Terrorattentat in Hanau: Was um 22.00.32 Uhr geschah
19. Februar 2020, 22 Uhr, Hanau-Kesselstadt: Vier Menschen hat der Rechtsterrorist Tobias R. an diesem Abend bereits getötet, als er in einen Kiosk stürmt. Durch die Tür der dahinterliegenden Bar erspäht ihn Etris Hashemi für einen kurzen Augenblick: „Ich habe gesehen, wie der Täter mit der Waffe in der Hand reingelaufen ist und mich angeschaut hat, aber dann erst mal in den Kiosk rein ist“, wird er später erzählen. Dem damals 23-Jährigen ist sofort klar, dass er und die anderen Gäste in der Arena Bar in Gefahr sind. Panisch flüchten sie in Richtung eines Lagerraums hinter der Theke – doch die Tür ist verschlossen.
Währenddessen fallen vorn die ersten Schüsse. Im Kiosk ermordet Tobias R. Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. Um 22.00.32 Uhr macht er sich auf den Weg nach hinten, wo sich sechs Gäste und der Barkeeper verzweifelt hinter einer Säule zusammendrängen. Der Täter feuert 16 Mal. Hamza Kurtović und Said Nezar Hashemi, der Bruder von Etris Hashemi, sterben. Im Anschluss geht Tobias R. zu seinem Auto und fährt nach Hause. Stunden später wird der 43-Jährige dort seine Mutter und sich selbst töten.
Die Wahnsinnstat des Rechtsterroristen hinterließ bei den Angehörigen der Opfer quälende Fragen. Warum wurde der Täter erst viele Stunden später tot gefunden, obwohl die Beamten längst herausgefunden hatten, wer er war und wo er wohnte? Und eines der drängendsten Rätsel: Hätten die Gäste in der Arena Bar überleben können, wenn sie anstatt hinter die Theke zur Fluchttür gelaufen wären?
Die Angehörigen und die „Initiative 19. Februar Hanau“ hatten Zweifel, dass die deutsche Polizei in jener Nacht alles Menschenmögliche versucht hatte, um den Attentäter zu stoppen. Auch der Staatsanwaltschaft trauten sie bei der Aufklärung wenig. Kein Wunder: Der jahrelange Prozess rund um die Morde der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) hatte haarsträubende Ermittlungsfehler und blinde Flecken bei der Polizei ans Licht gebracht. Warum sollte das bei dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau anders gewesen sein?
Also beauftragten die Familien der Opfer die in London ansässige Forschergruppe Forensic Architecture und deren Büro in Berlin namens Forensis damit, die Umstände in der Tatnacht zu prüfen. Seit zwölf Jahren stellt das Team um den Architekten Eyal Weizman eigene Ermittlungen an, wenn der Verdacht besteht, dass Polizei und Behörden nicht ordentlich gearbeitet oder ihre Macht missbraucht haben. Begonnen hatte der in Israel geborene Weizman mit der Untersuchung der Architektur in seiner Heimat, die auf einer „zivilen Besatzung“ beruhe, die Ungleichheit schaffe, wie er sagt: Strategisch angelegte Siedlungen, Mauern, Sperrzonen, Kontrollpunkte.
Heute beschäftigt sich Forensic Architecture mit Verbrechen im Nahostkonflikt, aber auch mit anderen großen Krisen weltweit. Die Forschergruppe zeigte mit Satellitenaufnahmen und Drohnenvideos das Ausmaß auf, mit dem der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Zerstörung des Regenwalds und die Verfolgung der indigenen Bevölkerung vorantrieb. Sie entlarvte illegale Pushbacks – das gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtlingen – an der griechisch-türkischen Grenze. Aktuell laufen drei Untersuchungen zum Ukraine-Krieg, darunter zum Luftangriff der russischen Armee auf das Theater von Mariupol. „Wir deuten die Spuren, die Verbrechen in der Architektur hinterlassen. Wir sind Archäologen der Gegenwart“, sagt Weizman im profil-Gespräch.
Forensic Architecture ist längst über den Status einer kleinen NGO hinausgewachsen. Die Forscher, Künstler und Datenspezialisten arbeiten mit den Vereinten Nationen zusammen, mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und mit dem Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR); ihre Arbeit wird in angesehenen Museen weltweit gezeigt, ihre Analysen in Gerichtsverfahren verwendet – und in Untersuchungsausschüssen, wie jenem zum rassistischen Attentat in Hanau.
Im Fall Hanau konzentrierten sich Weizman, die Architektin Dimitra Andritsou und der Datenforensiker Robert Trafford zuerst darauf, alle Überwachungsvideos aus dem Kiosk und der Arena Bar auszuwerten, sie in ein virtuelles Modell des Gebäudes einzuspeisen und die Bewegungen von Täter und Opfern minutiös nachzuzeichnen. Man würde erwarten, dass Staatsanwaltschaft und Ermittler dies ebenfalls getan hätten. Doch Erstere hatte das Verfahren rund um den Notausgang in der Arena Bar schnell eingestellt – trotz massiver Ungereimtheiten.
Einige Stammgäste der Bar hatten bestätigt, was einer der Überlebenden kurz nach der Tat zu Protokoll gegeben hatte: „Wir wären ja zum Notausgang gelaufen, aber wir wussten, dass er zu ist. Schon seit Jahren. Deshalb rannten wir zur Tür des Lagers. Aber auch die war zu. Wir waren in dieser Ecke gefangen.“
Noch ist nicht geklärt, warum die Fluchttür unerlaubterweise häufig versperrt war. Aber: Es könne nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass zwei der Opfer „durch einen unverschlossenen Notausgang die Flucht geglückt wäre, wenn sie zu diesem anstelle in Richtung des Lagerraums geflüchtet wären“, hieß es im August 2021 von der Staatsanwaltschaft Hanau. Damit ließ sie die Sache ruhen.
Wir wären ja zum Notausgang gelaufen, aber wir wussten, dass er zu ist.
Stimmt das? Hätten sich Hamza Kurtović und Said Nezar Hashemi ohnehin nicht retten können? Um das herauszufinden, analysierte das Team von Forensic Architecture jeden Zentimeter, den die sechs Überwachungskameras im Kiosk und in der Arena Bar aufgezeichnet hatten. Sie prüften jeden Sekundenbruchteil zwischen 22.00.23 Uhr, als Tobias R. das Gebäude betreten, und 22.00.51 Uhr, als er die Bar wieder verlassen hatte. 28 Sekunden hatte es ihn gekostet, fünf Menschen hinzurichten.
Die exakte Uhrzeit zu eruieren, war eine der ersten Aufgaben des Teams. Denn das gesamte Überwachungssystem ging fast zehn Minuten vor. Doch eine der Kameras fing einen Fernseher in der Arena Bar ein, der ein Fußballspiel zeigte. „Remo Freuler schießt das 3:0!“, brüllte der Kommentator um 22.16 Uhr ins Mikrofon – ein idealer Moment, die Videoaufnahmen zu synchronisieren. Als Nächstes bestimmten die Forensiker die Geschwindigkeit, mit der fünf Gäste ins hintere Eck der Bar rannten, als Etris Hashemi den Attentäter mit der Waffe in den Kiosk stürmen sah. Dann spiegelten sie die Pfade der Männer, um zu sehen, wie weit sie in Richtung Notausgang gekommen wären. Dabei berücksichtigten die Experten, dass sich die Flüchtenden womöglich gegenseitig in den Weg gelaufen wären, sowie die Zeit, die sie für das Öffnen des Notausgangs gebraucht hätten.
Fazit: In dem Moment, als der Täter die Arena Bar betrat, wären vier Gäste bereits außerhalb seines Sichtfelds und im Freien gewesen. Den fünften hätte Tobias R. nur für den Bruchteil einer Sekunde und halb von einer Mauer verdeckt hinausstürzen gesehen. Die fünf Personen hätten genug Zeit gehabt, zu entkommen. „Sie alle hätten den Anschlag überleben können“, sagt Eyal Weizman.
Er finanziert die Ermittlungen durch seine Auftraggeber, über Forschungsgelder, Kunstförderungen und Spenden. Den Hinweis auf seiner Website, wonach die Geldgeber keinen Einfluss auf die Untersuchungen haben, darf man wörtlich nehmen. Als das Whitney Museum in New York Forensic Architecture finanziell unterstützte und zur Teilnahme an einer Ausstellung einlud, heftete sich die Recherchegruppe an die Fersen von Warren Kanders, einem Vorsitzenden des Museums. Kanders war schon lange als Gründer des Konzerns Safariland kritisiert worden, der Tränengasgranaten produziert, die rund um den Globus gegen Demonstranten eingesetzt werden.
Der Beipackzettel enthält eine besorgniserregende Liste von Reaktionen auf das Reizgas, darunter akute Atemnot, anaphylaktische Schocks, schwere Hautausschläge, Lungenödeme und Herzrhythmusstörungen. Die Künstler und Computerspezialisten von Forensic Architecture trainierten eine Software darauf, die Granaten von Safariland auf Tausenden Videos und Bildern zu erkennen. Sie konnten unter anderem beweisen, dass die Tränengasgranaten 2018 an der US-Grenze zu Mexiko gegen Migranten eingesetzt worden waren. Warren Kanders musste den Vorstand des Museums daraufhin verlassen.
Zurück nach Hanau. Forensic Architecture beschäftigte sich nicht nur mit den Ereignissen in der Arena Bar, sondern auch mit dem folgenden Polizeieinsatz. Als um 22.16 Uhr Remo Freulers Fußballtor über den Bildschirm flimmerte, war der Täter wahrscheinlich schon wieder zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt kannte die Polizei seine Adresse bereits. Er wohnte nur wenige Straßen weiter, gemeinsam mit seinen Eltern, in einem Reihenhaus mit Garten. Wie sich später herausstellen sollte, waren sowohl der studierte Betriebswirt Tobias R. als auch sein Vater Anhänger rechtsextremer Ideologien. Der Sohn litt zudem unter schizophrenen Wahnvorstellungen und war deswegen aktenkundig – besaß aber dennoch legal einen Waffenschein.
