Raumfahrt-Simulation: Wie österreichische Forschende eine Mars-Mission proben
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Den Notfall probt man am Besten gegen Ende der Mission, nämlich dann, wenn sich Routine eingeschlichen hat. In dieser Phase sehen sich die Astronauten plötzlich mit einer heiklen Situation konfrontiert: abrupter Sauerstoffabfall im Raumanzug. Die Luft reicht noch für 24 Minuten. Zugleich verlangt die Missionszentrale von der Crew, komplexe mathematische Aufgaben zu lösen, um das Problem rechtzeitig zu beheben: Formeln mit Brüchen, Potenzen und Klammerausdrücken. Sinn der Übung ist zu testen, wie das Team bei Stress reagiert. Kann es knifflige Probleme unter Zeitdruck mit simplen Mitteln bewältigen? Und wie effizient kooperiert es dabei? Behalten die Leute die Nerven?
Solche Fragestellungen zählen zu den Programmpunkten eines Projekts, das vom Österreichischen Weltraum Forum organisiert und soeben abgeschlossen wurde. Dieses Projekt trug den Namen „Amadee-24“ und verfolgte den Zweck, eine humane Erkundung des Mars zu simulieren. „Analog-Mission“ heißt ein derartiges Experiment, das die Erforschung eines fremden Himmelskörpers auf der Erde nachbildet. Als Ersatz für den Mars dienten die schroffen Steinwüsten der Region Ararat im Südwesten Armeniens, das „Mission Support Center“ befand sich in einem schmucklosen Firmengebäude im zwölften Bezirk in Wien. Hier ist der Sitz des Österreichischen Weltraum Forums, einer privaten Forschungsinstitution, in der österreichische und internationale Initiativen aus der Raumfahrtbranche zusammenfließen.
„Wir sagen bewusst Mission Support und nicht Mission Control“, erklärt Willibald Stumptner, der als Flight Director des Amadee-Projekts fungiert. Denn kontrollieren könne die Zentrale wenig, sagt der Physiker, steuernd eingreifen noch viel weniger. Grund ist die Zeitverzögerung: Das Licht und damit jedes Kommunikationssignal benötigt für die Strecke zwischen Erde und Mars – je nach Position der Planeten – knapp drei bis zu gut 20 Minuten.
Um eine Exploration des Mars möglichst realitätsnah zu simulieren, wurde für die Analog-Mission eine Zeitverzögerung von zehn Minuten eingeplant. Jede Nachricht aus Armenien traf zehn Minuten nach dem Absenden in der Missionszentrale ein, jede Antwort war weitere zehn Minuten unterwegs. „Die Zeitverzögerung wäre bei jeder Mars-Mission eine enorme Herausforderung, vor allem, wenn man rasch technische Probleme lösen muss“, sagt Stumptner. Wie gut das klappt, hat unter realen Bedingungen noch nie jemand getestet: Über den Mond sind zwar schon einige Astronauten spaziert, doch diese Distanz bewältigt das Licht in kaum mehr als einer Sekunde.
Im Mission Support Center
Der Flight Director blickt durch eine Glasscheibe in einen großen Raum, in dem das Mission Support Center untergebracht ist. An diesem Tag Ende März ist die Mission noch in vollem Gange. Ein Dutzend vorwiegend junger Menschen sitzt an einem U-förmigen Tisch vor Laptops und Monitoren. Einige haben technische Ausbildungen, andere medizinische. Sie alle arbeiten auf freiwilliger Basis, während der Laufzeit der Mission täglich von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends. Auch Gastforschende aus Armenien sind darunter, denn Amadee-24 kam in Kooperation mit der armenischen Weltraumagentur zustande. Auch bei einer tatsächlichen Raumfahrtmission sähe die Missionszentrale heute kaum anders aus, sagt Stumptner. Riesige Hallen mit hausgroßen Schaltpulten sind längst Vergangenheit.
Das Team im Wiener Mission Support Center arbeitet Checklisten ab, überwacht Vitalparameter wie Kohlendioxid-Werte, zeichnet das Geschehen vor Ort auf. Bildschirme an der Wand zeigen die Uhrzeit auf der Erde und am Mars, ein- und ausgehende Nachrichten sowie eine Live-Schaltung in die Marslandschaft Armeniens. Markiert sind darauf das Habitat der Analog-Astronauten und ein etwa drei Kilometer entferntes Areal, das heute inspiziert werden soll.
Die Programmpunkte lauten: Experimente mit dem Mars-Rover, geologische Tests, Sammeln von Bodenproben sowie deren Analyse im Habitat. Das Astronautenteam soll dazu Dünnschliffe anfertigen, feine Gesteinspräparate, und diese unter dem Mikroskop studieren.
Bis zu diesem Testlauf eines Einsatzes auf der Marsoberfläche war es ein weiter Weg. Mehr als ein Dutzend industrielle und akademische Forschungspartner, darunter aus Österreich, Deutschland, Italien, Portugal, Spanien und den Niederlanden, statteten die Mission mit Instrumenten, Sensorik, Technik für Telemedizin und Kommunikation sowie wissenschaftlicher Expertise aus. Die Technische Universität Graz konstruierte den „Mercator“, einen halbautonomen Rover, der unwegsames Gelände durchqueren und Gesteinsproben aufnehmen kann. Ein weiteres Beispiel aus Österreich ist ein Helikoptersystem, entwickelt in Klagenfurt und Graz, das die Landschaft kartieren kann. Mit Sensoren bestückte Helikopter könnten helfen, wissenschaftlich interessante Areale auf dem Mars zu identifizieren. Zuerst würden solche Orte mit Satelliten grob ausgespäht und dann mit fliegenden Drohnen näher untersucht, bevor Roboter und schließlich Menschen das Gebiet in Augenschein nehmen.
Weitere Technologien dienen der Stromerzeugung, der Pflanzenzucht im Habitat und der Erprobung eines „Digital Twin“: eines digitalen Abbildes der Astronauten in Form einer grafischen Schnittstelle auf einem Laptop, die physiologische und medizinische Daten erfasst. Astronautinnen und Astronauten tragen dazu Sensoren in ihrem Anzug, die zum Beispiel die Muskelaktivität aufzeichnen. Deren permanente Messung während der Mission kann dazu dienen, die Anstrengung jeder einzelnen Person anhand konkreter individueller Daten zu überwachen.
Astronauten mit Improvisationstalent
Das Astronautenteam bestand aus sechs Mitgliedern, zwei Frauen und vier Männern aus Österreich, Deutschland, Italien, Spanien und den Niederlanden, alle mit wissenschaftlichem Hintergrund. Kamen zur Zeit der ersten Mondmissionen vor allem tollkühne Kampfpiloten zum Einsatz, sind es heute vorwiegend Forschende aus Bereichen wie Astrophysik, Biologie und Geologie, die in der Lage sein sollen, solide wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Zudem braucht es emotionale Stabilität und technisches Geschick. „Die Crew muss das Interesse und Talent mitbringen, Probleme ruhig und systematisch zu lösen“, sagt Monika Fischer, Vorstandsmitglied des Weltraum Forum. Improvisationsgabe schadet auch nicht, wenn ein Gerät plötzlich streikt und einer notdürftigen Reparatur bedarf. „MacGyvern“ nennt das Stumptner in Anlehnung an eine alte TV-Serie, in der ein erfindungsreicher Protagonist so ziemlich alles zusammenflicken konnte.
Monika Fischer vom Österreichischen Weltraum Forum
„Die Crew muss das Interesse und Talent mitbringen, Probleme ruhig und systematisch zu lösen“, sagt Fischer.
Dem Einsatz gingen ein strenges Auswahlverfahren und monatelanges Training voraus, auch mit dem rund 50 Kilo schweren Raumanzug, der mit Sensoren und einem Exoskelett bestückt ist – Verstärkungen an verschiedenen Stellen des Anzugs, etwa im Bereich der Finger. Das Exoskelett soll die Beweglichkeit einschränken und somit erschwerte Bedingungen simulieren. Die Crew muss lernen, mit dem Gewicht zurechtkommen, mit der Hitze im Anzug, dem engen Sichtfeld und mit dem Lärm, der von der Belüftung herrührt. Nicht simuliert wird indes die geringere Gravitation auf dem Mars.
Nach Entwicklung des technischen Equipments und Abschluss der Trainingsphasen konnte die Mission schließlich Anfang März mit der Einrichtung des Habitats starten. Armenien unterstützte das Projekt mit Logistik und Infrastruktur. Immerhin habe das Land eine lange Raumfahrttradition, berichtet Fischer: Der allererste Mars-Rover, der über den roten Planeten navigierte, wurde von armenischen Ingenieuren konstruiert, allerdings noch in Sowjet-Zeiten.
