Wissenschaft

Reinhard Genzel: „Einstein hat sich selbst nicht geglaubt“

Physik-Nobelpreisträger Reinhard Genzel erklärt die Vermessung des Schwarzen Lochs in der Milchstraße, nennt seine Antwort auf Fragen nach dem Beginn des Universums, ist überzeugt, dass wir bald dunkler Materie auf die Spur kommen – und plädiert für Streit in der Wissenschaft.

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Was war Ihre Reaktion, als Sie im vergangenen Mai das erste Bild des Schwarzen Lochs in unserer Galaxie gesehen haben? War es schlicht Freude? Oder dachten Sie: Ich habe es ja immer schon gewusst?
Genzel
Beides. Wir wussten tatsächlich schon vieles, wir kannten auf den Bruchteil eines Prozents genau die Entfernung und die Masse des Schwarzen Lochs. Solch eine Struktur ist außerdem eine ganz geradlinige Folgerung aus der Allgemeinen Relativitätstheorie. Es ist ja ein Kern dieser Theorie, dass Schwarze Löcher existieren müssen. Der schwarze Bereich, den man sieht, ist übrigens nicht die Größe des Ereignishorizonts. Der Bereich, der sich schwarz darstellt, ist wesentlich größer. Das liegt daran, dass auch Photonen, die nicht ins Schwarze Loch fallen, so stark gekrümmt werden, dass sie in eine Bahn gelangen.
Das ist der sogenannte letzte Photonenorbit?
Genzel
Ja, das ist der innerste Bereich, in dem ein Photon um ein Schwarzes Loch herumlaufen kann, ohne hineinzufallen. Und dieser Bereich ist um 50 Prozent größer als der Ereignishorizont. Jedenfalls: Wir wussten auf den Bruchteil eines Prozents genau Bescheid, bevor unsere Kollegen ihre Bilder angefertigt haben.
Ist es nicht erhebend, wenn sich die Realität so genau mit den Vorhersagen deckt?
Genzel
Absolut. Es ist erhebend in dem Sinn, dass wir sagen können: Hier gibt es eine unabhängige Messung mit einer anderen Technik, die das Ergebnis nochmal klar bestätigt.
Einstein Gleichungen waren die Grundlage, Karl Schwarzschild leitete daraus die Existenz Schwarzer Löcher ab, Sie bestimmten Position und Masse des Schwarzen Lochs in der Milchstraße, nun liegen Bilder vor, und alles deckt sich und passt wunderbar zusammen. Gibt das Zuversicht, die Welt doch verstehen zu können?
Genzel
Da kommen Sie sicher auf einen richtigen Punkt. Es gibt jetzt mehrere Methoden: Wir sehen uns Schwarze Löcher an, indem wir die Gravitation untersuchen, die das Schwarze Loch auf umgebende Objekte wie Sterne ausübt. Die radioastronomische Methode macht dasselbe, aber nicht mit Sternen, sondern mit Photonen. Und die dritte Methode sind die Gravitationswellen. Zur selben Zeit, als ich angefangen habe, hat die Forschung mit Gravitationswellen und in der Radioastronomie begonnen. 40 Jahre hat das alles gedauert. Und dann, innerhalb von fünf Jahren geht es peng, peng, peng. Das ist sagenhaft und wirklich ein tolles Gefühl.
Und nun werden Nobelpreise dafür vergeben.
Genzel
Alfred Nobel hatte in seinem Vermächtnis die Astronomie nicht berücksichtigt. Und in den letzten zehn Jahren sind fünf der Nobelpreise in die Astroforschung gegangen. Das ist ganz erstaunlich. Die astrophysikalische Forschung hat im Moment einen regelrechten Lauf, ob das Gravitationswellen sind, unsere Arbeiten oder Exoplaneten. Es ist wirklich toll, dass die Astronomie so frisch daherkommt und Begeisterung schafft.
Welche Fragen stehen nun im Raum?
Genzel
Viele sagen voraus, dass es um das einzelne Schwarze Loch noch weitere stellare Schwarze Löcher in großer Anzahl gibt oder möglicherweise ein zweites massereiches Schwarzes Loch. Eine weitere Sache ist, dass Physiker auf hohem Niveau versuchen, die Eigenschaften der Gravitation noch besser zu verstehen, weil einige Vermutungen der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht ganz richtig sein können. Dann gibt es die Frage des Ereignishorizonts und ob dort doch noch etwas herauskommen könnte.
Die nach Stephen Hawking benannte Strahlung?
Genzel
Ja. Sie ist höchst plausibel, allerdings nicht zu messen. Die makroskopischen Schwarzen Löcher, die wir uns ansehen, haben dafür eine zu geringe Temperatur. All diese Fragen sind wirklich fundamental.
Die längste Zeit war ja alles nicht mehr als Theorie. Man konnte nicht wissen, ob Schwarze Löcher reale Bedeutung haben.
Genzel
Es gab Einsteins Theorie, aber Einstein war ja einer, der sich oft selbst nicht geglaubt hat. Dazu zählt auch die Existenz von Schwarzen Löchern. Bis in die Sechziger Jahre stand die Allgemeine Relativitätstheorie verstaubt in den Bibliotheken. Und dann hat sich das alles in wenigen Jahren gedreht.
