Warum wir diese Woche eine Schaltsekunde brauchen
Der Sommer dauert in diesem Jahr länger als sonst. Auf zusätzliche Urlaubstage oder mehr Zeit im Freibad können wir uns leider trotzdem nicht freuen, denn uns wird nur eine einzige Sekunde geschenkt. Am 30. Juni 2015 wird die Uhr nicht wie üblich von 23:59:59 auf 00:00:00 des 1. Juli springen, sondern zuerst 23 Stunden, 59 Minuten und 60 Sekunden anzeigen. Der Grund für diese Verzögerung ist eine Anordnung des Internationalen Dienstes für Erdrotation und Referenzsysteme (IRES), wonach in diesem Jahr eine Schaltsekunde benötigt wird.
Dieser Eingriff in unsere Uhrzeit ist immer dann nötig, wenn sich die Koordinierte Weltzeit (UTC) zu weit von der Universellen Sonnenzeit entfernt hat. Die UTC ist seit 1972 die überall geltende Weltzeit. Die Sonnenzeit dagegen hängt von der tatsächlichen Rotation der Erde um ihre eigene Achse ab. Steht die Sonne genau im Süden und wartet man, bis sie das am nächsten Tag wieder tut, ist genau ein Sonnentag vergangen. Bis in die 1950er-Jahre war die Sekunde sogar offiziell als der 86.400. Teil eines Sonnentags definiert. Das Problem: Die Erde dreht sich nicht völlig gleichmäßig, und für die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer höheren Ansprüche von Wissenschaft und Technik an präzise Zeitmessungen reichte solch eine Definition nicht mehr aus. Man brauchte eine Sekunde, die immer exakt gleich lang dauert, egal wie sich die Erde dreht. Deshalb basiert sie seit 1967 auf der Internationalen Atomzeit, die sich nicht um die Rotation der Erde kümmert, sondern die Zeit anhand der Strahlung misst, die von Cäsium-Atomen ausgesandt wird.
Aber Tag und Nacht werden nun einmal weiterhin von der Drehung der Erde bestimmt, und unsere Zeitangaben sollten nicht allzu sehr davon abweichen. Deswegen beobachtet der IRES sehr genau, mit welcher Geschwindigkeit unser Planet rotiert, und schlägt Alarm, wenn die Abweichung zwischen Sonnenzeit und Koordinierter Weltzeit größer als eine Sekunde zu werden droht. Das ist immer wieder Fall, denn die Erde wird durch den Mond ständig gebremst. Seine gravitative Anziehungskraft verursacht nicht nur Ebbe und Flut in den Ozeanen, sondern verformt auch die feste Erde. Durch diese Asymmetrie bekommt der Mond nun gewissermaßen eine Angriffsfläche, an der er unseren Planet zurückhalten und abbremsen kann. Jedes Jahr dauert die Drehung der Erde dadurch knapp 17 Mikrosekunden länger als zuvor. Die Rotation verändert sich aber auch, wenn Eis an den Polkappen schmilzt, starke Erdbeben die tektonischen Platten durchrütteln, im Inneren des Planeten Magmaströme fließen oder sich anderweitig Gewicht in großen Maßstäben verlagert.
Seit 1972 musste bereits 25 Mal eine Schaltsekunde eingefügt werden, um die unregelmäßige Rotation der Erde auszugleichen. Das letzte Mal war dies am 30. Juni 2012 der Fall, wobei der Vorgang damals nicht ohne Probleme ablief. Für die Uhren unseres Alltags spielte die zusätzliche Sekunde keine große Rolle, aber viele Computersysteme, die ihre Zeit direkt von den großen Atomuhren beziehen und es gewohnt sind, Aufgaben nach Millisekunden getaktet zu verarbeiten, kamen durch die unerwartete Sekunde durcheinander. Manche Internetdienste wurden für einige Stunden lahmgelegt, und das Buchungssystem einer Reisefirma war dermaßen verwirrt, dass es in Australien bei Flugreisen zu großen Verspätungen kam. Mittlerweile sollten die dafür verantwortlichen fehlerhaften Computerprogramme zwar korrigiert sein, viele Länder sprechen sich aber trotzdem für eine Abschaffung der Schaltsekunden aus – und zwar mit durchaus plausiblen Argumenten.
Denn die Anforderungen der Wissenschaft an präzise Zeitmessung sind heute so enorm, dass die Uhrzeit hier sowieso ständig exakt abgeglichen und Korrekturen im Mikrosekundenbereich durchgeführt werden müssen. Eine alle paar Jahre eingefügte Schaltsekunde reicht hier schon längst nicht mehr aus. Im Alltag hingegen spielt ein Unterschied zwischen Welt- und Sonnenzeit von ein paar Sekunden auch keine Rolle: Man könnte locker warten, bis die Differenz auf ein paar Minuten oder Stunden angewachsen ist, um das Problem dann mit einer einzigen großen Anpassung zu lösen. Sonderlich eilig hätte man es damit auch nicht, denn die Einführung einer „Schaltstunde“ würde erst in knapp 600 Jahren nötig werden.
International ist man sich allerdings noch nicht einig geworden, wie es mit den Schaltsekunden weitergehen soll. Die USA wollen sie abschaffen, um Verwirrung und weitere Computerpannen wie im Jahr 2012 zu vermeiden. Großbritannien möchte sie gerne behalten, denn immerhin sind die Briten mit ihrem Observatorium in Greenwich der Bezugspunkt für die komplette Zeitmessung, und diese historische Bedeutung will man durch die komplette Abkopplung der Zeit von der Astronomie nicht verlieren. Russland ist ebenfalls dafür; Deutschland hat sich noch keine konkrete Meinung gebildet. Eigentlich wollte man schon Anfang 2012 eine Entscheidung treffen, bei einer internationalen Konferenz in Genf kam man aber zu keinem Ergebnis und vertagte sich auf Ende dieses Jahres.
Ob die Schaltsekunde am 30. Juni also die letzte sein wird oder nicht, sollte sich bald entscheiden. Bis dahin kann aber zumindest Professor Johannes Böhm vom Department für Geodäsie und Geoinformation der Technischen Universität Wien der Zeitkorrektur einen positiven Aspekt abgewinnen: „Eine Schaltsekunde ist ein guter Anlass, die ungeheure Präzision zu bewundern, mit der wir heute unseren Planeten und seine Orientierung im Raum vermessen können. Alleine das ist schon ein Erfolg.“