Kurz vor 22.30 Uhr begann ein Polizeihubschrauber über der Arena Bar zu kreisen. Zur Aufklärung konnte er vorerst aber wenig beitragen. Denn die Piloten erfuhren die Adresse von Tobias R. bis zum Ende ihres Einsatzes nicht. Der Tonbandmitschnitt aus dem Cockpit des Helikopters zeugt von zunehmend frustrierten Einsatzkräften: „Wir wurden abgehängt“, sagte einer. Die Kollegen hätten „so lange den Kanal gewechselt, bis sie uns raushaben“. Das sei eine „komplette Katastrophe“, ärgerte er sich weiter, der zweite Pilot stimmte ihm zu: „Ja, totaler Müll. Das mit dem Funk funktioniert überhaupt nicht.“ Anstatt das Haus des Täters ständig im Blick zu haben, mäanderte der Hubschrauber ziellos über Hanau.
Dennoch konnte Weizmans Team jene Aufnahmen nutzen, die der Hubschrauber zufällig vom Wohnhaus eingefangen hatte. Die Ergebnisse werfen ein wenig rühmliches Bild auf den Polizeieinsatz: Sowohl die Haustür als auch der Hinterausgang durch den Garten des Attentäters blieben über lange Zeit unbeobachtet – obwohl zwei Polizeiwagen in Zivil das Haus ab etwa 22.30 Uhr bis zum Eintreffen des Sondereinsatzkommandos (SEK) aus Frankfurt überwachen und eine Flucht verhindern sollten. Sie hatten sich mit ihren Autos ungeschickt platziert und waren zwischendurch zu einem anderen Einsatz ein paar Straßen weiter geeilt.
Totaler Müll. Das mit dem Funk funktioniert überhaupt nicht.
Um 23.27 Uhr kamen schließlich die ersten SEK-Fahrzeuge an und stellten sich an einer Kreuzung auf. Als eine halbe Stunde später ein Fußgänger direkt an ihnen vorbei in Richtung des Täterhauses ging, stoppten ihn die Beamten nicht. Sie ließen den Passanten ahnungslos auf das Haus zu und an dessen Wagen vorbeispazieren. Auch ein Auto ließ die Spezialtruppe ungehindert passieren. Um 0.25 Uhr streifte die Kamera des Helikopters das Haus des Täters zum letzten Mal. Noch immer waren Haus und Garten nicht umstellt. Tobias R. hätte ohne Weiteres noch einmal losziehen und ein weiteres Blutbad anrichten können.
Was die Angehörigen aber besonders aufwühlte: Knapp eineinhalb Jahre nach dem Attentat flog auf, dass sich 13 Beamte des Frankfurter SEK, die in jener Nacht im Einsatz waren, in einer rechtsextremen Chatgruppe herumgetrieben hatten.
Um etwa ein Uhr nachts beging Tobias R. den letzten Mord: Mit zwei Schüssen tötete er seine 72-jährige Mutter im Wohnzimmer seines Elternhauses. Im Keller richtete sich der Rechtsextreme schließlich selbst. Sowohl sein Vater, der sich zu dieser Zeit eigenen Angaben zufolge im ersten Stock aufgehalten haben will, als auch die Polizei, die nun endlich vor dem Haus Stellung bezogen hatte, behaupteten, bis zur Erstürmung gegen drei Uhr keine Schüsse innerhalb des Gebäudes gehört zu haben. Aber konnte das sein?
Anhand der Fallakten baute das Forensic-Team mithilfe von Akustik-Experten das Haus zuerst virtuell, dann in einem baulich identen Gebäude real nach. Tobias R. hatte seine Mutter mit einer SIG Sauer Pistole, Modell P226, Kaliber neun Millimeter Luger, erschossen. Nachdem Waffenexperten aus Arizona die Schüsse aus einer solchen Pistole für sie aufgezeichnet hatten, begann das Forensic-Team mit den Schallexperimenten. Wie laut waren die beiden Schüsse im Schlafzimmer direkt über dem Wohnzimmer zu hören? Und wie laut war das Knallen draußen vor dem Haus? Das Ergebnis: Der Vater musste die Schüsse sowohl gehört als auch im Haus verortet haben – er hatte stets behauptet, er habe es nur draußen knallen gehört. Auch außerhalb des Gebäudes waren die Schüsse weithin laut zu hören. Daran änderte auch der Lärm des orientierungslos kreisenden Polizeihubschraubers wenig, da er zu dieser Zeit fast immer zu weit entfernt vom Täterhaus gewesen war.
Hessens Innenminister Peter Beuth hatte den Einsatz stets gelobt, die Polizei ihre Beamten verteidigt. Im seit Dezember 2021 laufenden Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags waren die Videos aus dem Hubschrauber nicht aufgetaucht – bis Forensic Architecture im Juni 2022 seine Analysen vorlegte. Erst dadurch wurde den Landtagsabgeordneten klar, dass ihnen von den Behörden wichtige Informationen vorenthalten worden waren.
Untersuchungen wie die des Falls Hanau haben mittlerweile zwei Phasen: Die, bevor Forensic Architecture Analysen angestellt hat, und die danach.