Was hat Ihr Interesse an Schwarzen Löchern geweckt?
Genzel
Mein Vater war Physiker und Max-Planck-Direktor. Er sagte, pass auf, Bub, in Bonn gibt es ein neues Max-Planck-Institut für Radioastronomie. Dort habe ich meine Diplom- und Doktorarbeit gemacht und hatte dann die Möglichkeit, in die USA nach Kalifornien zu gehen. In dieser Zeit kamen die Idee der Nachweisbarkeit von Schwarzen Löchern und das Postulat auf, vielleicht hat jede Galaxie ein Schwarzes Loch. Mein Mentor Charles Townes hat Messungen im Infrarotbereich gemacht, wir hatten damit die richtigen Geräte zur Untersuchung des galaktischen Zentrums. Die Geräte wurde immer besser, und mit dem Essen kommt ja der Appetit. Trotzdem dauerte es noch sehr lange und brauchte viele Schritte der Verbesserung der Technologie.
Denkt man unterwegs manchmal, womöglich jage ich einem Gespenst nach?
Genzel
So hätte es kommen können. Es hätte auch schiefgehen können. Und wir reden von Experimenten, die teils zehn Jahre gedauert haben und immer teurer wurden. Als Forscher muss man meiner Ansicht nach einige Eigenschaften mitbringen. Begeisterung und Neugierde sind Voraussetzung. Dann muss man ziemlich robust sein, man darf sich nicht durch Rückschläge frustrieren lassen. Und man muss einen langen Atem haben.
Braucht man nicht auch Fantasie und Kreativität, um sich vorstellen zu können, welches Ziel man womit erreichen möchte?
Genzel
Das würde ich Jagdinstinkt nennen. Wir haben uns immer zusammengesetzt und überlegt, welche Instrumente wir bauen müssen, um eine bestimmte Frage zu beantworten.
Es ist doch faszinierend, dass man ein Objekt in 26.000 Lichtjahren Entfernung präzise untersuchen kann. Ebenso können wir winzige Dinge wie die Andockstellen eines Virus beobachten. Zugleich misstrauen Menschen der Wissenschaft und sagen oft: Woher wollen denn die Wissenschafter das wissen? Müsste man die Methoden besser erklären?
Genzel
Absolut, in der Tat. Eine Sache ist es zu sagen, ich glaube an Technologie im weitesten Sinne zur Verbesserung des Lebensstandards. Das ist leicht verkaufbar. Das Problem ist aber, die größten Innovationen entstehen auf diese Weise nicht. Wofür hat Charles Townes seinen Laser gebaut? Um Moleküle anzuschauen! Ihn hat nicht interessiert, ob man damit Stahl schneiden kann. Das war nicht seine Motivation. Das gilt für viele große Entdeckungen und Würfe der Naturwissenschaft. Man sollte aber wissen, dass ohne Allgemeine Relativitätstheorie GPS und Satelliten nicht funktionieren.
Sogar daran zweifeln manche.
Genzel
Manchmal kommt die Aussage, dass es vielleicht ganz andere Antworten geben könnte. Und hier kann man entgegnen: Nein, es gibt eine Wahrheit. Die Wahrheit mag vorübergehend sein, indem sie nur bestimmte Bereiche betrifft oder notwendigerweise erweiterbar ist. Im Prinzip sind sich beispielsweise fast alle einig, dass es nicht sein kann, dass alle Masse in einer Singularität vereint ist. Wir kennen aber keine bessere Theorie.
Viele Menschen kommen schwer damit zurecht, dass Wissenserwerb ständiger Veränderung unterworfen ist.
Genzel
Auch wenn wir im Prinzip akzeptieren, dass Wahrheit vorhanden ist, gibt es einen Weg dorthin, und auf diesem Weg wird auch gestritten. Während der Pandemie konnten wir in Talkshows Virusforscher mit unterschiedlichen Ansichten sehen. Als fortgeschrittene Gesellschaft müssen wir lernen, diesen Streit zu ertragen. Die Folge und Reaktion auf die Unsicherheit in der Wissenschaft war aber eine unglaubliche Menge an Fake News.
Hinter dem Ereignishorizont enden unsere vertrauten Gesetze. Dennoch ist Realität, was dort geschieht, bloß können wir sie nicht beobachten. Stellt sich da nicht die Frage, was Wirklichkeit überhaupt ist?
Genzel
Wenn eine Rakete den Ereignishorizont überfliegt, besteht kein Zweifel, dass sie in endlicher Zeit auch im Zentrum des Schwarzen Lochs ankommt. Das Mysterium ist die Singularität. Und ich bin nicht überzeugt, dass wir einen Weg finden, dort hineinzuriechen.
Es könnte ein Mysterium bleiben?
Genzel
Durchaus. Aber das ist ja auch im Urknall nicht anders. Der Urknall ist eine Spiegelung dieser Situation. Ich mache mir übrigens immer Feinde, wenn die Frage kommt: Jetzt sagen Sie doch mal, was war vor dem Urknall? Da hab ich zwei Antworten. Eine lautet: Ich bin nur ein kleiner Experimentalphysiker. Die zweite lautet: Das hab ich vergessen.
Schöne Antwort. Die kann man öfter brauchen.
Genzel
Eine weitere Frage ist das Informationsparadox…

