Michael Tsokos, Deutschlands berühmtester Rechtsmediziner, über seine spektakulärsten Fälle, neue forensische Methoden, die Gefahr des Scheintods und sein Gutachten über Heinz-Christian Straches Zustand im Ibiza-Video.
Sie haben festgestellt, dass der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und Klubobmann Johann Gudenus in Ibiza nicht unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen standen. Beide hatten das wiederholt behauptet. Könnte Alkohol ihre Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt haben?
Tsokos
So detailreich und stringent, wie die beiden reden, halte ich sie auf jeden Fall für zurechnungsfähig. Sie wurden zwar im Lauf des Abends betrunkener, ihre Gesten fahriger, aber nicht in dem Ausmaß, dass sie nicht gewusst hätten, was sie sagten.
Gibt es Hinweise auf Drogenkonsum?
Tsokos
Das kann ich nicht beurteilen, weil ich die beiden nicht persönlich kenne. Ich weiß nicht, wie sie sonst agieren. K.-o.-Tropfen waren jedenfalls nicht im Spiel, denn diese hätten Benommenheit, Schläfrigkeit, Bewusstseinseintrübungen oder sogar komatöse Zustände hervorgerufen.
ist ein international anerkannter Forensiker. Ende der 1990er-Jahre identifizierte er Leichen aus Massengräbern in Bosnien und Kosovo, 2004 die deutschen Opfer des Tsunamis in Thailand. Seit 2007 leitet Tsokos das Institut für Rechtsmedizin der Charité in Berlin. In seinen Sachbüchern erklärt der gebürtige Kieler, was in Sektionssälen und Laboren wirklich passiert. Alle sind Bestseller und wurden fürs Fernsehen verfilmt. Seit 2021 ist er mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers in der TV-Doku-Reihe „Obduktion – Echte Fälle mit Tsokos und Liefers“ zu sehen.
Sie schreiben Sachbücher, weil Rechtsmediziner in TV-Krimis oft haarsträubende Fehler machen. Was nervt Sie am meisten?
Tsokos
Ich schaue gerne Krimis. Negativ fällt mir aber auf, dass die Begriffe Pathologe und Rechtsmediziner häufig als Synonyme verwendet werden. Das ist, als würde man einen Frauen- mit einem Augenarzt verwechseln. Ein Pathologe untersucht am Mikroskop Gewebeproben, die per Nadel oder Stanzen aus dem Körper lebender Personen entnommen wurden. Rechtsmediziner untersuchen gewaltsame Todesfälle.
Der schrullige Professor Boerne aus dem Münsteraner „Tatort" ist für viele der Inbegriff des Rechtsmediziners. Haben Sie Gemeinsamkeiten?
Tsokos
Ich bin ein Riesenfan von ihm und im echten Leben sehr gut mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers befreundet. Ich habe allerdings mit seiner kauzigen Verkörperung überhaupt nichts gemein - ich spiele weder Golf, noch fahre ich Porsche, noch vermiete ich Wohnungen an Kriminalkommissare.
In Krimis identifizieren Angehörige die Toten oft in der Rechtsmedizin. Warum wäre das in der Realität ein Super-GAU?
Tsokos
Erstens sind die Toten auf meinem Tisch meistens eines gewaltsamen Todes gestorben. Man kann ihre Angehörigen nicht mit diesen Bildern im Kopf zurücklassen. Zweitens kommt der Täter in mehr als 80 Prozent der Fälle aus dem direkten Umfeld des Verstorbenen. Wenn nun ein Angehöriger in der Rechtsmedizin Fingerabdrücke, Fasern und seine DNA hinterlassen würde, könnten wir nicht mehr feststellen, ob er vorher Kontakt zur Leiche hatte. Die Spurensicherung findet häufig erst im Obduktionssaal statt, wenn sich ein unklarer Todesfall als Tötungsdelikt herausstellt. Man kann auf der Haut einer Leiche Fingerabdrücke nachweisen.
Wer identifiziert Leichen denn tatsächlich?
Tsokos
Kriminalbeamte besorgen sich von der Verwandtschaft aktuelle Fotos, die sie dann mit der Leiche abgleichen. Bei fortgeschrittener Leichenfäulnis machen wir es über den Zahnstatus oder einen DNA-Abgleich.
Ich bin ein Riesenfan von Professor Boerne aus dem Münsteraner „Tatort“ und im echten Leben sehr gut mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers befreundet.
Sie waren schon an sehr vielen Tatorten. Welcher ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Tsokos
Besonders bedrückend war die Leichenbegutachtung nach dem Tsunami 2004. In den Tempelanlagen lagen Zehntausende Tote. Ebenfalls nie vergessen werde ich den Fall eines getöteten Mädchens, das wir in einem Karton auf einem Balkon fanden. Der Moment, wenn man schon ahnt, was in der Schachtel ist, die man gleich öffnen wird, hat sich eingebrannt.
Wurde der Täter gefunden?
Tsokos
Ja, er wurde verurteilt. Es war ein Nachbarsjunge aus dem direkten Umfeld des Mädchens.
Besonders bedrückend war die Leichenbegutachtung nach dem Tsunami 2004. In den Tempelanlagen lagen Zehntausende Tote.
Ein wichtiger erster Schritt am Tatort ist das Feststellen des Todeszeitpunkts. Verwenden Sie dafür ein Computerprogramm?
Tsokos
Es gibt verschiedene Parameter, mit denen ich die Software füttere. Wie weit ist die Totenstarre ausgebildet? Sind bereits Totenflecken vorhanden? Reagieren die Pupillen noch auf Augentropfen? Wie hoch ist die Körpertemperatur? In einer normalen Umgebungstemperatur bleibt diese drei Stunden konstant bei 37 Grad, dann verringert sich die Körpertemperatur um ein Grad pro Stunde. Man sollte diese Daten so früh wie möglich sammeln, weshalb wir in Berlin grundsätzlich direkt an den Tatort gerufen werden. Der Computer spuckt dann einen ungefähren Todeszeitpunkt aus.
Lässt sich der Todeszeitpunkt auf die Minute genau feststellen, wie es manche Krimis suggerieren?
Tsokos
Nein. Wenn man wirklich gut liegt, kann man den Zeitpunkt auf plus minus 2,5 bis drei Stunden eingrenzen.
Wenn man wirklich gut liegt, kann man den Todeszeitpunkt auf plus minus 2,5 bis drei Stunden eingrenzen.
Vor der Obduktion schieben Sie zehn Prozent der Leichen in den Computertomografen. Wozu?
Tsokos
Fälle mit Polytraumata, das heißt Stürze aus großer Höhe, Zug- und Verkehrsunfälle, Schusstodesfälle und alle kindlichen Todesfälle untersuchen wir vorab im CT. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen spart es Zeit bei der Obduktion, etwa wenn man weiß, wo sich ein Projektil im Körper befindet. Zum anderen werden die Ergebnisse digital archiviert, bevor sie bei der Öffnung des Körpers zerstört werden. Das CT ist eine echte Revolution in der Rechtsmedizin.
Einer Ihrer ersten Fälle, den sie in den Tomografen schoben, war ein Schädel ohne Körper. Wie kam es dazu?
Tsokos
Im Laufe des Sommers 2011 fand man in Berlin immer wieder mit Tattoos übersäte Leichenteile, zuerst den Rumpf, dann die Beine, die Arme und schließlich den stark verfaulten Kopf. Die Medien nannten den unbekannten Täter "Puzzle-Mörder". Im CT stellte sich heraus, dass der Schädel über 50 Verletzungen aufwies.
Sie scannten danach auch potenzielle Tatwaffen. Was fanden Sie heraus?
Tsokos
Die Polizei hatte inzwischen herausgefunden, dass es sich bei dem Toten um einen 25-jährigen Tätowierer aus Österreich handelte. Er war in Berlin auf Jobsuche gewesen, wobei er einen amerikanischen Kollegen kennengelernt hatte. Mit diesem war er zuletzt beim Feiern gesehen worden. In der Wohnung der Freundin des Amerikaners hatte die Kripo eine Axt, zwei Beile, ein Messer und einen Hammer gefunden. Mithilfe eines 3D-Modells verglichen wir die eingescannten Klingen und Oberflächen virtuell mit den Verletzungen im Gesicht und an der Schädeldecke. Die beiden Beile und das Messer waren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tatwerkzeuge. Der Amerikaner wurde verurteilt.
Könnte die virtuelle Obduktion die tatsächliche einmal ersetzen?
Tsokos
Nein. Um eine Vergiftung aufzudecken, muss man den Körper öffnen, Herzblut, Mageninhalt, Venenblut und Urin entnehmen und toxikologisch untersuchen. So kann man auch feststellen, wie das Gift in den Körper gelangte. Das kann ein CT nicht.
Ist in den nächsten Jahren mit weiteren forensischen Neuheiten zu rechnen?
Tsokos
Die letzten großen Neuerungen in der Rechtsmedizin waren die Haaranalyse, die Aussagen über den Drogenkonsum treffen kann, der genetische Fingerabdruck und die Computertomografie. Neue Methoden sehe ich derzeit nicht am Horizont, ich erwarte aber eine Verfeinerung der Methoden. Toxikologische Untersuchungen können immer kleinere Mengen nachweisen, immer neue Gifte erkennen. DNA-Analysen werden immer genauer und künftig auch aus sehr alter DNA Erkenntnisse gewinnen können.
Der Geruch bei einer Obduktion ist nicht angenehm. Wie halten Sie das aus?
Tsokos
Es ist eine Mär aus dem "Schweigen der Lämmer", dass wir uns Tigerbalsam unter die Nase schmieren würden. Man muss da durch, so wie das bei einem Müllmann auch zum Job gehört.
Hilft Ihnen der Geruchssinn sogar?
Tsokos
Durchaus. Ich rieche, wenn der Verstorbene große Mengen Alkohol getrunken hat. Der typische Geruch nach Lilien ist ein Hinweis auf eine Harnvergiftung. Steigt mir faulendes Obst in die Nase, deutet das auf einen entgleisten Blutzuckerspiegel hin, also auf Diabetes. Durch Gerüche komme ich auf Ideen, die dann labortechnisch weiter untersucht werden.
Sie haben viele Jahre auf Helgoland obduziert, wo im Wasser immer wieder Männerleichen ohne Hosen auftauchten. War da ein Serienkiller am Werk?
Tsokos
Nein, wir nannten sie Klassiker: Männer mittleren Alters, ohne Hose, mit hohem Alkoholisierungsgrad. Das waren Hochseesegler, die beim Pinkeln über Bord gingen und durch die Strömung an den Stränden angeschwemmt wurden
Man kann Waffen scannen und mit Verletzungen abgleichen. Die Computertomografie ist eine echte Revolution.
Wie oft hatten Sie schon mit Serienmördern zu tun?
Tsokos
Sieben Mal. Besonders in Erinnerung ist mir der Darkroom-Killer Dirk P., der in Berlin Homosexuelle mit Liquid Ecstasy tötete und beraubte. Ich hatte nicht nur seine Opfer auf dem Tisch, sondern auch den Serienmörder selbst. Er hatte sich im Gefängnis mit einem Messer selbst gerichtet.
Manche Serienmörder hinterlassen eine Handschrift. Wollen sie berühmt werden? Oder insgeheim gefasst werden?
Tsokos
Es ist ein Klischee, dass Serienkiller mysteriöse Spuren hinterlassen, aber immer schlauer sind als die Polizei. Sie werden maßlos überschätzt. Meistens haben sie einfach nur Glück, dass sie nicht sofort erwischt werden. Wenn sie eine Handschrift haben, handelt es sich dabei meist um Zwangshandlungen. Oft nehmen sie Gegenstände des Opfers mit, um die Tötung in der Fantasie noch einmal durchleben zu können.
Welche typischen Fälle landen auf Ihrem Obduktionstisch?
Tsokos
Stichverletzungen sind die häufigste Ursache bei Tötungsdelikten. Die Obduktionen dauern trotzdem oft sehr lange, vor allem, wenn es mehrere Täter gibt. Dann muss jeder Stich einer Tatwaffe zugeordnet werden. Schussopfer gibt es übrigens, anders als uns Krimis weismachen wollen, sehr wenige. Bei den meisten handelt es sich um Suizide.
Einmal obduzierten Sie einen Mann, der sich fünf Mal selbst in die Brust geschossen hatte. Wie konnten Sie einen Mord mit Sicherheit ausschließen?
Tsokos
Der Mann erschoss sich in seinem Auto. In dem Moment, als er den ersten Schuss ansetzte, hielt ein voll besetzter Reisebus neben ihm. Mehrere Augenzeugen konnten bestätigen, dass er allein war und selbst die Waffe bediente. Auch nach vier Schüssen war er noch handlungsfähig, erst der fünfte war tödlich.
Ich hatte nicht nur die Opfer des Darkroom-Serienkillers auf dem Tisch, sondern schließlich auch ihn selbst.
Sie haben immer wieder mit verunglückten Autoerotikern zu tun. Wie stellen Sie fest, ob das Opfer allein war?
Tsokos
Das kann man in der Rechtsmedizin gar nicht feststellen. In einem solchen Fall gilt es, den Fundort kriminalistisch penibel zu untersuchen. Oft finden sich Videos, weil sich die Personen gerne filmen. Typischerweise versucht ein Autoerotiker, sich mittels Strangulation einen sexuellen Kick zu verschaffen, rutscht zu weit in die Schlinge, wird ohnmächtig und kann sich nicht mehr retten. Der überwiegende Teil sind übrigens Männer, das Verhältnis im Vergleich zu Frauen liegt bei 50:1.
Bei Mumien denkt man an Leichen, die seit Jahren irgendwo liegen. Ihre jüngste Mumie war drei Wochen alt. Wie geht das?
Tsokos
Auf zugigen, warmen Dachböden dauert es im Sommer manchmal nur wenige Wochen, bis ein Leichnam vollständig mumifiziert ist. Dem Körper wird durch die Umgebungsbedingungen immens viel Wasser entzogen.
Wie finden Sie heraus, wie lange der Tod einer mumifizierten Leiche zurückliegt?
Tsokos
Das ist für die Rechtsmedizin nicht möglich. Es ist wiederum Aufgabe der Polizei, die ermitteln muss, wann der Tote zuletzt lebend gesehen wurde.
Vor einem Scheintod haben sehr viele Menschen Angst. Wie stellt man mit Sicherheit fest, ob jemand tot ist?
Tsokos
Anhand der sicheren Todeszeichen, von denen mindestens eines vorhanden sein muss: Leichenstarre, Leichenflecken, Leichenfäulnis. Wenn auf der Straße jemand kollabiert, muss er so lange reanimiert werden, bis sich Totenstarre oder -flecken zeigen.
In der Hamburger Rechtsmedizin landete einmal eine vermeintliche Leiche, die noch lebte.
Tsokos
Der Notarzt hatte es eilig gehabt und nach einem schweren Kreislaufschock zu schnell den Tod attestiert. Der Student, der die vermeintliche Tote entgegennahm, sah, dass sich im Leichensack etwas bewegte. Die Frau atmete. Er begann sofort mit der Reanimation, zwei Notärzte konnten sie dann stabilisieren. Die Frau starb aber ein paar Tage später in der Klinik, ohne wieder zu Bewusstsein gekommen zu sein.
Unter dem Augenrollen meiner Frau lese ich auf der Straße überfahrene Tiere auf und prüfe, ob sich eine Präparation noch lohnt.
Sie untersuchen auch Verstorbene im Krematorium. Haben Sie schon einmal einen Scheintoten entdeckt?
Tsokos
Nein. Aber ich habe Todesursachen entdeckt, die nicht auf dem Totenschein standen: Pflegefehler bei alten Menschen zum Beispiel, die durch Liegegeschwüre starben.
Wir haben sehr viel über Leichen gesprochen. Tatsächlich haben Sie aber eigentlich mehr mit Lebenden zu tun. Wie das?
Tsokos
Ich bin Leiter der Gewaltschutzambulanz in Berlin. Wir betreuen im Jahr mehr als 1000 Opfer von Gewalttaten. Wir können mit denselben forensischen Methoden herausfinden, wie alt Verletzungen sind und wie sie zustande kamen.
Wie halten Sie es aus, jeden Tag Gewaltopfern gegenüberzustehen?
Tsokos
Man braucht ein robustes Gemüt, darf aber nicht emotionslos sein. Ich kann abschalten, wenn ich abends nach Hause gehe. Am nächsten Tag geht es weiter.
Einige Ihrer Kollegen haben recht gruselige Hobbys. Einer stellt im Keller mit Modelleisenbahnen Zugunglücke nach, ein anderer bewahrt die in Formalin eingelegten Beckenknochen seiner verstorbenen Schwiegermutter auf. Welcher Freizeitbeschäftigung frönen Sie?
Tsokos
Meine Familie ist meine Freizeitbeschäftigung. Wir sind viel im Wald unterwegs, manchmal finden wir von Wölfen gerissene Schafe. Dann erkläre ich den Kindern anhand der Schädel die Zahnabdrücke. Unter dem Augenrollen meiner Frau lese ich auf der Straße überfahrene Tiere auf und prüfe, ob sich eine Präparation noch lohnt. Wir haben schon einen kleinen Zoo zu Hause.
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Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.