Viele Tiere sind deutlich weniger intelligent, als man glaubt
Von Hubertus Breuer
Im August bekräftigte eine Nachricht, was viele Menschen immer schon dachten: Delfine sind nicht nur intelligent, sie sind sogar die Superhirne der Meere. Der Meeresbiologe Jason Bruck von der University of Chicago stellte in einer Studie fest, dass in Gefangenschaft gehaltene Delfine, Große Tümmler, einstige Beckengenossen noch nach 20 Jahren an charakteristischen Pfeiflauten erkennen. Bislang war das nur vom Menschen bekannt, sagt Bruck. Jetzt wissen wir, dass es eine zweite Art mit dieser Kompetenz gibt.
Fürwahr erstaunlich und ein Talent, das sich nahtlos in die Vorstellung der sozialkompetenten Intelligenzbestie fügt, die vielfach zumindest auf einer Stufe mit unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, gesehen wird. Doch so plausibel dies klingen mag: Das Bild vom kooperativen, blitzgescheiten Meeressäuger ist womöglich kaum mehr als ein Mythos, gespeist durch drollige Fernsehserien wie Flipper und durch die Behauptungen von John Lilly, einem Pionier der Delfinforschung und New-Age-Vordenker. Der 2001 verstorbene Lilly behauptete, Delfine würden ihre eigene Sprache sprechen Delfinisch natürlich und gab sich auch redlich Mühe, ihnen Englisch beizubringen.
Seither haben Forscher viele ernsthafte Experimente zur Intelligenz der Delfine durchgeführt zu Werkzeuggebrauch, kooperativem Verhalten, Verständnis menschlicher Zeigegesten, Mengenbegriff oder generationsübergreifendem Wissenstransfer. Nicht zuletzt Tests zur Selbsterkennung im Spiegel führten Forscher zu der Ansicht, Delfine verfügten über Selbstbewusstsein. Und das brachte eine bunte Gruppe von Wissenschaftern, Philosophen und Tierrechtsaktivisten im Mai 2010 dazu, eine Erklärung zu veröffentlichen, in der sie Persönlichkeitsrechte für Wale und Delfine forderten.
Doch der Mythos, wonach Delfine ein Stück weit über dem Tierreich, nahe dem Menschen, schweben, erhält nun immer mehr Risse. Der amerikanische Zoologe Justin Gregg vom Dolphin Communication Project in Connecticut stellt in seinem aktuellen Buch Are Dolphins Really Smart? (Sind Delfine wirklich schlau?) die Frage, ob unser Bild nicht scharf an der Realität vorbeizielt. Der Neuroanatom Paul Manger von der University of the Witwatersrand in Johannesburg wiederum zerpflückte im Fachjournal Neuroscience im Juli die Auswertung vieler Verhaltensexperimente mit Delfinen. Und die Psychologin Heidi Harley vom New College of Florida bezweifelt, wie sie im vergangenen Frühjahr im Journal of Comparative Physiology A schrieb, dass Delfinen aufgrund der vorliegenden Daten Selbstbewusstsein zugeschrieben werden kann.
Als Lilly in den 1950er-Jahren an den Marine Studios in Florida begann, sich mit Großen Tümmlern zu beschäftigen, faszinierte ihn, dass die Meerestiere relativ zu ihrem Körpergewicht ein sehr großes Gehirn besaßen. Sie nehmen unter Säugetieren den zweiten Rang ein, gleich nach dem Menschen und vor den Schimpansen. Das bewog Lilly, nach der Intelligenz dieser Tiere zu forschen.
Doch die große Hirnstruktur der Delfine hält weniger, als sie auf den ersten Blick verspricht. Bereits Ende der 1990er-Jahre veröffentlichte der Biopsychologe Onur Güntürkün von der Universität Bochum einen Artikel über die Gehirnanatomie der Delfine. Dabei konstatierte er nicht nur, dass die Gehirnrinde trotz des großen Gehirns sehr dünn war. Er entdeckte auch, dass sogenannte Kolumnen in der Gehirnrinde im Vergleich zu Landsäugern über deutlich weniger Neuronen verfügten das Volumen der Gehirne verdankt sich vor allem subkortikalen Strukturen. Hätten Forscher früher das große Delfingehirn nicht als Beleg für höhere Intelligenz gesehen, gäbe es heute womöglich keine so aufgeregte Debatte um ihre kognitive Kapazität, sagt Güntürkün.
Doch wozu dann das große Gehirn der Delfine? Wenn es kein Zeichen einer Menge in Hirnzellen verpackten Gripses ist, was dann? Paul Manger hat dafür eine Erklärung: Im Delfingehirn finden sich statt Neuronen vor allem Gliazellen. Diese dienen zwar auch der Informationsverarbeitung und haben zudem aber die Aufgabe, die Gehirnmasse zu stützen sowie Neuronen beim Wachstum zu helfen. Überdies produzieren sie auch Wärme. Und das lässt Manger zum Schluss kommen, bei den Gliazellen handle es sich um eine Hirnheizung, die dem Denkorgan hilft, nicht zu unterkühlen. Und da es im Ozean recht kalt werden könne, brauche es eben viele dieser Zellen folglich sei das Gehirn der Delfine so ungewöhnlich groß.
Wichtiger als die bloße Gehirnanatomie sind aber ohnehin sorgfältig durchgeführte Verhaltenstests. Davon gibt es eine ganze Reihe unter anderem, ob ein Tier gezielt Werkzeuge gebraucht, ob es in Sprache versteht oder ob es sich im Spiegel selbst erkennt. Kein Wunder, dass Delfine in den vergangenen Jahrzehnten ausgiebig auf jegliches Anzeichen intelligenten Verhaltens hin beobachtet wurden, um ihr kognitives Potenzial auszuloten.
Als klassisches Merkmal für höhere Intelligenz gilt Werkzeuggebrauch. So nutzen Delfine im australischen Shark Bay Schwämme, mit denen sie den Meeresboden durchwühlen. Einige Forscher deuten das als Werkzeug, das den Tieren helfe, Beutetiere aufzuscheuchen, ohne sich an scharfkantigen Objekten im Sand zu verletzen. Doch laut Gregg und Manger lässt die Befundlage zu wünschen übrig. Zum einen lasse sich dieses Verhalten nur bei einigen Delfinen vor Ort beobachten, zweitens sei dessen Zweck keineswegs klar.
Lillys abenteuerliche Idee, Delfine würden sprechen mehr noch, sie versuchten sogar, auf Englisch mit den Forschern zu kommunizieren , konnten andere Wissenschafter überhaupt nicht bestätigen. Aber immerhin hat der Verhaltensforscher Louis Herman vom Kewalo Basin Marine Mammal Laboratory in Honolulu Delfinen beigebracht, akustische Signale und Handzeichen zu verstehen. So konnten sie lernen, Dinge wie einen Ball oder Reifen zu identifizieren, Handlungen wie Springen auszuführen oder Konzepte wie links und rechts zu verstehen. Freilich: Diese Fähigkeiten stellen keine große Ausnahme im Tierreich dar. Zu ähnlichen Leistungen sind nach entsprechendem Training auch Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans, Seelöwen, Papageien, Tauben und Hunde in der Lage. Der Klub der scheinbar Sprachbegabten ist nicht so exklusiv, wie man meinen möchte.
Als klassischer Intelligenztest gilt nach wie vor das Ich- oder Selbstbewusstsein und ein beliebter Maßstab dafür ist die Spiegelselbsterkennung. Entdecken Schimpansen im Spiegel einen weißen Punkt auf ihrem Fell, inspizieren sie diesen näher. Bei Delfinen will Lori Marino von der Emory University im US-Bundesstaat Georgia Ähnliches beobachtet haben. Im New Yorker Aquarium markierte sie zwei Delfine mit einer wasserfesten ungiftigen Farbe an der Seite ihrer Körper und auf dem Kopf. In einem mit zwei Spiegeln versehenen Becken sollen die Fische diese Zeichen mit besonderer Aufmerksamkeit studiert haben.
Die Ergebnisse sind aber nach wie vor umstritten. Manger wirft ein, Delfine sähen gar nicht gut genug, um die Markierungen überhaupt zu erkennen. Heidi Harley kritisiert, das Verhalten der Delfine vor den Spiegeln sei mehrdeutig. Und ohnehin beherrschen auch andere Tiere wie Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas, Indische Elefanten oder sogar Elstern die Kunst der Selbstbespiegelung. Doch selbst wenn Marinos Deutung des Delfinverhaltens zutreffen sollte, ist unsicher, ob der Spiegeltest ein hinreichender Beleg für Selbstbewusstsein ist. Schließlich gebe es auch Menschen, die nach Gehirnverletzungen ihr Spiegelbild nicht erkennen, denen wir aber das Wissen um sich selbst nicht absprechen.
Aus den Forschungen lässt sich ableiten, dass Delfine sicher kognitive Talente besitzen. Einige lokale kognitive Spezialisierungen reichen aber nicht aus, Delfine zu überhöhen, nicht zuletzt, weil die Selbsterkennung im Spiegel als Nachweis für Selbstbewusstsein nicht bewiesen ist, sagt Güntürkün. Doch die populäre Sicht ist verführerisch und gegen Sachargumente meist immun. So hat die indische Regierung im Mai ein Gesetz verabschiedet, das Delfine neuerdings zwischen Tier und Mensch einreiht, indem es sie zu nicht-menschlichen Personen erklärt.