Reinhard Genzel, Physiker am Max-Planck-Instuitut für extraterrestrische Physik, ist überzeugt, dass wir bald dunkler Materie auf die Spur kommen werden.

Die Diskrepanz, dass in unserer Welt grundsätzlich nichts verloren geht, sondern nur in andere Form umgewandelt wird, hinter dem Ereignishorizont aber tatsächlich jede Information verloren geht.
Genzel
Vereinfacht erklärt: Wenn Sie in ein Schwarzes Loch einen Volkswagen schmeißen und in ein anderes einen Mercedes: Haben Sie dann am Ende noch verschiedene Autos oder nicht? Wir sagen, natürlich sind sie gleich, weiß doch jeder. Die Quantentheoretiker sagen: Absolut nicht! Ich habe keine Lösung, ich kann nur sagen, ich bin gut gefahren damit, mich auf Dinge zu konzentrieren, die möglich und einer Untersuchung zugänglich sind. Wir können uns einen Raum in elf oder 14 Dimensionen ausmalen und so den Urknall erklären. Aber das nützt weder Ihnen noch mir etwas.
Das würde auch dem Postulat entsprechen, dass Physik einfach und schön sein sollte.
Genzel
Die Physik ist damit tatsächlich oft gut gefahren, weil sie mit Mathematik arbeitet. Andererseits entwickelt sich auf der Skala des Universums Struktur oft aus Komplexität. Die Verteilung der dunklen Materie zum Beispiel ist keinesfalls einfach. Sie sollte aber jetzt plausibel nachweisbar sein, mit Geduld und Spucke.

Momentan gibt es fast jeden zweiten Tag eine Veröffentlichung zu dem Thema dunkle Materie. Ich denke, wir stehen kurz davor. In den nächsten zwei, drei Jahren werden wir dazu auch Experimentelles sehen können.

Reinhard Genzel

Sie denken, es gibt bald Belege für dunkle Materie?
Genzel
Momentan gibt es fast jeden zweiten Tag eine Veröffentlichung zu dem Thema. Ich denke, wir stehen kurz davor. In den nächsten zwei, drei Jahren werden wir dazu auch Experimentelles sehen können.
Dann noch die dunkle Energie, und wir haben alles beantwortet?
Genzel
Nein, dann ist lediglich ein kleines Schrittchen gewonnen.
Es gibt Physiker, die eine Singularität im Schwarzen Loch mit dem Jenseits vergleichen, weil auch von dort keine Rückkehr möglich ist. Können Sie dieser Sicht etwas abgewinnen?
Genzel
Ich nicht, aber ich weiß, dass andere dem sehr wohl etwas abgewinnen können. Townes war ein religiöser Mensch. Ich habe ihm mal scherzhalber vorgeschlagen: Wenn beten helfen würde, könnten wir ja ein Experiment dazu machen. Ich habe das als Witz gemeint. Er hat es aber ernst genommen und gesagt: Das haben wir schon versucht. Wahrscheinlich ist die Zahl der religiösen Menschen unter Physikern geringer als im Durchschnitt, aber natürlich gibt es welche. Es menschelt eben überall, auch unter Physikern.

Reinhard Genzel, 70,

ist Direktor des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik in Garching bei München und erhielt den Nobelpreis für Physik des Jahres 2020. Grund dafür sind hochpräzise Messmethoden im Infrarotbereich des Lichts, die dazu führten, die Koordinaten des Schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße zu bestimmen. Dieses Objekt mit der Bezeichnung Sagittarius A* ist rund 26.000 Lichtjahre entfernt und wiegt 4,3 Millionen Sonnenmassen. Um diese Daten zu gewinnen, entwickelten Genzel und sein Team Instrumente, welche die Bahnen von Sternen und Sagittarius A* vermaßen. Die Ergebnisse stellten nicht nur den experimentellen Beleg für das supermassereiche Schwarze Loch in unserer Galaxie dar, sondern boten auch die Grundlage für die ersten Aufnahmen davon, die im vergangenen Mai publik wurden.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft