IMMANUEL KANT: Beruht Moral auf Verstand oder eher auf Emotion?

Sind moralische Entscheidungen rational?

profil-Serie. Seit wann und warum gibt es Fairness und Ehrlichkeit? Gibt es einen universellen Kodex von Gut und Böse? Die wichtigsten Antworten der modernen Moralstudien.

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Sind moralische Entscheidungen rational?

Es war eine heftige Debatte zwischen Rationalisten und Sentimentalisten: Entspringen moralische Urteile kühlem Überlegen oder blanker Emotion? Immanuel Kant postulierte, dass eine moralische Entscheidung nur von Bedeutung sei, wenn sie auf echter Einsicht beruhe. David Hume widersprach dieser "Begründungsethik" und sah eher das Bauchgefühl am Werk. Heute ist die Frage im großen Ganzen geklärt, und die Antwort bedeutet eine gewisse Schmach für jene, die glauben, rein verstandesgesteuert durch die Welt zu gehen: Was zählt, ist meist emotionales Empfinden. Dazu gibt es ein Gedankenspiel: das Trolley-Dilemma.

Stellen wir uns vor, ein außer Kontrolle geratener Zug rast auf fünf ahnungslose Gleisarbeiter zu. Nun stehen Sie an einem Hebel, mit dem Sie eine Weiche betätigen können. Wenn Sie dies tun, wird der Zug auf ein Nebengleis geleitet, an dem eine einzelne Person steht. Dies bedeutet: Sie nehmen den Tod eines Menschen in Kauf, um fünf andere zu retten. Studien zeigen, dass bis zu 80 Prozent aller Menschen das Umstellen der Weiche für moralisch gerechtfertigt halten. Ganz anders dagegen stellt sich die Situation dar, wenn man sie abwandelt: Nun stehen Sie auf einer Brücke, unter welcher der Zug hindurchfährt. Neben Ihnen steht ein dicker Mann. Sie können die Todesfahrt stoppen, wenn Sie den Mann von der Brücke aufs Gleis stoßen. Plötzlich reagieren die Menschen ganz anders: Nicht einmal mehr ein Fünftel der Befragten fände den Mord vertretbar, obwohl das Ergebnis dasselbe wäre: Man opfert ein Leben für fünf andere. Warum? Weil man in diesem Fall unmittelbar Hand anlegen und einen Menschen direkt töten muss. Und in diesem Fall ist die emotionale Hemmschwelle ungleich höher. Ratio und Resultat zählen also weniger als die Gefühlslage.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft