Peter Palese, 74

Virologe Palese: "Impfgegnerschaft so alt wie das Impfen selbst"

Peter Palese zählt zu den weltweit renommiertesten Virologen. Der gebürtige Linzer über militante Impfverweigerer, sündige Vakzine, Blindheit und Todesgefahr durch Masern, seine Arbeit an einem völlig neuen Grippeimpfstoff und das gefährlichste Virus der Welt.

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INTERVIEW: FRANZISKA DZUGAN

profil: Sie hatten als Dreijähriger ein traumatisches Erlebnis, das Sie bis heute in Alpträumen verfolgt. Was war passiert?
Palese: Ich lag in meinem Bett im Haus meiner Großmutter in Bad Goisern und starrte an die Decke. Ich hatte furchtbare Panik, weil ich glaubte, ich müsse ersticken. Ich bemerkte einen fremden Mann im Zimmer, der leise mit meiner Großmutter sprach. Später erzählte sie mir, der Arzt habe überlegt, mir einen Luftröhrenschnitt zu verpassen. Zum Glück war das am Ende nicht nötig. Ich litt an Diphterie, die für jeden vierten Patienten tödlich endet. Es gab damals bereits eine Impfung dagegen, die in Österreich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings nicht erhältlich war.

profil: Ihre umsichtige Großmutter ließ Sie einige Sommer lang nicht in der Traun baden. Warum?
Palese
:
Weil Poliomyelitis in Goisern umging. Die Infektionskrankheit kann bleibende Lähmungen verursachen oder die Atemwege befallen, was zum Tod führt. Sie wird über das Wasser übertragen.

profil: Seit den 1950er-Jahren gibt es eine Impfung, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wollte Polio eigentlich mit dem heurigen Jahr ausgerottet haben. Warum gelingt das nicht? Palese: Das Problem sind traditionell geprägte Regionen in Afghanistan, Nigeria, Ghana, Somalia und anderen Ländern, in denen Clans davon überzeugt sind, dass die Impfung Frauen unfruchtbar macht. Bill Gates hat sogar die radikalislamistischen Taliban besucht, um sie von dieser abstrusen Idee abzubringen. Ohne Erfolg.

Impfungen machen Angst, weil sie Gesunden vorbeugend verabreicht werden.

profil: Nicht nur bei den Taliban gibt es Impfgegner. Woher stammt dieses tiefe Misstrauen?
Palese: Die erbitterte Gegnerschaft ist so alt wie das Impfen selbst. Schon Edward Jenner, der den Pockenimpfstoff entwickelte und ihn 1796 dem ersten Buben erfolgreich verabreichte, hatte mit Impfgegnern zu kämpfen. Damals war das noch eher verständlich. Die Methode steckte in den Kinderschuhen, und es gab Nebenwirkungen. Edward Jenner immunisierte seine Patienten mithilfe von harmloseren Kuhpocken gegen die humanen Pocken. Eine Karikatur aus dieser Zeit zeigt geimpfte Menschen, denen die Körperteile einer Kuh aus der Haut platzen.

profil: Fakten zählen bei eingefleischten Impfgegnern wenig. Wie sollte man ihnen begegnen? Palese: Impfungen machen Angst, weil sie Gesunden vorbeugend verabreicht werden. Es gibt zu wenig Wissenschafter, die Fakten gut kommunizieren können. Deshalb sind die Medien gefragt, das Thema immer wieder aufzugreifen.

profil: Die Welt ist seit 1980 frei von Pocken, seither wird nicht mehr geimpft. Sie wären dafür, es trotzdem weiter zu tun. Warum? Palese: Man kann das Virus im Labor nachzüchten. Biologische Kriegsführung ist eine Bedrohung, vor der ich tatsächlich Angst habe. Zwar gibt es sowohl in Amerika als auch in Europa große Mengen eingefrorener Pocken-Impfstoffe, die im Falle eines Angriffs aufgetaut werden können. Das Problem: Der Pockenimpfstoff ist der einzige von allen Impfstoffen, der für Kinder harmlos ist, bei Erwachsenen aber Nebenwirkungen auslösen kann.

profil: Immer wieder behaupten Menschen, zum Beispiel von einer Grippeimpfung Schnupfen bekommen zu haben.
Palese
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Das ist völlig unmöglich. Man kann selbst immunschwache HIV-Patienten gefahrlos gegen Grippe impfen. Die Impfung findet freilich im Herbst statt, wenn bereits Erkältungsviren im Umlauf sind. Ein frisch Geimpfter wird nicht von dem Wirkstoff krank, sondern weil er sich in der U-Bahn, im Kino oder in der Arbeit mit Erkältungsviren angesteckt hat.

profil: Sie arbeiten an einem neuen Grippeimpfstoff. Wie funktioniert er?
Palese
:
Er deckt alle Grippestämme ab und nicht nur einige wenige, wie die derzeit in der Apotheke erhältlichen Impfstoffe.

