Trendwende in der Schönheitschirurgie
Die Zähne sollten raus, in Summe 16 Stück. Der gesamte Oberkiefer sollte ausgeräumt, ein künstliches Gebiss eingesetzt werden. Und das im Alter von erst 47 Jahren. Ulrike Wolf war verzweifelt. Zwei Zahnärzte hatten der Wienerin zu der Radikalentfernung ihrer an sich gesunden Zähne geraten. Der Grund: Wolfs Kiefer war zu eng, was im Laufe der Jahre zu einer schlimmen Parodontose geführt hatte: „Ich traute mich kaum noch, bei einem Brot abzubeißen, so locker saßen meine Zähne“, sagt die Frau.
Über die Empfehlung einer Freundin landete Ulrike Wolf bei dem Wiener Kiefer- und Gesichtschirurgen Kurt Vinzenz. Er hatte einen anderen Plan: Er wollte die Zähne erhalten – dafür aber Wolfs Kiefer zersägen, um Platz zu schaffen. Vinzenz wandte ein Operationsverfahren mit dem Namen Distraktionsosteogenese an. Er schnitt Wolfs Gaumen von den Schneidezähnen bis zum Gaumenende durch und überbrückte den dadurch entstandenen, einen Millimeter dicken Sägespalt mit einer Dehnapparatur. In die kleine Fuge wanderten nach etwa einer Woche Knochenzellen aus dem umliegenden Gewebe und begannen, neue Knochen zu bilden. Der Spalt wuchs dadurch allmählich von selbst wieder zu. Bevor sich der Knochen jedoch verfestigte, drückte ihn Vinzenz mit Hilfe des im Kiefer verankerten Gestells sanft auseinander: einen Millimeter pro Tag, bis alle Zähne in Ulrike Wolfs Mund ausreichend Platz hatten. Der Knochen härtete schließlich aus. Die Nase, auch zu eng geraten, wurde in einer weiteren OP drei Monate später gedehnt. Den sanften Höcker, der die Wienerin immer schon gestört hatte, entfernte Vinzenz gleich mit.
Sie habe nicht nur ihre Zähne behalten, sie sei durch die OP auch viel hübscher geworden
Die brachiale Methode klingt sehr schmerzhaft. Sei sie aber nicht, sagt die Patientin. Sie habe die üblichen Schmerzinfusionen nach der OP erhalten, die etwa eineinhalb Stunden gedauert hatte, und war nach drei Tagen nach Hause entlassen worden. Dort habe sie keine weiteren Schmerzmittel gebraucht. Der Spalt, der täglich mit einem Minischraubenzieher gedehnt wurde, habe „gekribbelt und ein wenig gezogen“, mehr nicht. Sie habe nicht nur ihre Zähne behalten, sie sei durch die OP auch viel hübscher geworden, findet Ulrike Wolf.
Das war 2006, und der Kieferchirurg Kurt Vinzenz galt manchen Patienten und Kollegen als Geheimtipp, vielen anderen als Querkopf. Seine Theorie: Wenn der Knochenaufbau eines Gesichts stimmt, sieht es schöner und jünger aus. Im Alter werden nicht, wie bis dahin von vielen angenommen, nur das Gewebe und die Haut schlaff und rutschen nach unten. Auch der Knochen rund um die Nase, das sogenannte Mittelgesicht, zieht sich zurück, meint Vinzenz. Durch die schwindenden Oberkiefer- und Backenknochen fallen Mundpartie und Wangen ein, Nase und Kinn treten hingegen hervor: „Das typische Greisengesicht.“
Paradigmenwechsel
Inzwischen haben mehrere Studien seinen Befund bestätigt. In der Schönheitschirurgie kündigt sich ein Paradigmenwechsel an. Was zunächst wie eine Außenseitermeinung wirken könnte, wird heute als neuer Standard diskutiert. Internationale Koryphäen wie Bryan Mendelson und Chin-Ho Wong schrieben in einem renommierten Fachmagazin: „Die Korrektur des Skeletts gilt zunehmend als die nächste Stufe in der Gesichtsverjüngung.“ Denn wenn die Knochen wieder in jugendlicher Form sind, so die Annahme der Experten, straffen sich auch die darüber liegenden Weichteile: „Die Bänder spannen sich sofort. Es dauert aber drei Monate, bis sich neue Muskeln aufbauen – wie beim Bizeps-Training im Fitnesscenter“, sagt Vinzenz. Ein Facelifting von innen also.
Ich lege großen Wert auf Natürlichkeit (Yoram Levy, Chirurg)
Bei gewöhnlichen Faceliftings dagegen wird die Gesichtshaut gelöst, nach hinten gestrichen, gekürzt und vernäht. Er erziele mit dem Extended Face-Neck-Lifting nachhaltige Ergebnisse, sagt der in Bayern praktizierende plastische Chirurg Yoram Levy. Man müsse vor allem die Muskeln kürzen und so ein inneres Korsett schaffen, das die darüber liegende Haut zum Träger macht. Wichtig sei zudem, auch den Hals zu behandeln. Seine Methode, sagt Levy, sei weltweit seit Jahrzehnten im Einsatz, sei immer weiter verfeinert worden und habe sich bestens bewährt. Seine Patientinnen sähen auch Jahre nach der Operation bei Klassentreffen noch ein Jahrzehnt jünger aus als ihre Schulkollegen. „Ich lege großen Wert auf Natürlichkeit. Die Freunde dürfen nach dem Eingriff nicht fragen: ‚Bist du operiert?‘ Sie müssen fragen: ,Warst du im Urlaub oder bist du frisch verliebt?‘“
Von Eingriffen am Knochen hält Levy nichts: „Das ist nicht die Antwort auf das alternde Gesicht, es sei denn, der Schädel weist Missbildungen auf.“
Immer mehr Fachleute sind hingegen überzeugt, dass man auch die Architektur des Gesichts berücksichtigen muss. „Bei Faceliftings, die bekanntlich einen Großteil unserer Arbeit ausmachen, sollte das Wissen verschiedener Fachärzte, darunter Kieferchirurgen und Kieferorthopäden, genutzt werden. Dadurch können nicht nur die Hautoberfläche, sondern auch strukturelle und odontologische (zahnmedizinische, Anm.) Bereiche korrigiert werden“, schrieb Ivo Pitanguy schon 2007. Der Brasilianer gilt als Vater der modernen Schönheitschirurgie; er stellte Niki Laudas Gesicht nach dessen Rennunfall wieder her. 2010 lud er Kurt Vinzenz in seine Klinik in Rio de Janeiro ein. Vinzenz berichtete den Ärzten dort von seinen Fällen.
Die Knochenbruchdehnung, wie sie Ulrike Wolf hinter sich hat, ist im Grunde nicht einmal neu. Sie wird seit Jahrzehnten von Orthopäden angewendet, um zu kurz gewachsene Beine zu strecken. Auch in der rekonstruktiven Chirurgie hat man gute Erfahrungen damit, etwa wenn Patienten von Krebs befallene Teile des Gesichts entfernt werden oder Gaumenspalten gefüllt werden müssen. Vinzenz behandelt regelmäßig Kinder in Niger, die an Noma leiden, einer heimtückischen bakteriellen Krankheit, welche die Mundschleimhaut und anschließend die Knochen- und Weichteile des Gesichts zerfrisst. Einem Buben, dem die Hälfte des Unterkiefers fehlte, dehnte Vinzenz den Kinnknochen neun Zentimeter weit nach hinten bis zum Ohr.
Die Distraktion nun auch zur Verjüngung des Gesichts anzuwenden, sei allerdings eine relativ junge Entwicklung, sagt Alexander Gardetto, Ärztlicher Leiter der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Wiederherstellungschirurgie im Krankenhaus Brixen. Der Vorteil: Die Patienten könnten mithilfe einer Minischraubvorrichtung die Knochen sogar täglich selbst ein wenig dehnen. Es bedürfe aber chirurgischen Geschicks, um eine Knochendehnung gefahrlos durchzuführen, warnt Gardetto. Einen auf diesem Gebiet erfahrenen Arzt zu wählen, sei überdies sehr wichtig. Denn es bestehe immer das Risiko einer Knochenentzündung, die einen zähen Heilungsprozess nach sich zieht. „Grundsätzlich ist der Aufbau von Knochenzellen aber sicher die Zukunft der Schönheitschirurgie“, sagt Gardetto.
Dazu zählt auch eine Behandlung mit Stammzellen, wie sie Hanno Zonsics hinter sich hat. Der 64-Jährige litt an schwerer Parodontose und lag am 10. Juni auf dem Operationstisch von Kurt Vinzenz. Eine Prothese kam für ihn aus ästhetischen Gründen nie infrage. In den Räumen zwischen den drei noch vorhandenen Zähnen am rechten Oberkiefer klafften tiefe Löcher. Der Chirurg stopfte sie mit sogenannten Bankknochen: Diese Knochenteile werden Leichen entnommen und so lange erhitzt, bis nur noch die löchrige Struktur übrig bleibt. Mehrere solcher Knochenteile versenkte Vinzenz im Oberkiefer von Hanno Zonsics und füllte sie anschließend mit Stammzellen, die er seinem Patienten zuvor aus dem Rückenmark entnommen und aufbereitet hatte. „Die Stammzellen bilden innerhalb kurzer Zeit neues Knochengewebe“, sagt der Chirurg. Drei Monate nach der OP sollte alles fest verwachsen sein. Stiftzähne und Brücken werden Zonsics dann vor einem künstlichen Gebiss bewahren. Zwei Wochen nach der OP ist die rechte Backe unter dem grauen Bart des Lehrers noch etwas geschwollen, aber er ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
Meine Wangen wurden mit jedem Jahr weniger. Ich zog mich zurück, ging nicht mehr aus. Mit Schminke und schönen Kleidern konnte ich nichts mehr ausrichten
Alice L. war Anfang des Jahres mit einer schmerzhaften Kiefersperre in die Praxis von Vinzenz gekommen. „Ich konnte meinen Mund nicht einmal mehr halb öffnen“, sagt die hübsche 60-Jährige mit den wachen braunen Augen. Ihr rechtes Kiefergelenk stand nicht im richtigen Winkel, der Unterkiefer dadurch zu weit vor, worunter die Zähne litten. Dazu kam die Unzufriedenheit mit ihrem alternden Gesicht: „Meine Wangen wurden mit jedem Jahr weniger. Ich zog mich zurück, ging nicht mehr aus. Mit Schminke und schönen Kleidern konnte ich nichts mehr ausrichten“, fand Alice L. Jede Störung in der Tiefe beschleunige den Alterungsprozess, ist Vinzenz überzeugt. Anfang Juni entnahm er Knochenblöcke aus dem Beckenkamm der Patientin und transplantierte sie auf Oberkiefer und Wangenknochen. Eine Technik, die Vinzenz inzwischen eher selten anwendet, weil sie belastender für die Patienten ist als die Knochendehnung. Aber eine Distraktion lohnt sich erst ab einer Distanz von neun bis zehn Millimetern, bei Alice L. betrug sie nur sieben Millimeter. Ihr Fall zeigt außerdem, dass der Knochenaufbau eine Gesichtsstraffung nicht automatisch ausschließt. Vinzenz nahm zusätzlich erschlaffte Haut weg – freilich weniger als bei einem gewöhnlichen Facelifting. Sie fange nun langsam an, sich wieder zu gefallen, sagt die Büroangestellte drei Wochen nach der OP.
Auch Alice L. hatte kaum Schmerzen, wie sie berichtet. Aber wie ist das möglich, bei all dem Sägen, Bohren und Meißeln? Der Grund dafür sind die Geräte, die immer präziser werden. Je kleiner der Schnitt, desto schonender ist er für die Knochenhaut, und desto schneller verheilt die Wunde. Viele Chirurgen tüfteln selbst und konstruieren Sägeblätter, hauchdünn wie Rasierklingen. Auch Vinzenz baut die kleinen Dehngeräte aus Titan gemeinsam mit seinem Zahntechniker selbst. Sie bleiben nach der Distraktion für immer im Mund des Patienten.
Doch wie viel müssen Patienten ausgeben, wenn sie sich bis ganz in die Tiefe verjüngen lassen wollen? Den Eingriff am kaputten Kiefer von Alice L. übernahm die Krankenkasse, den Rest, etwa das zusätzliche Lifting, bezahlt die Büroangestellte privat. Kunden ohne Probleme an Kiefer oder Nase müssen mit 3000 bis 12.000 Euro für eine Erneuerung ihres Gesichtsskeletts rechnen.
Die Patienten würden immer öfter nach nachhaltigen Methoden fragen, sagt der plastische Chirurg Alexander Gardetto. Sogenannte Filler, wie etwa Hyaluronsäure, mit der tiefe Falten aufgespritzt werden, gelten inzwischen nicht mehr als „Golden Standard“. Denn sie haben einen Nachteil: Sie werden vom Körper abgebaut und halten maximal eineinhalb Jahre, dann muss die Anwendung wiederholt werden. Beständiger sei eine Faltenbehandlung mit Eigenfett, das aus dem Bauch entnommen wird und fünf bis zehn Jahre hält. Oder eben eine Rundumerneuerung von innen – wobei aber der Nutzen den Aufwand rechtfertigen müsse. Das sei sicher nicht bei jedem Patienten der Fall, so Gardetto.
Ist es überhaupt klug, die Schönheitschirurgie immer weiter voranzutreiben und den ohnehin schon maßlosen Schönheitswahn weiter anzufachen? Etwa 50.000 Menschen lassen sich in Österreich jährlich chirurgisch optimieren (Botox- und Laserbehandlungen inklusive), Tendenz steigend. Vinzenz hat damit kein Problem. Man solle aus dem Alter das Beste machen, findet er. Die Patienten, die zu ihm kommen, will er nachhaltig verschönern – nicht zum Beispiel nur die Nase richten, ohne das gesamte Gesicht mit zu bedenken. Ulrike Wolf, seine Patientin von 2006, sagt, sie freue sich beim Blick in den Spiegel bis heute an ihrem neuen Gesicht. Im Gegensatz zu manchem Mitglied der Seitenblicke-Gesellschaft verspürt die 56-Jährige mit dem strahlenden Lächeln keine Lust auf weitere Eingriffe und Nachbesserungen.