Wie gefährlich ist die neue Generation der Pille?
Es wirkt wie ein Rückfall in die Vergangenheit: Derzeit verbreiten manche Medienberichte eine regelrechte Panik vor der Einnahme der Pille - ein Phänomen, für das Experten inzwischen sogar einen Begriff kennen: "pill scare“ (Pillenangst). "Große Risiken und blutige Nebenwirkungen“ befürchtete etwa das Wiener Stadtblatt "Falter“ vor Kurzem. "Gefährliche Antibabypille“, befand der ORF. Ausgerechnet Pillen der jüngsten Generationen, die Ärzte oft verschreiben, weil sie kaum Gewichtszunahmen bringen und generell gut verträglich sind, werden wegen einer erhöhten Gefahr von Gefäßerkrankungen verteufelt.
In den Berichten werden einzelne Fälle und zweifellos tatsächlich dramatische Auswirkungen für die betroffenen Frauen geschildert - ohne allerdings im Detail darüber aufzuklären, wie hoch das Risiko für die Anwenderinnen überhaupt ist und welche Faktoren es beeinflussen können. Doch genau eine solche Bewertung potenzieller Gefahren ist notwendig, um sich orientieren zu können. Die Kurzversion lautet: Umsicht ist fraglos angebracht, Angst aber nicht. Und moderne Pillen haben weiterhin ihre Berechtigung.
Heftige Debatten um die Pille gab es freilich auch früher. Schon bei den ersten großen, von der US-Amerikanerin Margaret Sanger forcierten medizinischen Studien in den späten 1950er-Jahren warnten Pillengegner davor. In den 1970er-Jahren hieß es: "Pillen killen!“ Das Verhütungsmittel wurde mit Krebs, Schlaganfall und anderen Krankheiten in Verbindung gebracht. Spätestens 1990, zum 30-jährigen Jubiläum der Pillenzulassung, hielt man die Bedenken in Bezug auf Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krebs für ausgeräumt.
Thrombosegefahr
Doch die hormonelle Verhütung hat noch heute einen zweifelhaften Ruf. Die Psychologin Elisabeth Parzer hat die Verhütungspraxis der Frauen wissenschaftlich untersucht. "Es ist quasi geteiltes Wissen, dass es schlecht sei, wenn man Hormone über längere Zeit einnimmt“, sagt Parzer. Die tägliche Dosis an Hormonen durch die Pille ist aber harmlos, erklärt Christian Egarter von der Klinischen Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie der Medizinischen Universität Wien und des AKH Wien: "Der Eierstock, der normalerweise solche Hormone produziert, hört durch einen Rückkopplungsmechanismus im Gehirn schlagartig damit auf, wenn ident wirksame Hormone von außen zugeführt werden.“ Es ist im Grunde egal, ob man die Hormone schluckt oder der Körper sie produziert. Die heutzutage einzig relevante mögliche Nebenwirkung von Pillen sei die Thrombose - und zwar sowohl bei den zuletzt kritisierten modernen wie auch bei den konventionellen Präparaten.
Eine Thrombose ist ein Blutgerinnsel und entsteht meist in den Beinvenen. Das in Kombinationspillen enthaltene Follikelhormon Östrogen beeinflusst die Gefäßwand und Blutgerinnung, erklärt Egarter: "Dadurch kommt es einen Hauch häufiger zu Thrombosen.“ Gefährlich wird es erst, wenn sich ein Gerinnsel aus der Beinvene löst, in die Lunge gelangt und zu einer Embolie führt, was bei jeder 100. Thrombose geschieht.
Wie oft kommt es aber zu Thrombosen durch die Einnahme der Pille? Im Fall von Frauen, die keine Pillen nehmen, passiert das bei weniger als zwei von 10.000 Frauen pro Jahr (siehe Tabelle Seite 78). Konventionelle Pillen der 1. und 2. Generation verdoppeln das Risiko. Bei den aktuell kritisierten Pillen der 3. und 4. Generation kommen neue Progestagene (Gelbkörperhormone) wie Drospirenon zum Einsatz, die zwar besser verträglich sind, aber laut großen Studien ein etwa doppelt so hohes Thromboserisiko bergen wie die alten Pillen.
Die meisten Thrombosen haben aber mit der Pille gar nichts zu tun. "Es wird gerne vergessen, dass die wichtigsten Risikofaktoren das Alter, der Body Mass Index (BMI), Operationen und vor allem Schwangerschaften sind“, sagt Hormonspezialist Egarter. Laut WHO steigt das Risiko bei den 45- bis 49-jährigen im Vergleich zu 15-bis 19-jährigen Frauen um das Dreifache, Fettleibigkeit verzwanzigfacht es sogar. Alter und Übergewicht wirken gemeinsam, können das Thromboserisiko damit verzigfachen. Eine Schwangerschaft erhöht es um das Fünf- bis Zehnfache, und noch einmal steigt es im Wochenbett - um den Faktor zehn bis 30.
Rauchen steigert das Risiko auf das Doppelte. "Die Frauen setzen aber eher die Pille ab, als mit dem Rauchen aufzuhören“, berichtet der Gynäkologe Christian Fiala. Auch würde niemand auf die Idee kommen, wegen des Thromboserisikos vor Fernreisen zu warnen, obwohl damit eine viel größere Risikoerhöhung einhergeht als mit der Pille.
Zusammenhang nicht restlos geklärt
Überdies dürfte nicht restlos geklärt sein, dass die neuen Pillen das Risiko wirklich stärker erhöhen als konventionelle. Denn dass die neuen Pillen in Übersichtsstudien schlechter abschneiden, könnte auch mit der Verschreibungspraxis zusammenhängen, meint Fiala: "Hier wird ein gleichzeitiges Auftreten zweier Faktoren mit einem ursächlichen Zusammenhang gleichgesetzt.“ Vor allem übergewichtige und junge Frauen nehmen die neuen Präparate gerne, weil sie im Gegensatz zu den älteren Pillen kaum eine Gewichtszunahme durch Wassereinlagerungen im Gewebe mit sich bringen.
Übergewicht stellt an sich schon einen Risikofaktor für Thrombosen dar. Außerdem spielen erbliche Faktoren eine Rolle; klärt der Arzt solche nicht sorgfältig ab, findet ein entsprechendes Risiko keine Beachtung. Gerade bei jungen Frauen weiß man oft noch nichts von allfälligen Thromboseneigungen durch Erbfaktoren, während ältere Frauen eher einschlägig untersucht sind und solche Pillen gar nicht mehr verschrieben bekommen.
Bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA und auch bei der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) geht man trotzdem von einem doppelt so hohen Thromboserisiko durch neuere Pillen aus. "Man hat nach einer europaweiten Bewertung beschlossen, dass sie auf dem Markt bleiben können, aber die Warnhinweise und Gegenanzeigen, deretwegen sie nicht verschrieben werden sollen, deutlich berücksichtigt“, sagt Christoph Baumgärtel, Arzneimittelexperte der AGES. Dies habe auch schon Wirkung gezeigt: Die Verschreibungen für die Pillen der 3. und 4. Generation seien merklich zugunsten jener der 2. Generation zurückgegangen.
Zunehmend werden die Diskussionen um die Gefährlichkeit der Pille aber auch vor Gericht geführt. Zwei junge Frauen klagten in Deutschland 2014 den Hersteller Bayer auf Schadenersatz, weil sie nach Anwendung eines Präparats mit dem Wirkstoff Drospirenon eine Thrombose beziehungsweise Lungenembolie erlitten. Bayer habe nicht ausreichend auf das erhöhte Risiko durch diesen Wirkstoff hingewiesen, so der Vorwurf. Dasselbe geschieht nun in Österreich. Nach einer Beinvenenthrombose mit anschließender Lungenembolie und Schlaganfall fordert eine Frau (sportlich, Nichtraucherin und Vegetarierin) Schadenersatz. Bei ihr habe der Beipackzettel zur Pille den Eindruck erweckt, dass nur übergewichtige oder diabeteskranke Frauen betroffen sein könnten.
Prozesse gegen Bayer
Der Wiener Anwalt Peter Lessky vertritt sie und andere Österreicherinnen in Prozessen gegen Bayer. Er sieht eine Verletzung der Aufklärungspflicht. Konsumenten seien "im Regelfall medizinische Laien, und man ging hier, offenbar mit ihrer Uninformiertheit spekulierend, ein hohes Risiko ein“, sagt Lessky. Im Gegensatz zu den Prozessen in Deutschland wolle er nicht nur, dass die Pille wegen ihrer Gefährlichkeit vom Markt verschwindet, sondern auch, dass der Pharmakonzern Schadenersatz leisten, weil die Patientinnen Schaden an ihrer Gesundheit erlitten. Die Produktinformationen hätten auf das Thromboserisiko nicht ausreichend hingewiesen. "2009 bis 2010 wurde nur ganz abstrakt davon gesprochen, erst später stellten die Pharmafirmen das Risiko in absoluten Zahlen dar“, erklärt er.
Es handelt sich bei den gerichtsanhängigen Fällen um schlimme Einzelfälle. Die Frauen kämpften teilweise um ihr Überleben, dürfen nicht mehr schwanger werden oder nur noch als "Risikopatientinnen“. Trotzdem übersteige der Nutzen hormoneller Kontrazeptiva in Summe die Risiken bei Weitem, meint Fiala. Freilich können bei der Pille wie bei jedem Medikament Nebenwirkungen auftreten. Doch mittlerweile gebe es 60 unterschiedliche Präparate zur hormonellen Verhütung: Pillen, Minipillen, Dreimonatspillen, Hormonspirale, Pflaster, Scheidenring, Implantate. Für die meisten Frauen sei in dieser Auswahl ein gut verträgliches Produkt dabei.
Völlig unbedenklich bezüglich Thrombosen sind etwa Präparate, die nur Gestagene enthalten, erklärt Egarter: "Solche Pillen, die Dreimonatsspritze, ein Hormonimplantat und Hormonspiralen zeigen absolut keine Risikoerhöhung.“ Bei Raucherinnen, übergewichtigen und älteren Patientinnen sollte man auf sie zurückgreifen, auch wenn sie öfter Zwischenblutungen mit sich bringen, und bei den Kombinationspillen eher Zurückhaltung walten lassen.
"Für uns als Arzneimittelbehörde ist klar, dass am Anfang jeder Pillenverschreibung eine ausführliche Untersuchung stehen muss, bei welcher der Gynäkologe die Risikofaktoren abklärt“, so Baumgärtel. Aber die Patientin aufzuklären, wie sie eine Thrombose erkennen kann, koste einige Zeit. Ob sich alle Ärzte diese auch in der Praxis nehmen, "kann man zu einem gewissen Grad bezweifeln“, meint er. Doch auch bei der sorgfältigsten Verschreibungspraxis wird es leider immer wieder Fälle geben, in denen Frauen ohne erkennbare Risikofaktoren durch die Pille eine Thrombose erleiden.
Zahl der ungewollten Schwangerschaften steigt
In jedem Fall zeigt die Verunsicherung Wirkung. Laut Fialas Daten ist die Verwendung der Pille von 2012 bis 2015 von 45 auf 38 Prozent gesunken. Das macht sich auch in der Nachfrage nach Schwangerschaftsabbrüchen bemerkbar. Mehr als die Hälfte der Österreicherinnen im gebärfähigen Alter war mindestens ein Mal ungewollt schwanger, 55 Prozent davon entschieden sich für einen Abbruch.
In Frankreich, wo die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche besser dokumentiert sind, gab es vor einigen Jahren eine ähnlich heftige Mediendebatte, nachdem eine junge Anwenderin einer modernen Pille einen Schlaganfall erlitten hatte. Manche Frauen griffen daraufhin zu älteren Pillenversionen oder Kupferspiralen, viele andere - vor allem junge - zu Methoden wie Kondomen, Kalendermethode, Selbstbeobachtung und Koitus interruptus. Von 2010 bis 2013 sank die Verwendung der Pille in Frankreich von 50 auf 41 Prozent. Prompt folgte ein scharfer Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche: 2013 waren es fast 10.000 Fälle mehr als 2012.
"Es ist hier wie dort ein Medienhype, die Rechnung zahlen aber die Frauen“, findet Fiala. Skurrilerweise sind jene sozialen Schichten, die in den 1960er-Jahren als Erste zur Pille griffen, heute besonders verunsichert: die jungen, gebildeten Frauen. Laut den französischen Daten setzten sie am häufigsten die Pille ab, und die Psychologin Parzer beobachtete Ähnliches in Österreich. Freilich: Die Pille ist kein Bonbon, so viel sollte Ärzten wie auch Patientinnen bewusst sein. Dennoch: Diffuse Ängste sind ebenfalls kontraproduktiv. Egarter: "Denn dann setzen viele Frauen die Pille ab und kommen wenig später in die Abtreibungsklinik.“