums gelingen. Astronomen hoffen, damit endgültig die Existenz von Planet neun zu beweisen - oder aber auszuschließen.
Warum aber hat ihn bisher niemand erspäht? Weil er sehr weit weg ist; weil es draußen in diesem fernen Winkel des Sonnensystems enorm finster ist; weil man nicht nach einem einzelnen mysteriösen Objekt im sonst leeren All fahndet, sondern jenseits von Neptun und Pluto eine dichte Wolke von ungezählten Steinbrocken umherschwirrt. Mehr als 4000 Objekte im Kuiper-Gürtel konnten bisher identifiziert werden. Das Licht im Hintergrund flackernder Sterne erschwert die Suche nach einem fahlen Planeten am Rande des Sonnensystems zusätzlich.
Die Hoffnungen der Astronominnen und Astronomen ruhen nun auf dem Vera-C.-Rubin-Observatorium, das manche für den „idealen Planetenjäger“ halten. Bereits nach einem Jahr, wenn das Teleskop samt der Erde einmal die Sonne umrundet hat, könnten wir wissen, ob Planet 9 real ist oder nicht. Falls ja, hätte Mike Brown endlich Gelegenheit, seiner Tochter eine freudige Nachricht mitzubringen.