Speis und krank: Wie gefährlich sind unsere Lebensmittel?
Unlängst erfuhren wir von einem Skandal ungeheuren Ausmaßes, betreffend die geheimen Machenschaften finsterer Mächte. Die Kurzversion der empörenden Enthüllung lautet: Die Lebensmittelindustrie mixt ihre Produkte so, dass möglichst viele Konsumenten darauf ansprechen. Und außerdem: Fett und Zucker im Übermaß sind ungesund und führen langfristig zu Übergewicht. Wer hätte das gedacht?
Dem deutschen Magazin "Der Spiegel", traditionell eigentlich ein Hort kritisch-differenzierten Hinterfragens oberflächlicher Sichtweisen, waren diese Banalitäten gerade eine Titelgeschichte wert - und boten Stoff für acht Seiten platten Alarmismus. Tenor: Modernes Essen mache krank und verdiene die Bezeichnung Lebensmittel gar nicht mehr. Solch "ultraverarbeitete" Nahrung wirke wie eine heimtückische Droge, gebraut nach teuflischen Rezepturen von vermutlich unablässig böse kichernden Magiern in einer Art Hightech-Hexenküche. So würden die Menschen zu willenlosen Sklaven profitgieriger Verschwörer, zu bedauernswerten Pizza-Junkies, die wie ferngesteuert zum Supermarkt dackeln und wahllos kaufen, was ihnen befohlen wird. Die Dicken seien tatsächlich "mehr Opfer als Täter", klagt der "Spiegel","verführt von einer global agierenden Lebensmittelindustrie".
Der "Spiegel" war zuletzt keineswegs das einzige Medium mit Botschaften solchen Zuschnitts. Der ORF widmete dem "Süßen Gift" kürzlich einen ganzen Schwerpunkt, und der Buchmarkt wird überschwemmt von Werken, deren Titelblatt etwa Schusswaffen zieren, geformt aus Zuckerkristallen. Die Kernaussage ist stets ähnlich: Essen sei heute zu etwas zutiefst Unergründlichem geworden, strotze vor nebulöser Chemie mit ungeahnter Wirksamkeit, die entweder krank und dick mache (wobei zwischen den beiden Folgen oft kaum unterschieden wird) oder aber den Schlüssel zu ewiger Vitalität berge. Letzteres thematisierte die "Zeit" mit der Frage: "Kann Essen heilen?" Und lieferte sehr ausführlich das seriöse, wenn auch leicht unbefriedigende Resultat: Weiß man nicht genau.
Schreckensberichte mit Konspirationshintergrund wie jener des "Spiegel" sind jedoch vor allem eines: ärgerlich. Weil sie von wahren Ursachen ablenken und die Aufmerksamkeit auf imaginierte, ins Monströse überhöhte Feindbilder lenken; weil sie zugleich ernsthafte Debatten über die Wurzeln von Fehlernährung und Fettleibigkeit außer Acht lassen; weil sie dabei auch Kritikpunkte übersehen, die sich die Lebensmittelhersteller tatsächlich gefallen lassen müssen; weil sie sich selbst widersprechen (während die Hamburger Kollegen zunächst noch von strategisch ausgeheckten Zauberformeln der Industrie sprechen, mit denen wir gefügig gemacht werden, wird später ein schnöder Kalorienüberschuss als Grund allen Übels angeführt, wobei beides verfehlt sein dürfte); und weil sie letztlich unsere Intelligenz beleidigen. Sind wir so dumm, dass wir uns ohne Gegenwehr von einem naturgemäß gewinnorientierten Industriezweig über den Tisch ziehen lassen? Sind wir zu einfältig, um zu verstehen, dass es sich hier eher nicht um karitative Organisationen handelt? Und sind wir zu unbeholfen, um herauszufinden, wie Nahrung wirklich entsteht?
Der Chemiebomben-Mythos
Was also ist drin in "ultraverarbeiteter" Nahrung?
Zum Beispiel Konservierungs-und Verdickungsmittel, Emulgatoren und Feuchthaltemittel. Nicht zu vergessen: Glutamat. Klingt alles beängstigend, aber worum handelt es sich dabei? Zum Konservieren werden neben Zucker etwa Antioxidantien verwendet - Stoffe wie Vitamin C, die wir gerne als Nahrungsergänzungsmittel extra um teures Geld kaufen, weil sie angeblich Krankheiten vorbeugen. Verdicker wie Alginat stecken seit Jahrzehnten im Ketchup und bestehen aus langkettigen Zuckermolekülen, die Wasser binden. Das gefürchtete Glutamat wiederum, zuständig für den herzhaften Geschmack Umami, ist ein Salz der Glutaminsäure - eines Eiweißbausteins, der ganz natürlich im menschlichen Körper vorkommt und als Botenstoff der Nervenzellen dient. Die Zahl solcher Ingredienzien ließe sich fast beliebig fortsetzen, doch gemeinsam ist ihnen: "Haben zwei Stoffe eine idente chemische Struktur, kann der Körper nicht unterscheiden, welcher von beiden natürlich und welcher künstlich hergestellt wurde. Es handelt sich um ein und denselben Stoff, der immer gleich verwertet wird", sagt Helmut Jungwirth, Molekularbiologe, Leiter des Geschmackslabors an der Karl-Franzens-Universität Graz und Professor für Wissenschaftskommunikation.
Letztlich endet hier das Mysterium der undurchsichtigen Lebensmittelverarbeitung. Nun muss einem eine Liste an Zutaten vom Umfang eines kleinen Telefonbuchs keineswegs sympathisch sein. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Substanzen schädlich oder gar giftig sind. Und wenn man keinen dicht mit Zusatzstoffen und E-Nummern bedruckten Karton heimtragen möchte, gibt es eine einfache Lösung: Man kauft solche Produkte nicht. Und man verzichtet auf Fertiggerichte.
In einer Hinsicht beherrscht die Lebensmittelindustrie ihr Handwerk aber auf jeden Fall, was man durchaus manipulativ nennen könnte - wenn auch nicht im Sinne von geheimnisvollen, der Außenwelt verborgenen Rezepturen: Die sechs Geschmäcker des Menschen - sauer, salzig, bitter, süß, fettig und Umami - studieren die Unternehmen genauestens und leiten aus diesem Wissen Kombinationen ab, die dahingehend optimiert sind, unsere Vorlieben so exakt zu treffen, dass wir mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit zugreifen. "Geschmacksverstärker wie Glutamat, Inosinsäure oder Guanylsäure werden zwar gezielt eingesetzt", sagt Jungwirth. "Das hat aber nichts mit Schädlichkeit zu tun. Das sind Verbindugen, die in der Natur vorkommen oder auch vom menschlichen Körper hergestellt werden." Gut schmecken Angehörigen der Spezies Homo sapiens dabei besonders zwei Substanzen: Fett und Zucker.
Wird Zucker als Droge missbraucht?
Wenn eindringlich gewarnt wird, dass uns geschickt verarbeitete Nahrung in die Abhängigkeit treibt, vergiftet oder krank macht, geht es stets um diese beiden Stoffe. Ihnen die Schuld an Übergewicht und Diabetes zuzuweisen, ist natürlich nicht falsch, im Grunde aber keine Überraschung. Und es geht auch nicht darum, dass getrickst würde, um eine Art Super-Zucker oder Mega-Fett zu erzeugen, die übermäßiges Suchtpotenzial entfalten. Vielmehr sind Fett und Zucker schlicht die wichtigsten Treibstoffe, um aus Nahrung möglichst rasch und effizient Energie zu gewinnen, und der Mensch wurde von der Evolution von jeher auf eine starke Vorliebe für diese Energielieferanten gepolt. Was uns heute als moderne "Sucht" suggeriert wird, ist in Wahrheit eine von der Biologie serienmäßig installierte Standardausstattung. Wir sind "süchtig" nach Fett und Zucker und können uns dabei schwer beherrschen, weil wir von der Natur so programmiert sind. In der Frühzeit musste der Mensch auch danach trachten, verdorbenes oder giftiges Essen zu meiden, und Süßes ist im Allgemeinen nicht toxisch.
Es ist aber völlig einerlei, aus welcher Quelle diese Stoffe stammen - ob aus den viel gescholtenen "ultraverarbeiteten" Snacks oder aus der ob ihrer Bekömmlichkeit gerühmten Wiener Küche mit Schweinsbraten, Blutwurst, Kaiserschmarren, gebackenem Fisch, gebackenem Emmentaler und gebackenem Toast. (Letzteres übrigens eine Spezialität, die nur noch in einigen wenigen Eckwirtshäusern in Randbezirken gereicht wird und deren Verzehr zuverlässig dafür sorgt, dass man die Folgestunden halbkomatös niedergestreckt in einer Art Dämmerzustand überdauert.) Zucker steht neuerdings besonders unter Generalverdacht, zumal verschiedene Formen davon mit teils unheimlich klingenden Bezeichnungen existieren, doch grundsätzlich gilt: Aller Zucker besteht im Wesentlichen aus Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff, worauf schon der Sammelbegriff Kohlenhydrate hinweist. Die Formel für das einzelne Zuckermolekül heißt C . Je nachdem, wie viele dieser Moleküle man aneinanderhängt, erhält man Einfach-, Zweifach-, Mehrfach- oder Vielfachzucker. Auf den Verpackungen finden wir dies unter Namen wie Glukose, Fruktose, Laktose, Maltose, Oligo- oder Polysaccharide. Die Fruktose bildet insofern eine Ausnahme, als sich der lange als besonders freundlich gepriesene Fruchtzucker direkt in der Leber ansammelt und zu deren Verfettung führen kann.
Das Problem ist jedenfalls nicht, dass Zucker oder Fett irgendwie anders wären als früher; dass immer mehr Menschen adipös und Diabetiker werden, ist wohl eher auf die Menge zurückzuführen. Das ist zwar eine fast peinlich banale Feststellung, zugleich aber angesichts all der Alarmmeldungen über eine gezielte Vergiftung der Menschheit eine notwendige. Korrekt ist zwar der Einwurf, dass es nicht mehr ganz leicht zu erkennen ist, wo heute überall Zucker hineingeschummelt wird. Ob Fischkonserven, Joghurt, Wurst, Essiggurken, Sugo oder Heringsalat - fast überall wird unauffällig Zucker beigemengt, sei es, um den Gaumen zu erfreuen, sei es, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Wahr ist aber ebenso, dass die wahren Zuckerbomben dann doch leicht zu identifizieren sind: besonders die enorm gesüßten Softdrinks, die noch dazu kaum ein Sättigungsgefühl erzeugen, sodass zusätzlich noch gegessen wird und sich der Zuckerkonsum aufsummiert. Zutreffend scheint drittens zu sein, dass durch solch sehr rasch konsumierbare Produkte voller geballter Energie ein sensibles Gleichgewicht aus dem Tritt gerät: Zucker aktiviert hormonell unser Belohnungssystem. Während eines traditionell bedächtigen Verzehrs sollte dieses befriedigt werden und schließlich Sättigung signalisieren. Das Tempo der Nahrungsaufnahme durch Softdrinks oder labbrige süße Brötchen übertölpelt jedoch diesen Mechanismus - das Belohnungssystem hat nicht verstanden, dass es bereits genug ist, und verlangt nach mehr.
Doch hier gilt ebenfalls: Wir müssen der Nahrungsmittelindustrie ja nicht den Gefallen tun, derlei fragwürdige Erzeugnisse zu kaufen.
Killer-Kalorien
Sogar der "Spiegel" gelangt gegen Ende seiner Anklage - neben dem überraschenden Ratschlag, sich ausgewogen zu ernähren und viel Gemüse zu essen - zur Einschätzung, dass vor allem die Zahl der Kalorien den Ausschlag der Waage beeinflusse. Das ist angesichts der sonstigen Aussagen in dem Text insofern fast ein Treppenwitz, als es sich just um das Standardargument der Lebensmittelindustrie handelt, wonach nicht per se Fett, Zucker oder hinterhältig komponierte Convenience-Gerichte schuld seien, sondern einfach zu viel Energie bei zu wenig Bewegung. Soll heißen: Willensschwache Menschen futtern halt zu viel und führen sich ein Übermaß an Kalorien zu.
Auf den ersten Blick klingt dies plausibel und untermauert die Rechnung, wonach mehr Essen zu mehr Kilos führt. Energie entsteht nicht aus dem Nichts und verschwindet auch nicht dorthin, sondern wird stets nur umgewandelt. Wer Energie in Form von Nahrung aufnimmt, ob aus dem Chemielabor oder aus Omas Küche, muss diese mittels Bewegung wieder loswerden, oder er speichert sie am Körper - verloren geht die Energie aber nie. Gemessen wird diese Energiebilanz in Kalorien.
Vielleicht ist die Sachlage aber ein wenig komplexer , wie Forscher seit einigen Jahren diskutieren. Womöglich greift es doch zu kurz, ausschließlich die Kalorienzahl als ehernes Maß anzusehen (so wie sich vieles im Leben nicht einfach in allgemeingültige Zahlen pressen lässt), weil noch ein paar Einflussfaktoren hinzukommen - und da könnte der Zucker nun auf spezielle Weise eine tragende Rolle spielen. Beispielsweise ist es nicht einerlei, woraus wir Energie schöpfen, weil dieser Prozess je nach Lebensmittel unterschiedlich aufwendig ist - das Gewinnen von Energie also seinerseits Energie kostet, die sich in der Gesamtbilanz niederschlägt. Während der Körper sich anstrengen muss, wenn er bestimmten Pflanzen oder Nüssen den Nährwert entziehen will, geht dies bei Kohlenhydraten sehr leicht. In diesem Fall extrahieren wir leicht und mit wenig Einsatz viel Energie. Isolierte Kalorienangaben wären demnach trügerisch. Zudem scheint nicht jeder Mensch gleich zu sein, wofür vor allem unzählige winzige Mitbewohner verantwortlich sein könnten, die erst allmählich erforscht werden: jene rund 100 Billionen Mikroorganismen in unserem Körper, Mikrobiom genannt, deren Zusammensetzung höchst individuell ist und die wohl nicht nur über die Neigung zu vielen Krankheiten entscheiden, sondern auch darüber, wie wir Nahrung verarbeiten. Je nach Komposition dieser Bakterienkultur beim einzelnen Menschen könnte auch die Aufnahme von Energie aus einem Lebensmittel von Mensch zu Mensch verschieden sein -und damit die Wahrscheinlichkeit für die Einlagerung überschüssiger Energie.
Für jeden gilt eben nicht dasselbe, genau wie Nahrung nicht allein aufgrund ihrer Herstellungsweise gut oder schlecht ist - was auch zu Beobachtungen passt wie jener der Innsbrucker Diätologin Johanna Lhotta, die bei ihren Klienten nicht immer klare Zusammenhänge zwischen Ernährungsweise und Körperfülle sieht. Nicht selten seien es Studenten oder Alleinstehende, die sich überwiegend von Fast Food ernähren - und dennoch gertenschlank seien.
Was wieder zur relativ simplen und dennoch zutreffenden Erkenntnis führt, dass wohl jeder auch selbst darauf achten muss, welche Mengen wovon er sich zumuten kann. Und dass der Zorn auf skrupellose Außenfeinde eher keine Kilos verbrennt.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 14 vom 3.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.