Skala der Wucht: Wie stark werden Erdbeben in Österreich?
Sonntag, 16. April 1972,11:10 Uhr: Die Kirchgänger im Wiener Neustädter Dom bleiben wie durch ein Wunder unverletzt, als nach einem plötzlichen Erdstoß Mörtel und Mauerteile von der Decke stürzen. Während Leonard Bernstein unbeeindruckt von dem heftigen Zittern im Wiener Musikvereinssaal Mahlers Fünfte dirigiert, beobachten Spaziergänger einige Hundert Meter weiter, wie sich 20 Meter Balustrade von der Fassade der Universität lösen und auf die Straße donnern. Im Restaurant des Donauturms denken die Gäste ob des Schwankens an kräftige Sturmböen. Weiter im Süden, in Guntrams und in Schwarzau, stürzen zwei alte Häuser ein. Gesperrte Straßen, Stromausfälle, zertrümmerte Autos - Feuerwehren und Polizei sind die folgenden Stunden im Dauereinsatz.
Aus dem Radio erfahren die Österreicher am Nachmittag: Sie haben eines der heftigsten Erdbeben des 20. Jahrhunderts erlebt, mit einer Magnitude von 5,3 auf der Richterskala im Epizentrum in Seebenstein, 70 Kilometer südlich von Wien.
Dagegen wirken die jüngsten Erdstöße im Wiener Becken relativ harmlos. Der stärkste erreichte am 30. März in Neunkirchen eine Magnitude von 4,6, am 19. April folgte ein Nachbeben der Stärke 4,4. Vereinzelte leichte Schäden an Gebäuden waren die Folge. Nicht ohne Grund liegen Welten zwischen 1972 und 2021: "Jede Magnitudenstufe bedeutet 30-fach mehr freigesetzte Energie in der Erdkruste", erklärt Anton Vogelmann von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG).So schraubt sich die Zerstörungsskala steil nach oben: Im Vergleich zu Seebenstein 1972 war das verheerende Erdbeben 2010 in Haiti 900 Mal energiereicher - es hatte eine Magnitude von 7,0 und forderte mehr als 300.000 Tote. Beben einer solchen Wucht sind in Österreich nicht zu erwarten. Mit Ereignissen wie jenem von 1972 ist statistisch nur alle 30 bis 40 Jahre zu rechnen, solche wie zuletzt im Raum Neunkirchen kommen alle fünf Jahre vor. Schwächere Nachbeben können in den nächsten Wochen durchaus noch folgen. Der Grund ist das stetige Absinken des Wiener Beckens, das ab und an ruckartige Verschiebungen in acht bis zehn Kilometern Tiefe verursacht.
Wie man sich im Falle eines Erdbebens verhalten sollte
Aus dem Haus zu laufen, ist Reflex Nummer eins, aber grundfalsch. Ein Beben dauert in Österreich nur wenige Sekunden und ist in der Regel vorbei, bis man aus der Tür ist. Genau dann fallen aber häufig Dachschindeln, Rauchfangteile oder Putz von den Gebäuden und fordern immer wieder Todesopfer, warnt Seismologe Anton Vogelmann. Die Schutzsuche unter einem Türstock, die häufig empfohlen wird, ist ebenfalls nicht ideal. Man müsste erstens eine tragende Wand finden und dürfte sich dann auch bei starkem Wackeln nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen.
"Setzen Sie sich besser unter einen stabilen Tisch und halten Sie sich an seinen Beinen fest", empfiehlt Vogelmann. In Österreich sei die Wahrscheinlichkeit minimal, dass die Zimmerdecke nachgebe, aber herabstürzende Lampen oder berstende Fenster seien durchaus eine Gefahr. Der Rat gilt auch für den Urlaub in einem Erdbebengebiet: Wenn Überlebende aus eingestürzten Häusern geborgen wurden, fand man sie oft unter einem Tisch.