Neurologe: „Vergesslichkeit ist kein Fluch, sondern ein Segen“

Schlüssel verlegt, Termin verschwitzt? Der berühmte Neurologe Scott A. Small erklärt, warum wir Dinge vergessen müssen, weshalb das fotografische Gedächtnis ein Mythos ist – und wie er Viagra fürs Gehirn entdeckt hat.

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Wie oft vergessen Sie Ihre Schlüssel oder die Namen Ihrer Patienten?
Small
Sagen wir es so: Ich vergesse eine gesunde Menge an Dingen. Das Wichtigste ist, dass ich genauso viele Namen vergesse wie vor 20 Jahren. Mein Gedächtnis hat sich nicht verschlechtert. Das ist der Unterschied zwischen normalem und pathologischem Vergessen.
Sie sind seit 35 Jahren Neurowissenschafter. Sehr lange Zeit dachten Sie, wie alle Ihre Kollegen, Sie müssten gegen das Vergessen ankämpfen. Warum glauben Sie das heute nicht mehr?
Small
Die Ergebnisse der Neurobiologie, der Psychologie, der Medizin und der Informatik haben in den vergangenen zehn Jahren eines klar gezeigt: Das normale Vergessen, mit dem wir alle geboren werden, ist kein Fluch, sondern ein Segen.
Wie das?
Small
Es befähigt uns dazu, unzusammenhängend gespeicherte Informationen zu generalisieren – also den Wald zu sehen und nicht nur die einzelnen Bäume. Sogar Softwareentwickler wissen heute, dass sie das Vergessen einbauen müssen, etwa wenn ein Computer Gesichter erkennen soll. Ansonsten verliert sich die Software in Details. Es geht um die richtige Balance zwischen Erinnern und Vergessen.
Ein Gedächtnis, das nichts vergisst, ist also schädlich?
Small
Definitiv. Bei Menschen mit Autismus zum Beispiel ist der für das Vergessen zuständige molekulare Prozess im Gehirn eingeschränkt. Sie haben oft ein ausgeprägtes, memorierendes Gedächtnis, wie Dustin Hoffman in dem Film „Rain Man“. Aber: Dass sie nicht ausreichend vergessen können, macht ihr Gehirn unflexibel. Sie wollen verzweifelt, dass in ihrer Umgebung alles so bleibt, wie es ist, um das beängstigende Chaos auf der kognitiven Ebene einzudämmen.
Man sollte sich also kein fotografisches Gedächtnis wünschen, das sich ausnahmslos alles merken kann?
Small
Auf keinen Fall. So etwas gibt es zum Glück auch gar nicht. Jemand mit so einem Gedächtnis müsste sich in einen dunklen Raum einsperren, weil er das Gewirr in seinem Kopf nicht aushalten könnte.
Was ist zum Beispiel mit berühmten Schachspielern, haben diese nicht eine Art fotografisches Gedächtnis?
Small
Das Gedächtnis ist bei uns Menschen genauso unterschiedlich ausgeprägt wie die Körpergröße oder das Gewicht. Es gibt also Menschen, die bestimmte Dinge besser können als andere. Wenn sie dann unermüdlich trainieren, werden aus ihnen berühmte Schachspieler oder Tennisspielerinnen. Sportler haben ja ein ausgeprägtes physisches Gedächtnis, das sie den Ball in der absurdesten Situation treffen lässt.
Sie haben als 19-Jähriger in der israelischen Armee gedient und in einer Schlacht im Libanon 1982 schreckliche Dinge erlebt. Wie wichtig ist emotionales Vergessen?
Small
Extrem wichtig. Funktioniert es nicht, können Phobien und andere Angststörungen auftauchen. Die Schlacht um Beaufort Castle war grauenhaft, sehr blutig, ich habe viele Freunde verloren. Mein Kollege Yuval Neria, der das Programm für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) an der Columbia University leitet, hat mich gefragt, ob ich oder die beiden Freunde von damals, mit denen ich bis heute Kontakt habe, an PTBS leiden.
Was war Ihre Antwort?
Small
Nein. Dafür gibt es vor allem einen Grund, wie ich heute weiß: Unsere Einheit wurde nach der Schlacht und einigen weiteren Einsätzen an einen Stützpunkt in Nordisrael versetzt, wo wir auf weitere Befehle warten sollten. Diese kamen nie, und nach ein paar Monaten wurden wir aus der Dienstzeit entlassen. Diese Monate waren entscheidend: Wir lebten abgeschieden in einer Kaserne, waren uns nah wie Brüder und machten viel Quatsch. Heute weiß die Wissenschaft, dass es für Soldaten, aber auch für andere Traumatisierte nichts Schlimmeres gibt, als nach der Stresssituation allein zu sein. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist nichts anderes als ein Gehirn, das durch viel zu viele Erinnerungen in Flammen steht. Soziale Kontakte kühlen das Angstgedächtnis herunter. Mittlerweile ist es Teil der Behandlung, dass die Betroffenen ein soziales Netz um sich haben. Das kann die Familie sein, Freunde oder die Kameraden.
Sie haben in der Kaserne nicht nur einen makabren Humor entwickelt, sondern auch viel getrunken und Cannabis geraucht. Hat das auch geholfen?
Small
Definitiv. Alkohol und Cannabis haben ebenfalls unsere entflammten Gehirne gekühlt – und uns damit unsere Ängste vergessen lassen. Neben der sozialen gibt es für die Posttraumatische Belastungsstörung eine pharmazeutische Therapie. Derzeit laufen Studien mit LSD und Ecstasy oder MDMA, und die Ergebnisse sind vielversprechend. Vor allem MDMA beruhigt die Amygdala, jenen Bereich des Gehirns, der Ängste speichert und erinnert.
Wenige Monate nach der Schlacht beschlossen die Generäle, für die Familien der gefallenen Kameraden einen Ausflug zum Ort des Geschehens zu machen. Sie als Überlebende waren dabei. Ist das nicht eine klassische Situation für Flashbacks?
Small
Wir standen wieder dort, wo sich entsetzliche Gedächtnisinhalte in unser Gehirn gebrannt hatten. Natürlich wurden die Erinnerungen an die schreckliche Nacht reaktiviert. Wir verspürten Unbehagen, aber weder lähmten uns die Erinnerungen, noch hatten wir starke Angstgefühle. Offenbar hatte das Vergessen bereits seine Wirkung getan.

Vor allem MDMA beruhigt die Amygdala, jenen Bereich des Gehirns, der Ängste speichert und erinnert.

Ohrwürmer sind nicht angstbesetzt, dafür können sie ordentlich nerven. Gibt es auch eine Methode, sie zu vergessen?
Small
Ecstasy wurde ursprünglich von Paartherapeuten verschrieben, um nervige Angewohnheiten des Partners zu vergessen. Aber das wäre für Ohrwürmer wohl übertrieben.
Es gibt also keinen Trick, einen Ohrwurm loszuwerden?
Small
Gute Musik hören, dann ist die ständige Wiederholung nicht so schlimm.
Was passiert im Gehirn, wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt, es einem aber partout nicht einfallen will?
Small
Das Gehirn ist zu angespannt. Man sollte sich nicht ärgern oder mit sich selbst schimpfen, sondern darüber lachen. Wenn man sich entspannt, kommt der Gedanke meist ganz von selbst wieder.
Erinnerungen sind trügerisch. Wie können wir sicher sein, dass wir uns richtig erinnern?
Small
Wir können im Gedächtnis nicht wie in einem Fotoalbum blättern, sondern es ist mehr wie ein Museum moderner Kunst. Wenn ich an meine erste Freundin denke, ist sie womöglich schöner als in der Realität, den Bully in der Schule erinnere ich vielleicht schlimmer, als er wirklich war. Jede Erinnerung ist ein aktiver Prozess. Sie basieren meistens, aber nicht immer, auf Fakten, die sehr eingefärbt sind.

Die neuen Alzheimer-Medikamente sind ein echter Durchbruch nach Jahrzehnten des Scheiterns.

Sie haben einmal gesagt, die Menschen würden sich Viagra fürs alternde Gehirn wünschen. Ist so etwas in Sicht?
Small
Wir haben tatsächlich im Mai eine Studie veröffentlicht, die einen positiven Effekt von Flavanolen auf die Gedächtnisleistung zeigt. Flavanole kommen in unterschiedlichen Früchten und Gemüse vor. Wir baten 3562 ältere Menschen, über drei Jahre hinweg täglich 500 Milligramm Kakao-Flavanole einzunehmen – oder ein Placebo. Die Ergebnisse sind sehr vielversprechend und haben in den USA einigen Wirbel gemacht. Die zuständige US-Behörde hat sich bei uns gemeldet, um neue Ernährungsrichtlinien zu erstellen. Das Viagra fürs Gehirn ist womöglich einfach ein Nährstoff.
Also Kakao-Extrakt statt Kreuzworträtsel?
Small
Das Geheimnis liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen Ernährung, Bewegung und Gehirntraining. Das Gehirn lässt sich wie ein Muskel trainieren, also Puzzles und Rätsel helfen auf jeden Fall. Was noch nicht funktioniert, ist, einem älteren Patienten ein bestimmtes Computerspiel zu verschreiben, das seine Gedächtnisleistung verbessert. Aber viele meiner Kollegen arbeiten an solchen Trainingsmethoden, und ich bin sicher, sie werden welche finden.
Wann beginnt das Gehirn zu altern?
Small
Es beginnt in den 30ern und 40ern sehr langsam abzubauen. Der Prozess verläuft allerdings sehr unterschiedlich. Bei manchen verändert sich das Gedächtnis zum Beispiel erst ab 70 merklich, bei anderen geht es mit 50 kurz bergab und stabilisiert sich dann wieder.
Wann sollte man von einer Ärztin oder einem Arzt nachsehen lassen, ob die Vergesslichkeit pathologisch ist?
Small
Wenn man einen eklatanten Unterschied zu seiner normalen Vergesslichkeit bemerkt.
Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat kürzlich neue Alzheimer-Medikamente zugelassen. Wie gut sind sie?
Small
Sie sind ein echter Wendepunkt nach Jahrzehnten des Scheiterns. Die neuen Medikamente sind zwar weit entfernt davon, perfekt zu sein. Sie haben teils starke Nebenwirkungen wie Hirnblutungen, und sie müssen zwei Mal im Monat per Infusion verabreicht werden. Ich bin sicher, dass wir in naher Zukunft noch viel bessere Therapien haben werden. Bis dahin bin ich aber sehr froh, meinen Patienten endlich Hilfe anbieten zu können. Wir werden die Medikamente Ende des Sommers zur Verfügung haben.
Sind die Mittel, die es bis dato gibt, unwirksam?
Small
Sie helfen nicht viel, aber sie richten auch keinen Schaden an. Deshalb verschreibe ich sie oft. Im besten Fall verlangsamen sie den Verlauf der Krankheit ein wenig. Man könnte sie mit Abnehmpräparaten vergleichen, die adipösen Menschen helfen, ein halbes Kilo abzunehmen.
Sie haben einen berühmten Nachbarn, den Maler Jasper Johns. Er wurde 1995 von Erbschaftsverwaltern beauftragt, das Spätwerk seines verstorbenen Künstler-Kollegen Willem de Kooning zu begutachten. Die Erbschaftsverwalter waren nicht sicher, ob sie die Bilder ausstellen oder für immer in einem Archiv verschwinden lassen sollten. Warum hat Johns mit Ihnen über diese knifflige Aufgabe gesprochen?
Small
Willem de Kooning hatte Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, als er die betroffenen Bilder malte. Das haben Jasper und ich rekonstruiert. Tatsächlich sind die Bilder aus dieser Zeit blasser und monotoner; sie haben wenig mit de Koonings komplexem Frühwerk zu tun. Die Frage war: Sind sie dennoch das Spätwerk eines Genies, das seinen Stil verändert hat? Oder waren sie so von der Krankheit geprägt, dass sie seinen Ruf zerstören würden?
Was war das Ergebnis?
Small
Die Expertenkommission rund um Jasper Johns kam zu dem Schluss, dass die Bilder bis auf einige wenige von hoher künstlerischer Qualität waren. Ich als Forscher habe daraus gelernt, dass jemand, der an Alzheimer leidet, trotzdem ein großer Künstler sein kann.
Der Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel ist Ihr Mentor, mit dem Sie für Ihr Buch lange über seine persönlichen Erfahrungen mit Vergebung und Vergessen gesprochen haben. Er und seine Familie wurden von den Nazis aus Wien vertrieben.
Small
Unmittelbar nachdem Eric Kandel 2000 den Nobelpreis bekommen hatte, bot ihm der damalige Wiener Bürgermeister (Michael Häupl, SPÖ, Anm.) die Ehrenbürgerschaft an. Eric konnte sie zunächst nicht annehmen. Die Verletzung war zu groß.
Was hat ihn umdenken lassen?
Small
Der Bürgermeister blieb hartnäckig, und in Wien wurde ein Symposium zum Umgang mit dem Nationalsozialismus gegründet. Das war Eric sehr wichtig. Außerdem setzte er sich vehement für die Umbenennung des Karl-Lueger-Rings ein. Lueger gilt als Begründer des modernen Antisemitismus. Nach acht Jahren in engem Austausch mit Wien nahm Eric Kandel die Ehrung schließlich an.
Sie haben ein riesiges Labor mit den modernsten Magnetresonanztomografen. Haben Sie jemals Ihr eigenes Gehirn untersucht?
Small
Es gibt Scans von meinem Gehirn, deshalb weiß ich, dass es so weit unauffällig ist. Auf Alzheimer habe ich mich nie getestet, weil es bisher keine Anzeichen dafür gibt. Eine neurologische Krankheit kann ich also – noch – ausschließen. Aber es geht mir so wie vielen anderen auch: Ich beobachte Neurosen an mir, einen Hang zum Sorgenmachen und Existenzängste.

Der "Hirnmechaniker",

wie sich Scott A. Small selbst einmal nannte,  wuchs in Israel auf, wo er als junger Soldat im Libanonkrieg 1982 erste Erfahrungen mit dem Vergessen von Kriegsgräueln machte. Seit 20 Jahren forscht der Neurologe und Psychiater an der Columbia University in New York, wo er auch das angeschlossene Alzheimer-Zentrum leitet. Sein Mentor ist bis heute der Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel, der mit seinen 93 Jahren immer noch an der Columbia arbeitet. 

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.