Das Hauptziel der Simulation deckte sich mit jenem einer potenziell echten Mission zun Mars: Es bestand in der Suche nach Biosignaturen, also Spuren von Leben. Wenn wir in unserem eigenen Sonnensystem nach Hinweisen auf extraterrestrisches Leben Ausschau halten, ist der Mars neben Jupiter- und Saturnmonden der heißeste Kandidat. Mittlerweile ist der Planet auf rund 30 Zentimeter genau kartiert, und es liegen solide Indizien für frühere Wasservorkommen vor. Darin könnten durchaus Biomoleküle zu finden sein – Bausteine des Lebens, die mittlerweile vielfach im Kosmos nachgewiesen wurden, auch in Asteroiden. Es ist zwar Spekulation, aber zumindest nicht ausgeschlossen, dass das Leben einst von anderen Himmelskörpern, womöglich dem Mars, zur Erde gelangte, unser Planet also gleichsam mit Leben infiziert wurde. „Vielleicht sind wir alle Marsianer“, scherzt Willibald Stumptner.
Gipsen am Mars
Wenn wir herausfinden wollen, ob diese Vorstellung zutrifft, werden eines Tages Menschen zum Mars fliegen müssen – mit Sonden alleine lassen sich nicht genügend große Gesteinsmengen mit der erforderlichen Präzision untersuchen. Analog-Missionen, wie sie das Weltraumforum alle zwei bis drei Jahre auf die Beine stellt, sollen als umfassende Vorbereitung für solch ein Unterfangen dienen, gleichsam als Übung am Trockendock – und dazu beitragen, Gefahrenherde und Fehlerquellen vorab aufzuspüren und Astronauten für den Einsatz in der unwirtlichen Umgebung des Weltalls zu trainieren. Vor allem die Zeitverzögerung macht es, anders als auf dem Mond, notwendig, dass die Crew am Mars mit den allermeisten Risiken selber zurecht kommt.
Flight Director Willibald Stumptner
„Die Zeitverzögerung wäre bei jeder Mars-Mission eine enorme Herausforderung, vor allem, wenn man rasch technische Probleme lösen muss“, sagt der Physiker.
Was zum Beispiel tun, wenn ein Astronaut stürzt und sich ein Bein bricht? Wie legt man im Raumanzug und bei dünner Atmosphäre eine Schiene oder einen Gips an? Wie führt man eine sachgerechte Reparatur durch, wenn ein Raumanzug beschädigt wird, etwa durch Mikrometeoriten? Was, wenn ein Crew-Mitglied aus einer engen Schlucht geborgen werden muss? Wie rettet man die Pflanzen, wenn ein Stein das Zelt durchschlägt, in dem sie in speziellen Kulturen wachsen?
Beinahe konventionell wirkt im Vergleich dazu das Durchspielen des Forschungsalltags und der Arbeitsabläufe am Mars: die Interaktion zwischen Mensch und Roboter, die Kommunikation mithilfe von Radiosignalen, das Gewinnen von Gesteinsproben und deren Analyse in Labors im Habitat, das Erledigen von Agenden unter Zeitdruck. Interessant sei zu beobachten, dass die Crew dabei fast immer unter Stress gerate, sagt Monika Fischer – obwohl Gefahrensituationen nur hypothetisch und die Teammitglieder in Sicherheit auf der guten alten Erde seien. Doch die lebensnahe Simulation in Kombination mit einer gehörigen Portion Ehrgeiz scheinen auszureichen, um psychische Reaktionen auszulösen, wie sie vermutlich auch bei einer echten Marsmission auftreten würden.
Die Simulationsprogramme erfüllen aber noch eine weitere Funktion: Sie befeuern den Erfindergeist einer ganzen Szene von heimischen Universitäten, Fachhochschulen und privaten Entwicklern, die Komponenten und Technologien zuliefern – Innovationen, die oft nicht nur in der Raumfahrt, sondern zeitversetzt auch im Alltag Verwendung finden. Österreichs Raumfahrtbranche brauche dabei den internationalen Vergleich nicht zu scheuen, sagt Stumptner: Besonders in Wien und im Süden Niederösterreichs hätten sich Unternehmens-Cluster etabliert, die teils seit vielen Jahren an den Simulationen mitwirken. Die diesjährige Mission war bereits die 14., wobei auch schon in Israel und auf österreichischen Gletschern trainiert wurde, die bestimmten Regionen auf dem Mars ähneln.
Ist aber eine Reise zum Mars in absehbarer Zeit überhaupt realistisch? Solch eine Mission ist zumindest nicht ausgeschlossen, bedingt unter anderem durch Umbrüche in der Raumfahrt, die von den verschiedenen privaten Marktteilnehmern vorangetrieben werden und die Kosten allmählich senken. Aus Sicht der Astrophysik wäre Mitte des kommenden Jahrzehnts ein günstiger Zeitpunkt für eine Marsmission: Die Distanz zwischen den beiden Planeten wäre dann klein, zugleich wird die Sonnenaktivität niedrig und die Strahlenbelastung daher gering sein.
In den Dimensionen, in denen die Raumfahrt denkt, wäre dieses Zeitfenster praktisch schon übermorgen.
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft