Kläranlage könnte Goldgrube werden

Taugen Kläranlagen als neue Energielieferanten?

Abwasser als Ressource: In Österreichs Kläranlagen schlummern enorme Mengen erneuerbarer Energie. Wie kann man sie gewinnen?

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Es ist ein unscheinbares Rinnsal, das sich seinen Weg sucht in den Fluss. Träge schlängelt sich die Trattnach zwischen Feldern, hohen Bäumen und Gestrüpp hindurch und nimmt es auf. Zehn Grad hat das kurze Bächlein an einem grauen Frühlingstag im März. Diese Wärme hat enormes Potenzial: Sie könnte den kleinen Kurort Bad Schallerbach, aus dem das Rinnsal kommt, zur Modellgemeinde für Österreich und ganz Europa machen. Drei Jahre ist es her, seit sich Wissenschafter der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) und der Kläranlagenbetreiber des Reinhalteverbands Trattnachtal, Harald Bala, im Rahmen eines EU-Projekts zusammentaten. Sie sollten Möglichkeiten finden, aus öffentlicher Infrastruktur Energie zu gewinnen, ebenso wie weitere Kollegen aus Berlin, Prag, Rimini und Zagreb für ihre Städte. Das Ergebnis ist erfreulich: In den Kläranlagen Europas schlummern große Mengen erneuerbarer Energie, die man nur anzuzapfen braucht.

17 Gemeinden mit insgesamt rund 70.000 Einwohnern leiten ihr Abwasser in die Kläranlage des Verbands im oberösterreichischen Trattnachtal, darunter Bad Schallerbach und Wallern. Es durchläuft mehrere große Klärbecken, in denen Mikroorganismen Fäkalien und Urin abbauen. "Bevor das Abwasser gereinigt in die Trattnach fließt wie bisher, kann man daraus Wärme gewinnen",sagt Günter Langergraber, Leiter des Departments für Wasser, Atmosphäre und Umwelt an der BOKU. Diesen Job übernimmt ein Wärmetauscher: Das Gerät besitzt zwei Wasserkreisläufe in Metallrohren, wobei in der Regel der kalte dem warmen Kreis Temperatur entzieht. Das erwärmte Wasser wird in eine Heizzentrale gepumpt, wo es weiter erhitzt wird. Über ein 18 Kilometer langes Versorgungsnetz könnte man die Wärme zurück nach Schallerbach und Wallern schicken. Die Kuranstalten, das Krankenhaus, Hotels, Schulen, die beiden Gemeindeämter und viele Einfamilienhäuser könnten damit geheizt werden. Von dem auf der anderen Gemeindeseite stehenden Thermalbad könnte ebenfalls Wärme ins System fließen. An Hitzetagen im Sommer könnte man den Kreislauf sogar umdrehen: Die Wärmepumpen saugen dann die Wärme aus den Gebäuden und ersetzen sie mit kühler Luft aus dem Netz. Bad Schallerbach wäre damit eine der ersten Gemeinden Österreichs mit einer Kläranlage als Energiezelle. In der Schweiz funktioniert die Technologie bereits seit 20 Jahren: Mehr als 200 Anlagen besitzen dort einen Wärmetauscher. 535 der 650 größeren Kläranlagen Österreichs könnten folgen, wie die Forscher im Rahmen des EU-Projekts errechneten. "Mehr als 200.000 Haushalte könnte man mit der Wärme aus dem Abwasser beheizen", sagt Kulturtechniker Florian Kretschmer. Ein enormes Potenzial, wenn man bedenkt, dass das Heizen für 40 Prozent der CO2-Emissionen Österreichs verantwortlich ist. Viele Österreicher heizen nach wie vor mit fossiler Energie. 40 Prozent der vier Millionen heimischen Haushalte setzen auf Gas oder Öl. Vor allem Letzteres ist mittlerweile ein Auslaufmodell. Anfang des Jahres beschloss der Nationalrat, Ölheizungen bis 2035 aus dem Land zu verbannen. Ab 2040 soll Österreich klimaneutral sein, so steht es zumindest im türkis-grünen Regierungsprogramm.

In Bad Schallerbach müsste nun ein Fernwärmebetreiber investieren, um die Wärme abzuschöpfen. Denn der Kanal lässt sich nicht für die Wärmeversorgung verwenden, er ist zu klein. Also müssen neue, 30 Zentimeter dicke Rohre verlegt werden; Pumpen müssen angeschafft werden, um die Wärme in die Gebäude zu bringen. Diese brauchen Strom - doch auch das geht nachhaltig: "Um alle geeigneten Kläranlagen Österreichs mit Wärmepumpen auszustatten, brauchen wir 115 neue Windräder", sagt Gernot Stöglehner. Er und Georg Neugebauer haben das Projekt als Raumplaner begleitet und für ganz Österreich durchgerechnet. Fazit: "Mit der Abwasserwärme aller 535 geeigneten Kläranlagen könnte man zehn Prozent der CO2-Emissionen für Heizung und Warmwasser aller heimischen Gebäude einsparen",sagt Neugebauer.

In Wiens Abwasser steckt ebenfalls ein Überschuss an Energie. Mit acht bis 20 Grad rauscht es, je nach Jahreszeit, durch die Kanalisation. Diese ist freilich geräumig genug, um Wärmetauscher einzuziehen; Pumpen speisen die Wärme schließlich ins Fernwärmenetz. 900 Wiener Haushalte sollen so künftig beheizt werden. Nächstes Jahr startet der Probebetrieb, 2022 soll die Kanalwärme ins Fernwärmenetz strömen. Und noch eine Wärmequelle will Wien Energie ab 2022 anzapfen: die Thermalquellen in Oberlaa. "In einem erweiterten Technikraum in der Tiefgarage der Therme errichten wir zwei Wärmepumpen mit direktem Anschluss zum gesammelten Abwasser", sagt Lisa Grohs von Wien Energie. Genug Heizwärme für 1900 Haushalte in Oberlaa.

Auch im steirischen Kapfenberg zerbrach man sich den Kopf: Wie könnte die Gemeinde ihr bestehendes Fernwärmenetz aus erneuerbarer Energie speisen anstatt aus klimafeindlichem Erdgas? Die Kläranlage ist auch hier Teil der Lösung, sagt Baudirektorin Sabine Christian. Die Energie aus dem Abwasser wird in Kapfenberg in die Faultürme geleitet. Dort gärt der Klärschlamm, der sich in den Becken gesammelt hat. Das entstehende Methan wird ins Fernwärmenetz gepumpt. Aus den ansässigen Voestalpine Böhler Edelstahlwerken fließt ebenfalls Wärme ins Netz; zudem überlegt man, ein Hackschnitzel-Heizwerk zu bauen. "Die neue Wärmeversorgung ist komplexer, dafür lokal und nachhaltig", sagt die Baudirektorin. Kapfenbergs Strategie ist ein Ergebnis der Energieraumplanung in der Steiermark. Die Landesregierung beauftragte Gernot Stöglehner, Lore Abart und Susanna Erker von der BOKU, das Land digital zu erfassen und für jede einzelne Gemeinde eine Energiedatenbank zu erstellen. Seither ist klar, was Kapfenberg tun muss, um die Wende zu schaffen. Neben dem Ausstieg aus Gas sind das dichte Ortskerne und der Verzicht auf weitere Satellitensiedlungen auf der grünen Wiese. Das spart Energie: Die Bewohner fahren seltener mit dem Auto, und Haushalte in Mehrfamilienhäusern verheizen nur einen Bruchteil dessen, was Bewohner eines Einfamilienhauses brauchen. Ein Fördertopf des Landes unterstützt jene Gemeinden, die ihre Energieraumplanung umsetzen.

In Tirol hatte man eine andere Idee: Warum sollte man Tomaten aus Spanien ankarren, wenn man sie vor den Toren Innsbrucks produzieren kann? Mit der Abwasserwärme aus der Kläranlage Hall- Fritzens ließen sich Gewächshäuser ganzjährig heizen. Die Menge würde reichen, knapp zehn Prozent des Tomatenbedarfs der Innsbrucker zu decken, wie die Forscher der BOKU berechneten. Zwar liegt das Projekt derzeit auf Eis, weil die Hochwasserbereiche neu ausgewiesen wurden und die Gewächshäuser in die Gefahrenzone gefallen wären. "Grundsätzlich aber ist die Wärme aus Kläranlagen auch für die Landwirtschaft interessant", sagt Günter Langergraber. Man könnte auch Ställe, Aquakulturen oder Hackschnitzel-Trocknungsanlagen betreiben.

Die Energiekreisläufe funktionieren freilich auch im Kleinen. Das Schweizer Altersheim der Stiftung Hofmatt sammelt das Abwasser aus Küchen und Bädern in einem Sammelschacht, wo es gesiebt und gereinigt wird und anschließend in einen Wärmetauscher fließt. Er entzieht dem 20 Grad warmen Wasser die Energie und schleust sie in die Gebäudeheizung ein. Das deckt 20 Prozent des Wärmebedarfs des Altenheims. Die Becken des Hallenbads von St. Moritz werden ebenfalls zum Großteil mit dem eigenen Abwasser geheizt.

Und in Oberösterreich? Die Umsetzung liegt nun bei der Gemeinde. Wenn alles gut geht, könnte 2021 mit der Planung begonnen werden. Der Geschäftsführer der Kläranlage, Harald Bala, wird dafür kämpfen: "Wir müssen die Wärme nutzen, die direkt vor der Haustür anfällt." Und auch die Trattnach würde profitieren: Der Zustrom aus der Kläranlage wäre dann um zwei bis vier Grad kälter als bisher. In Zeiten des Klimawandels, der Österreichs Gewässern gehörig einheizt, eine willkommene Kühlung.

Über diese Geschichte: Der Besuch im Trattnachtal Mitte März sollte der bis dato letzte Recherchetermin für die Autorin werden. Während des Besuchs der Kläranlage trudelten bei den Wissenschaftern die ersten Anrufe ein: Der Lehrbetrieb an den Universitäten sei vorerst eingestellt, der Workshop mit den Projektkollegen aus ganz Europa abgesagt, der Forschungsaufenthalt in Japan auf unbestimmte Zeit verschoben, die Konferenz in Venedig vertagt. Wenige Tage später folgte der Shutdown. Monatelang gab es nur noch ein Thema: Corona.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.