Skelette, Mumien, Raubkunst: Der Sammelwütige Felix von Luschan
Von Franziska Dzugan
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Fad wurde dem Anthropologenpaar Emma und Felix von Luschan wahrlich nie. Auf der Rückreise von Südafrika im Oktober 1905 nutzten die beiden „einige müßige Stunden im Roten Meer“, um die Körper der „11 Damen und 84 Herren“ britischer Abstammung an Bord der S. S. Durham Castle nach dem damaligen Stand ihres Fachs zu vermessen. Sie verfuhren mit den Schiffsreisenden ebenso penibel wie mit indigenen Völkern aus aller Welt, wie die beiden später in einem Artikel berichteten – mit einem Unterschied: „Eine Messung des Rumpfes und der Extremitäten war durch die Umstände von Vornherein ausgeschlossen; so mußte unsere Arbeit sich auf die wichtigsten Kopfmaße und die Bestimmung der Körpergröße beschränken.“ Für Ersteres hätten sich die Mitglieder der British Association for the Advancement of Science, darunter „manch hervorragende Leuchten“ der Wissenschaft, „völlig nackt vor uns hinstellen und sich eine halbe oder eine ganze Stunde lang von uns betasten, abgreifen, anpinseln und abzirkeln lassen“ müssen. Das wollte man den edlen Damen und Herren dann doch nicht zumuten.
Felix von Luschan, dessen Todestag sich am 7. Februar zum 100. Mal jährt, gilt in den USA als Urvater der Anthropologie. In Europa sind der 1854 im niederösterreichischen Hollabrunn geborene Forscher und seine wissenschaftlich ebenso begabte Frau Emma hingegen umstritten. Tausende menschliche Skelette, tätowierte Hautproben, Mumien, Schmuck, Raubkunst wie die Benin-Bronzen, Kleidung und Waffen landeten durch die unstillbare Sammelwut der Luschans in Berlin und Wien – und sorgen heute für hitzige Debatten in Museen und Sammlungen.
Das Forscherpaar praktizierte im ausgehenden 19. Jahrhundert, was man heute „Rettungsanthropologie“ nennt. Weil sie indigene Völker gegenüber der westlichen „Zivilisation“ für nicht überlebensfähig hielten, sollten diese möglichst umfassend für die Nachwelt festgehalten werden. Die Luschans wollten damit nichts weniger als Menschheitsgeschichte schreiben: Die vermeintlich untergehenden Völker galten damals als Schlüssel zur Rekonstruktion der menschlichen Entwicklung. Sie rafften deshalb alles zusammen, was sie kriegen konnten – und stopften es in die Depots des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin, für das sie fast ihr gesamtes Berufsleben lang arbeiteten. Dabei profitierten sie maximal vom Kolonialismus, auch wenn sie diesen immer wieder als „unmenschlich“ anprangerten: Teils reisten sie selbst um die Welt, hauptsächlich aber beauftragten sie Kolonialbeamte, Diplomaten und Forschungsreisende, bei den Völkern Afrikas und Asiens wahre Raubzüge zu veranstalten.
Eigentlich hatte Felix von Luschan in Wien und Paris Medizin studiert. Als junger Expeditionsarzt begleitete er Archäologen zu Ausgrabungen in der Türkei – wo er schnell seine Leidenschaft für die Disziplin entdeckte und begann, selbst Grabungen zu leiten. Mit großem Erfolg: Nahe des Dorfes Zincirli in Anatolien entdeckte er die Ruinenstätte von Sam’al, der Hauptstadt eines späthethitischen Königreiches, die er von 1888 bis 1902 freilegte. Auch die Anthropologie hatte Luschan immer fasziniert, und so nützte er seine Grabungsreisen dafür, die dort lebenden Völker zu dokumentieren.
Schon früh begann ihn Emma von Hochstetter zu begleiten. Sie war eine begnadete Fotografin und Forscherin, die sich ihr Wissen selbst angeeignet hatte; Studieren war Frauen damals noch verboten. Kennengelernt hatten sich die beiden über Emmas Vater Ferdinand von Hochstetter, einen berühmten Geologen und Expeditionsleiter. 1885 heirateten sie und gingen nach Berlin, wo Felix von Luschan eine Stelle als Direktorialassistent am Museum für Völkerkunde ergattert hatte – und das große Sammeln begann.
Wie man menschliche Köpfe auskocht
Neben Alltagsgegenständen und Kultobjekten ging es den Luschans um die Menschen selbst: Anhand der Physiognomie wollten sie die Entwicklung und die Vielfältigkeit der Völker studieren. Für ihre Studien bevorzugten sie Schädel und Skelette; 5000 Individuen aus allen Erdteilen landeten so in Berlin, weitere 5000 verkauften die Luschans später nach New York. „Bei vielen weiß man bis heute nicht, woher sie stammen. Hat man sie auf Friedhöfen ausgegraben? Von Grabräubern gekauft oder von Exekutionen mitgenommen?“, sagt Maria Six-Hohenbalken. Die Sozialanthropologin von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) stieß auf eine makabre Anleitung zur Feldforschung. Darin beschreibt Felix von Luschan detailreich, wie man den Kopf eines Toten richtig abtrennt und auskocht, um den fleischlosen Schädel für Forschungszwecke verwenden zu können.
Heute stellt sich die Frage: Was tun mit all den Exponaten? Die sogenannte S-Sammlung, jene 5000 Skelette, die die Luschans in knapp 40 Jahren in die deutsche Hauptstadt geschafft hatten, wird heute im Berliner Museum für Ur- und Frühgeschichte bewahrt. Dort sind Historikerinnen und Historiker seit Jahren damit beschäftigt, die Herkunft der menschlichen Überreste zu klären und sie, wenn möglich, an ihre Ursprungsgesellschaften zurückzugeben. Im Sommer 2022 übergab Deutschland zudem die ersten berühmten Benin-Bronzen an Nigeria. Auch hier hatte Felix von Luschan die Finger im Spiel: Er hatte die Kunstwerke in großer Zahl in London ersteigert – freilich in vollem Wissen darüber, dass die Briten das Königreich Benin 1879 gewaltsam unterjocht und dessen Schätze geraubt hatten.
In Österreich ist die Künstlerin, Kuratorin und Anthropologin Katarina Matiasek mit der Aufarbeitung des Erbes der Luschans betraut. Sie stieß 2017 bei Recherchen am Department für Evolutionäre Anthropologie der Uni Wien immer wieder auf Gegenstände, die von den Luschans signiert worden waren; allen voran Fotos, aber auch Gipsabgüsse von Gesichtern und Haarproben von Menschen aus aller Welt. Schließlich stellte sich heraus: Matiasek hatte die lange verschollen geglaubte Privatsammlung der Luschans entdeckt. Emma von Luschan hatte sie nach dem Tod ihres Mannes der Uni Wien übergeben; in der Zeit des Nationalsozialismus hatte man diese zerpflückt und in die allgemeine Sammlung einsortiert. In mühevoller Kleinarbeit pickte Matiasek mehr als 6000 Fotos und andere Artefakte wieder heraus.
Soli: ein kleiner Bub als Modell
Darunter fand Katarina Matiasek eine Gesichtsmaske und Fotos von Soli, einem Buben aus Papua-Neuguinea. Zu ihm pflegten die Luschans eine besondere Beziehung: Ihr Freund Fritz Rose, der Kaiserliche Kommissar von Deutsch-Neuguinea, hatte den Neunjährigen 1892 „zur Erziehung“ nach Berlin verschleppt, bei sich zu Hause aufgenommen und zwei Jahre lang zur Schule geschickt. Felix von Luschan schwärmte in einem Bericht von Solis „guten Kenntnissen seiner engeren Heimath, seinem vorzüglichen Gedächtnis und seiner mehrfach auf die Probe gestellten Wahrheitsliebe“. Ihm verdanke er „bereits vielfache Belehrung über verschiedene Stücke unserer Sammlung“.
Die Luschans liehen sich den Buben immer wieder aus – allerdings nicht nur wegen dessen Expertise, sondern vor allem als Modell für ihre anthropologischen Praktika. An Soli lernten angehende Kolonialbeamte, Menschen zu „dokumentieren“: Wie man Gips richtig im Gesicht verteilte, um standardisierte Masken zu erhalten; wie man Haare in Glasphiolen verwahrte. Und wie man Menschen in sogenannten „Typenporträts“ frontal und im Profil ablichtete. „Man photographiere alle Dinge, die man nicht mitnehmen kann“, lautete ein Leitsatz der Luschans.
Die Suche nach Solis Nachfahren
Katarina Matiasek macht nun, was in der Anthropologie durch das toxische Erbe des Kolonialismus immer wichtiger wird: Sie recherchierte – unter anderem – Solis Lebensweg und fand dessen Nachfahren. Zwei Jahre lang war der Bub in Berlin geblieben, bis man ihn als Elfjährigen in den Südpazifik zurückschickte. Die Idee: Der „zivilisierte“ Rückkehrer sollte seine Mitmenschen von der christlichen Bildung überzeugen. Tatsächlich landete der Bub zunächst in einer Missionsstation auf den abgelegenen Tami-Inseln. Von dort schrieb er seinem „Gönner“ Rose in schönster Kurrentschrift: „Und ich denke oft an Berlin.“
Endlich zurück auf Papua-Neuguinea, wurde Soli ein „sehr geschickter Vorarbeiter“ der Missionsdruckerei, so ein Missionar in seinen Lebenserinnerungen. Soli heiratete schließlich und bekam einen Sohn. Dem Berliner Plan, seine Mitmenschen zu belehren, kam Soli nicht immer nach. Er schockierte die Missionare nachhaltig, als er sich als Jugendlicher 1902 an „einem Rachezug seiner Dorfgenossen beteiligte und den ersten Speer auf das ausersehene Opfer warf“. Wie „Seinesgleichen“ habe sich Soli an der Fehde mit dem Nachbardorf beteiligt und auf seine „Stammesgenossen nicht die geringste heilsame Wirkung ausgeübt“.
Katarina Matiasek fand die Nachfahren Solis in Papua-Neuguinea und beauftragte 2020 einen einheimischen Missionar, ihnen Abzüge seiner Fotos auf die Pazifikinsel zu bringen. Aus Erfahrung weiß die Anthropologin: „Die Rückgabe ist immer heikel, weil sie alte Wunden aufreißen kann.“ Im Falle Solis aber freuten sich die Angehörigen und rekonstruierten 2021 aufwendig ihren Stammbaum für eine Ausstellung im Photoinstitut Bon-artes in Wien. Im Todesjahr Felix von Luschans ist dort nun wieder eine Ausstellung geplant. Abermals sollen in deren Zentrum weniger die Luschans stehen als die Lebenswege der Menschen, die das Paar einst sammelte.
Samen für die Rassenideologie der Nazis
„Ambivalenter könnte ein Forscher kaum sein als Felix von Luschan“, sagt Sozialanthropologin Maria Six-Hohenbalken. Nach all dem manischen Sammeln und Vermessen kam er in seinem letzten Buch zu folgendem Schluss: „Alle Versuche, die Menschheit nach Hautfarbe, nach der Länge oder der Breite ihrer Hirnkapsel oder nach Art ihrer Haare usw. in künstliche Gruppen einzuteilen, führen völlig in die Irre.“ Auch wenn Felix von Luschan im Grunde ein Menschenfreund war, der stets gegen den aufkeimenden Antisemitismus und Antiliberalismus wetterte: Seine Forschung säte Samen für die Rassenideologie der Nazis. Ab 1911 hatte Luschan den ersten Lehrstuhl für Anthropologie an der Berliner Humboldt Universität inne. Viele seiner Schüler wurden „Rassenhygieniker“, einige bekleideten unter den Nazis hohe Ämter.
Die Nationalsozialisten bedienten sich zudem großzügig im Fundus der Luschans. Ein Beispiel dafür ist das Porträt des lokalen Herrschers Kissilerobo aus dem damaligen Deutsch-Ostafrika, das binnen kürzester Zeit zur „Rassen-Ikone“ avancierte. Die Luschans hatten das Profilbild des schönen, großgewachsenen Mannes aus dem heutigen Grenzgebiet zwischen Ruanda und Uganda genutzt, um die damals viel diskutierte „Hamiten-Theorie“ zu stützen. Ihr zufolge würden in Afrika zwei „Menschentypen“ existieren: die kulturell höherstehenden „Hamiten“, die von frühen Einwanderern aus Asien, Ägypten oder Europa abstammten – und die rückständigen, „negroiden“ Afrikaner. Kissilerobo war demnach ein Prototyp des „Hamiten“.
Die Nazis ließen nach Kissilerobos Fotografie, die in Lehrbüchern veröffentlicht worden war, eine „Rasseplastik“ fertigen. Die lebensgroße Skulptur war 1939 in der Sonderschau „Ostmarkdeutsche als Forscher und Sammler in unseren Kolonien“ im Wiener Naturhistorischen Museum zu sehen. Kissilerobos feine Gesichtszüge bestätigten die Rassenlehre der Nazis, derzufolge sich körperliche Merkmale über Jahrtausende erhalten. Heute lagert die Figur des Kissilerobo im Naturhistorischen Museum. Seine Nachfahren konnten bisher, trotz intensiver Bemühungen, nicht ausgeforscht werden.
Zwei Medienstars Neuseelands
Mehr Glück hatte Katarina Matiasek bei Porträts der Schwestern Bella und Mākereti Papakura aus Neuseeland. Im Nachlass der Luschans fand sie Porträts der beiden in traditionellen Umhängen der Māori, sanft lächelnd, mit nackt hervorblitzenden Schultern. „So wurden junge Frauen in der kolonialen Fotografie häufig dargestellt“, sagt Matiasek. Umso erstaunter war sie, hinter den Bildern zwei frühe Medien-Stars zu entdecken: Als berühmte, traditionelle Tänzerinnen und Reiseführerinnen gaben sie Fotopostkarten von sich in Auftrag, für die es damals einen blühenden Markt gab. „Bella und Mākereti Papakura waren keineswegs Opfer zeitgenössischer Schaulust, sondern behaupteten sich und ihre Kultur im aufkeimenden Tourismus Neuseelands“, sagt Matiasek. Mākereti studierte später in Oxford, ihre erste Ethnografie aus Sicht der Māori erschien posthum.
Die Luschans waren obsessive Menschensammler – dabei machten sie übrigens vor sich selbst nicht Halt. In ihrem Nachlass fanden sich Gipsabdrücke ihrer Gesichter, ihre „Typenfotos“ und eine blonde Haarlocke Emma von Luschans. Demnach ist es kein Wunder, dass sie sich die Damen und Herren an Bord der S. S. Durham Castle nicht entgehen ließen. Denn das Paar war, wie es feststellte, über die Anthropologie der „eigenen Stammes- und Standesgenossen ungleich schlechter orientiert“ als über jene „vieler Stämme in Innerafrika“.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.