Schützende Hand des Kaiserhauses: Zuwanderer in der Donaumonarchie

Angst vor Zuwanderern waren schon in der Donaumonarchie ausgeprägt. Sozialhistoriker Andreas Weigl über die Rolle des Kaisers und die Parallelen zu heute.

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profil: Wie war in der österreichisch-ungarischen Monarchie das Verhältnis der einzelnen Bevölkerungsgruppen zueinander, etwa in der Hauptstadt Wien? Andreas Weigl: Zunächst muss betont werden, dass Xenophobie keineswegs ein Symptom der Moderne ist. Xenophobe Haltungen findet man schon in mittelalterlichen Quellen, in denen beispielsweise spöttische Bemerkungen über Italiener in Wien ersichtlich sind. Man hat auch schon in der frühen Habsburgerzeit gesehen, dass die mit dem neuen Herrscherhaus zugewanderten Schwaben als Eindringlinge bezeichnet wurden. Für die späte Habsburgermonarchie muss man zwei gravierende Unterschiede zur Jetztzeit beachten: Erstens war Europa vor dem Ersten Weltkrieg dominiert von Großreichen, daher war das Abwehrverhalten gegenüber Zuwanderern vergleichsweise wenig ausgeprägt. Ein paar tausend Zuwanderer haben nichts ausgemacht – im Gegenteil, es wurden billige Arbeitskräfte gewünscht. Zweitens waren die meisten Zugewanderten Bürger eines gemeinsamen Staates. So wurde trotz einem vorhandenen Maß an Xenophobie nie bestritten, dass diese Personen von A nach B ziehen dürfen. Wenn diese aber in Armut verfallen sind oder ihre Arbeit verloren haben, sah das wieder anders aus, da gab es sehr wohl die Abschiebung in deren Heimat. Um die Parallelen zu heute aufzuzeigen: Wir bemerken seit rund zehn Jahren im Speziellen in Wien eine massive Zuwanderung von EU-Bürgern die auf wenig Widerstand stößt.

profil: Wie war die Haltung zu den Zugewanderten bei der Wiener Bevölkerung? Weigl: Noch bis in die 1870er-Jahre gab es eine klare Dominanz der Zuwanderer im Wiener Raum aus den böhmischen Ländern, teilweise aus deutschsprachigen Gebieten – diese wurden als nicht besonders fremd wahrgenommen, selbst wenn sie bisweilen mit xenophoben Reaktionen konfrontiert waren. Schon vor dem großen Krach von 1873 kam es dann zum Ausgleich mit Ungarn und zum verstärkten Bemühen der Tschechen um eine stärkere Rolle in der Monarchie. Das ergab eine große Abwehrhaltung, nach dem Motto: Was bilden sich die Tschechen ein? Es gab übertriebene Projektionen, etwa in Richtung der Befürchtung, es würde überall nur noch Tschechisch gesprochen. Größere Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, angefangen bei Wirtshausraufereien, sind aber erst ab der Jahrhundertwende zu beobachten, was mit der Verschärfung des Nationalitätenkonflikts zu tun hatte. Mit starker Ablehnung waren vor allem aber jüdische Zuwanderer konfrontiert. Sie wurden zum Teil mit physischer Gewalt bedroht – zwar nicht in der Dimension der Nazizeit, doch es gab durchaus im größeren Ausmaß. Das konnte aber nicht die späteren Dimensionen annehmen, weil das Kaiserhaus die schützende Hand über die jüdischen und auch die böhmischen Mitbürger hielt. Es gab Vorgaben an die Exekutive, solche Vorfälle zu beenden und das wurde größtenteils auch getan.

In den letzten Jahren der Monarchie gab es generell einen aufkeimenden Nationalismus.

profil: War der Kaiser eine einigende Figur für viele unterschiedliche Nationalitäten innerhalb der Monarchie? Weigl: In der Spätphase seiner Regierungszeit absolut. Mein Großvater, 1902 geboren, konnte sich zeitlebens nicht vorstellen, dass es Anschläge auf Kaiser Franz Josef gegeben haben könnte. Der Kaiser war als Integrationsfigur unbestritten, auch mit dem Altersbonus des langjährig Regierenden.

profil: Und wie hielten es die Politiker der Monarchie? Weigl: Da gab es das Ausspielen der xenophoben Karte, etwa durch den Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Der hatte trotz seines nach außen getragenen Antisemitismus allerdings keine Mühe damit, mit jüdischen Geschäftspartnern Kontakt zu halten. In den letzten Jahren der Monarchie gab es generell einen aufkeimenden Nationalismus. Die Politik der einzelnen nationalen Mehrheiten war da nicht zimperlich. Nicht nur im heutigen Österreich. Die Ruthenen (Ukrainer) beispielsweise wurden von der polnischen Mehrheit in Galizien unterdrückt.

profil: Gerade vor dem Hintergrund der Geschichte von Wien als Stadt vieler Völker und Nationen scheint die Abwehrhaltung gegenüber Zuwanderern erstaunlich. Was sind die Unterschiede zu damals? Weigl: Selbst wenn es damals keine großen Auseinandersetzungen gab, wäre es Schönfärberei zu glauben, es habe keine Abwehrhaltung gegenüber anderen Kulturen in der Spätphase der Monarchie gegeben. Es hieß zum Beispiel schon damals, Wien müsse eine deutsche Stadt im Sinne von deutschsprachig bleiben. So gab es bei Volkszählungen massiven Druck, Deutsch als Umgangssprache anzugeben. Der Unterschied war also nicht so groß, mit einer Ausnahme: Letztlich war es für Wienerinnen und Wiener um 1910 ganz klar, dass sie in einem multinationalen Reich leben. Ab 1918 herrschte dann die kollektive Einstellung, in einem Kleinstaat zu leben, der sich im Wesentlichen nicht als multinational definiert. Gerade die Kleinstaaterei führt aber erwiesenermaßen zu einer Abwehrhaltung gegenüber dem Fremden, dem Unbekannten. Das ist beispielsweise auch in der Schweiz zu beobachten. Die letzten Jahre sehe ich andererseits keinen linearen Anstieg xenophober Haltungen, denken wir nur an die überwiegend positive Aufnahme bosnischer Flüchtlinge. Eine Rolle spielen sehr wohl aber die Dimension der Zuwanderung und die kulturelle Distanz. Es gibt die Bereitschaft, im Einzelfall hilfreich zu sein, sich aber gegen die Masse der Zuwanderung stark abwehrend zu verhalten.

Erst in der Phase der Gastarbeiterwelle werden Ressentiments wieder hochgekocht.

profil: Welche Rolle spielte in der Monarchie die Religion bei der Haltung gegenüber anderen Völkern? Weigl: Es gab den bereits erwähnten Antisemitismus, vor allem gegenüber jüdischen Zuwanderern aus Galizien. Anti-muslimische Haltungen aus der Zeit sind mir nicht bekannt. Das Osmanische Reich hatte längst seinen Schrecken verloren und war im 19. Jahrhundert sehr schwach. Im Ersten Weltkrieg wurde es dann ja auch Bündnispartner.

profil: Die Islamophobie hat also ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte? Weigl: Ja, obwohl es auch in der Monarchie ein tradiertes Bild von Osmanen beziehungsweise Türken gab. Aber das war eher ein folkloristisches. Erst in der Phase der Gastarbeiterwelle werden Ressentiments wieder hochgekocht, doch dann bezieht man sich auf die Zeit der Türkenbelagerung, nicht auf die Spätphase der Monarchie.

profil: Gab es in der Monarchie größere Ströme von Einwanderern von außerhalb des Reichs? Weigl: Nein, allerdings gab es eine nicht unbeträchtliche Abwanderung, allerdings nicht in den Kernzonen der Monarchie, im heutigen Österreich nur im Burgenland. Weiter weg von Wien gab es vor allem in Galizien massive Auswanderung.

profil: Gibt es zu den derzeitigen Ereignissen Parallelen in der Geschichte Österreichs? Weigl: Es gibt zumindest Parallelitäten in gewissen Punkten. So gibt es das Phänomen, zwischen guten, tolerierten und nicht tolerierten Zuwanderern zu unterscheiden. Zuwanderer aus Deutschland waren in der Monarchie akzeptiert, selbst wenn man bisweilen über sie gespöttelt hat, das gilt zum Teil auch für die böhmischen Zuwanderer. Die jüdische Zuwanderung vor allem aus Galizien wurde in weiten Teilen der Bevölkerung hingegen stark abgelehnt. Jetzt ist beispielsweise in der politischen Argumentation mancher Partei zu beobachten, dass die Zuwanderung aus Ex-Jugoslawien völlig aus der Diskussion draußen ist und als die gute oder zumindest die gelittene gilt. Derzeit konzentriert sich das Feindbild stark auf die Zuwanderung aus dem islamischen Bereich, aber da natürlich nicht auf Millionäre, die auf der Kärntner Straße spazieren gehen, sondern auf Personen aus ärmlichen Milieus. Zu den Dimensionen: Diese sind nicht ganz vergleichbar, aber die demographische Wachstumsdynamik Wiens hat doch Parallelen zur Spätphase der Monarchie. Um 1900 hatte Wien rund 1,4 Millionen Einwohner, wenig später waren es zwei Millionen. Und bis zur Wende zum 21. Jahrhundert hatte Wien lange Zeit um die 1,5 Millionen Einwohner, jetzt sind wir schon bald bei 1,8 Millionen. Die Zuwachsdynamik Wiens stützt sich heute in erheblichem Maße auf EU-Zuwanderung, etwa aus Deutschland und Ungarn. Das wird auch nicht abflachen, denn Österreich als Land und Wien als Stadt sind attraktiv für Zuwanderung. Das kann aber auch zum Gefühl eines Teils der Bevölkerung führen, überflutet zu werden – das hat eine lange Tradition.

INFOBOX

Andreas Weigl ist Leiter für Wissenschaftliche Projekte des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Er ist Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, davor war er unter anderem Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Stadtgeschichtsforschung.