Spitzbergen: Eine Stadt schmilzt
Plötzlich piepste der Alarm von Trond, Line Nagell Ylvisåkers Mann. Er ist Feuerwehrmann, sie Journalistin bei der Wochenzeitung "Svalbardposten". Zwischen dem Windelwechseln aktualisierte sie die Website ihrer Zeitung und realisierte erst langsam, was mitten in ihrem 2100-Seelen-Städtchen passiert war: Am Sukkertoppen, dem Hausberg von Longyearbyen, hatte sich eine Lawine gelöst und eine ganze Siedlung unter sich begraben. Erst später wird Ylvisåker erfahren, dass ihre Freundin, die Meteorologin Eli Anne Ersdal, in jenen Minuten um ihr Leben rang. Ersdal war am Morgen des 19. Dezembers 2015 mit einer befreundeten Familie beim Kaffee gesessen, als die Schneemassen das kleine Haus ihrer Gastgeber mit voller Wucht trafen. Es drehte sich einmal um die eigene Achse. Ersdal wurde quer durch die Küche geschleudert und im Schnee begraben. 38 quälende Minuten dauerte es, bis die Retter sie befreiten. Auch die anderen im Haus überlebten. Ein Mann und ein zweijähriges Mädchen aus der Siedlung starben.
profil: Die Lawine war der Anfang einer Reihe von Katastrophen, die über Ihre Stadt hereinbrachen. Fühlen Sie sich noch sicher in Longyearbyen?
Ylvisåker: Die Lawine war ein Schock. Dann kam 2016, das bisher wärmste und regenreichste Jahr in Spitzbergen. Es gab viele Schlammlawinen, immer wieder wurden Teile des Dorfes evakuiert. Im Februar 2017 saß ich in der Redaktion, als wieder eine Lawine vom Sukkertoppen abging und die Schneemassen sich bis ins Stadtzentrum wälzten. Man kann nie gänzlich sicher sein vor Naturkatastrophen. Aber ich fühle mich heute sicherer als früher. profil: Woran liegt das?
Ylvisåker: An meinen Gesprächen mit Klimaforschern, durch die ich die Umwelt um uns herum besser verstehen lernte. Und an den Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt. Während wir sprechen, fliegen die Hubschrauber Schneezäune auf den Sukkertoppen. Er wird bald bedeckt sein mit Lawinenschutz. Zudem haben die Behörden einige Häuser in den Gefahrenzonen schleifen lassen und neue Wohngebiete gebaut.
profil: Auch wenn die Welt ihr Klimaziel von zwei Grad Erwärmung schafft, wird es auf Longyearbyen bis zum Ende des Jahrhunderts um acht Grad wärmer sein. Warum vollzieht sich der Klimawandel bei Ihnen wie im Schnelldurchgang?
Ylvisåker: Der Hauptgrund ist das schmelzende Meereis. Früher bildete es eine Isolationsschicht zwischen dem wärmeren Wasser und der kalten Polarluft. Jetzt wärmt das Wasser die Luft. Im März und April waren früher minus 25 Grad völlig normal. Jetzt, wo das Eis in den Fjorden die meiste Zeit des Jahres fort ist, sind es selten unter minus 15 Grad.
profil: Warum sind die Polarnächte finsterer geworden?
Ylvisåker: Weil der Schnee fehlt. Ab Mitte November wird es hier nicht mehr hell. Der blanke Fels taucht unsere Stadt mehr als drei Monate in komplette Finsternis.
Die Einwohnerinnen und Einwohner Spitzbergens leiden nicht nur immens unter dem Klimawandel, sie tragen auch entscheidend dazu bei. Unfassbare 75 Tonnen CO2 werden einem Spitzbergener pro Jahr zugerechnet. Zum Vergleich: Ein Durchschnittsnorweger verursacht einen Ausstoß von 8,4 Tonnen, weltweit liegt er bei 4,8 Tonnen pro Person. Der Hauptgrund ist das Kohlekraftwerk, es ist derzeit noch die einzige Energiequelle in Longyearbyen. Hinzu kommt die umständliche Versorgung. Alles muss auf die Inseln hoch im Norden geschippert oder geflogen werden.
Arbeitsessen, Verwandtschaftsbesuche, Urlaub: Die Spitzbergener sind außerdem allesamt Vielflieger. Eine Studie des dortigen Universitätszentrums zeigte, dass mit jedem Flug nach Oslo und wieder zurück genug CO2 anfällt, um einen Quadratmeter arktisches Sommereis zum Schmelzen zu bringen-pro Passagier, wohlgemerkt.
profil: Fliegen Sie noch ohne schlechtes Gewissen?
Ylvisåker: Nein, das hat sich komplett verändert. Als ich jünger war, war ich stolz auf meine Vielfliegerkarte und meine Weltgewandtheit. Heute versuche ich, so wenig wie möglich zu fliegen. Wenn ich aufs Festland muss, bleibe ich länger, besuche Freunde und Verwandte, gehe zum Augenarzt und mache alle anstehenden Erledigungen. Zum Glück haben sich viele berufliche Meetings durch die Pandemie ins Internet verlagert.
profil: Als Sie für Ihr Klimabuch recherchierten, überlegten Sie, ob es noch vertretbar sei, auf Spitzbergen zu leben. Was hat Sie davon abgehalten, zurück aufs Festland zu ziehen?
Ylvisåker: Die politische Lage. Spitzbergen ist eine neutrale, entmilitarisierte Zone. Im Spitzbergenvertrag von 1925 steht, dass hier jeder ohne Visum und Arbeitsvertrag leben darf. Das schmelzende Eis macht Ressourcen zugänglich und weckt Begehrlichkeiten. Ich dachte darüber nach, die Natur hier einfach sich selbst zu überlassen. Aber wenn Norwegen Spitzbergen aufgeben würde, wer würde nachkommen, und wie würden sie die Natur behandeln? Ich denke es ist wichtig, dass wir die Region so gut wie möglich für künftige Generationen erhalten.
profil: Warum gibt es keine erneuerbaren Energien auf Spitzbergen?
Ylvisåker: Longyearbyen macht gerade einen Wandel durch. Wir wollen eine grünere Stadt werden. Das letzte Kohlekraftwerk schließt 2023. Derzeit überlegt die Regionalregierung, wie wir Sonne, Wasser, Erdwärme und Wind nutzen können. Dieselgeneratoren werden beim Wechsel zu den Erneuerbaren helfen.
profil: Trotz aller Katastrophen zweifeln viele in Spitzbergen am menschengemachten Klimawandel. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Ylvisåker: Es ist eine unbequeme Wahrheit. Viele Menschen sagen, dass sich das Eis und das Wetter hier immer schon verändert hätten. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das. In meinem Buch versuche ich zu erklären, wie wir mit unserem CO2-Ausstoß den natürlichen Kreislauf in der Arktis aus dem Gleichgewicht bringen.
profil: Wie haben Ihre Landsleute das Buch aufgenommen?
Ylvisåker: Überraschend positiv. Sogar die alten Männer aus der Stadt haben es gelesen. Ihr einziger Kommentar war: "Du warst seekrank!"Das hat mich gefreut, denn die Stelle, wo ich meine Reise mit dem Forschungsschiff Helmer Hanssen beschreibe, ist weit hinten im Buch.
profil: Verstehen Sie den Ärger vieler Spitzbergener über den Ausstieg aus der Kohle?
Ylvisåker: Durchaus. Longyearbyen wurde als Kohlestadt gegründet, und viele sind stolz darauf. Sie sehen nicht ein, warum wir unsere Steinkohlemine schließen, während Großbritannien ein neues Braunkohlewerk baut. Steinkohle hat einen weitaus höheren Heizwert, und die Industrie braucht sie, um Photovoltaikanlagen und Windräder zu bauen.
profil: Viele Inseln könnten durch den Anstieg des Meeresspiegels untergehen. Besteht diese Gefahr auch auf Spitzbergen?
Ylvisåker: Das Gegenteil ist der Fall. Durch das immer geringere Gewicht der Gletscher erhebt sich die Insel bereits jetzt aus dem Wasser. Wissenschafter rechnen außerdem damit, dass die Südspitze der Insel abbrechen wird, weil sich die Gletscher in der Hambergbukta zurückziehen. In 35 bis 45 Jahren könnte es so weit sein, wenn die Schmelze im heutigen Tempo voranschreitet. Vielleicht geht es sogar schneller.
profil: Was wären die Folgen?
Ylvisåker: Das ist ungewiss. Die entstehende Wasserstraße könnte das durch den Golfstrom erwärmte Wasser durchlassen und den heute kälteren Osten Spitzbergens aufheizen. Sollte der Strom in die andere Richtung verlaufen, könnten kältere Wassermassen den Westen abkühlen.
Drei Eisbären trotteten direkt auf Line Nagell Ylvisåker, ihren Mann und ihre zwei kleinen Kinder zu. Die Ylvisåkers waren zu Fuß auf einer Landzunge unterwegs, und die Bärin und ihre zwei fast erwachsenen Jungen waren nicht einmal mehr 50 Meter entfernt. "Ich nehme die Kinder, du verscheuchst die Bären", sagte Line Ylvisåker zu ihrem Mann. Entschlossen trat er den Tieren entgegen und feuerte eine rote Leuchtrakete in die Luft, während sie, an jeder Hand ein Kind, den Strand entlang Richtung Hütte hastete.
Ausflüge in die Natur seien der wahre Grund für sie, auf Spitzbergen zu leben, sagt die Journalistin, die 300 Kilometer nördlich von Oslo aufgewachsen ist. Sie hatte an jenem Tag eine Selbstversorgerhütte angemietet, um dort einige Tage im Schnee zu verbringen. Freilich hatte sie gehofft, im Beisein der Kinder nie einem Bären zu begegnen. Das unfreiwillige Treffen endete glimpflich: Die Bären ließen sich, zumindest kurzzeitig, verscheuchen. Doch sie machten es sich oberhalb der Hütte gemütlich. Um weitere Konfrontationen zu vermeiden, machte sich Ylvisåker mit ihrer Familie früher als geplant auf den Heimweg.
profil: Tragen Sie bei Ihren Wanderungen immer ein Gewehr bei sich?
Ylvisåker: Ja. Die meisten Bären sind nur neugierig und lassen sich durch Leuchtraketen und lautes Schreien abschrecken. Tun sie das nicht, muss man sich im Zweifelsfall verteidigen können.
profil: Für wen ist so ein Zusammenstoß gefährlicher, für die Eisbären oder für die Menschen?
Ylvisåker: Im Schnitt werden weniger als drei Bären pro Jahr aus Notwehr erschossen. Seit 2011 starben zwei Menschen durch Eisbärenattacken.
profil: Kommen die Bären auch zu Ihnen in die Stadt?
Ylvisåker: Sehr selten. Aber sie brechen immer häufiger in die Wanderhütten im Umland ein. Bevor wir Kinder hatten, waren mein Mann und ich oft mit dem Zelt unterwegs. Wir stellten Stolperdraht auf und hatten Hunde dabei. Mit den Kindern ist das nicht besonders verlockend. Wir müssten mit einer größeren Gruppe unterwegs sein, um uns in der Nacht mit der Bärenwache abzuwechseln.
profil: Sie haben mit Biologen gesprochen, die sich seit Jahren mit Eisbären beschäftigen. Werden die Tiere aussterben?
Ylvisåker: Ob sie in Spitzbergen überleben werden, ist fraglich. Denn Bären jagen ihr wichtigstes Beutetier, die Robbe, auf dem Meereis, das sich vor Gletschern bildet. Weniger Eis bedeutet weniger Futter. Schon heute überlebt nur eins von drei Bärenjungen die ersten zwei Jahre.
profil: Haben Sie dennoch Hoffnung?
Ylvisåker: Bestimmt werden die Eisbären aus manchen Gegenden verschwinden, aber an anderen Orten werden sie überleben. Der Eisbär entwickelte sich aus dem Braunbären und hat um die fünf Millionen Jahre auf dem Buckel. Er hat also schon mehrere Wärmeperioden überstanden.
Line Nagell Ylvisåker
39, wuchs im norwegischen Sogndal auf, studierte Journalismus und kam 2006 für ein Volontariat bei der Wochenzeitung "Svalbardposten" nach Spitzbergen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern am Fuße des Sukkertoppen, dessen Schneemassen 2015 eine Nachbarsiedlung zerstörten. Der Standort ihres eigenen Hauses gilt als sicher. In ihrem Buch erzählt Ylvisåker, wie rasch sich der Alltag in der Arktis verändert, und spricht mit Meteorologen, Ozeanologen und Klimaforschern über die globale Erwärmung.