Ich empfehle jedem, zur Grippeimpfung zu gehen.

profil: Jener vom vergangenen Jahr erwies sich als nicht sehr effektiv. Warum?
Palese
:
Es lag an einer unerwarteten Mutation des Virus. Die WHO musste die Zusammensetzung des Serums für den Herbst 2017 auf Basis von Daten des Jahres 2016 festlegen. Sie musste also raten, gegen welche Grippestämme sie das menschliche Immunsystem wappnet.

profil: Lassen Sie sich trotzdem jedes Jahr impfen?
Palese
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Auf jeden Fall. Das ist wie bei einem Sicherheitsgurt im Auto. Er kann einen nicht gegen alle Verletzungen schützen, trotzdem ist es besser, angeschnallt zu sein. Auch wenn der Impfstoff die Krankheit nicht verhindern kann, so schwächt er sie doch deutlich ab. Ich empfehle jedem, zur Grippeimpfung zu gehen.

profil: Was ist bei Ihrem Universalimpfstoff anders?
Palese
:
Auf der Hülle des Influenzavirus befinden sich etwa 1000 Teilchen, die aussehen wie ein Baum mit Stamm und Krone. Die Krone zieht normalerweise die Aufmerksamkeit des Immunsystems auf sich und verändert sich ständig. Unser Impfstoff macht sie für das Immunsystem unsichtbar. Damit ist es gezwungen, den Stamm anzugreifen, der kaum mutiert. Der Impfstoff schützt so gegen alle Influenzaarten und soll mehrere Jahre anhalten.

profil: Funktioniert das bereits?
Palese
:
Im Tiermodell ja. Seit einem halben Jahr laufen klinische Studien, der Impfstoff wird also an Menschen getestet. Die ersten Ergebnisse erwarten wir Mitte 2019.

profil: Bill Gates finanziert eine der klinischen Studien. Wie kam es dazu?
Palese
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Er wurde auf eine Untersuchung aufmerksam, die zeigte, was Influenza in unterentwickelten Ländern anrichtet. Deshalb ist er sehr an einem Universalimpfstoff gegen Influenza interessiert. Gates sagte, er fürchte sich mehr vor einer Grippe-Pandemie als vor einem Atomkrieg.

profil: Könnte man die Grippe irgendwann endgültig ausrotten?
Palese
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Das ist unwahrscheinlich. Influenza Typ A gibt es auch bei Tieren, vom Walfisch bis zum Rentier. Die Möglichkeit gegenseitiger Ansteckung ist also ständig gegeben. Bei Influenza Typ B könnte es mit unserem Impfstoff aber gelingen, weil das Virus nur im Menschen vorkommt.

Durch veränderte Sexualpraktiken führen Infektionen immer häufiger auch zu Krebs im Mund- und Rachenraum.

profil: Die Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) wird von vielen religiösen Amerikanern als "sündige Vakzine" abgelehnt. Warum?
Palese
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HPV wird durch sexuelle Kontakte übertragen und kann, auch Jahre nach der Infektion, Gebärmutterhals-, Scheiden-, Anal- und Peniskrebs auslösen. Manche Eltern behaupten, ihre Kinder würden so etwas ohnehin nicht machen. Oder sie befürchten, die Impfung gebe ihren Kindern einen Freibrief für Sex.

profil: Ist es sinnvoll, auch ältere Menschen gegen HPV zu impfen?
Palese
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Absolut. Einer meiner Kollegen ist Spezialist für HNO und baut gerade eine Forschungseinheit für HPV auf. Der Grund: Durch veränderte Sexualpraktiken führen Infektionen immer häufiger auch zu Krebs im Mund- und Rachenraum. Er hat viele ältere Patienten, die sich vor 20 Jahren angesteckt haben. Ihnen hätte eine Impfung im Erwachsenenalter definitiv helfen können.

profil: Der betrügerische Arzt Andrew Wakefield hat das hartnäckige Gerücht in die Welt gesetzt, der Masern-Mumps-Rötel-Impfstoff löse Autismus aus. Auch deshalb lassen manche Eltern ihre Kinder nicht impfen, die Masernfälle werden mehr.
Palese
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Wakefield ist in den USA nach wie vor aktiv und verbreitet seine absurden Ideen. Ihm und seinen Anhängern können wohl nur noch Psychologen oder Psychiater helfen. Allen anderen Eltern möchte ich Folgendes sagen: Die Gefahr, an Masern zu sterben, erhöht sich mit steigendem Lebensalter drastisch. Ein Nichtgeimpfter, der sich mit 30 Jahren womöglich auf einer Reise mit Masern ansteckt, hat eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent, daran zu sterben. Masernviren können auch Blindheit auslösen. Mumps wiederum kann bei erwachsenen Männern Unfruchtbarkeit oder bleibende Hirnschäden verursachen.

Für den Einzelnen ist das HI-Virus wohl das unangenehmste, auch wenn die Medikamente besser werden.

profil: Sie sagen, Masernviren seien gefährlicher als das gefürchtete Ebola.
Palese
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Masern sind wesentlich ansteckender. Ein Maserninfizierter steckt über die Luft im Durchschnitt 14 andere an, ein Grippekranker nur zwei. Bei Ebola ist die Verbreitungsgefahr noch weit geringer - solange man Verstorbene nicht abküsst, funktionierende Krankenhäuser und hygienische Standards hat. In der westlichen Welt muss man Ebola nicht fürchten.

profil: Warum hat die US-Arzneibehörde den neuen Ebola-Impfstoff noch nicht zugelassen? Palese: Weil man sich auf die Zahlen aus Afrika nicht verlassen kann. Es fehlen ordentliche Studien, die beweisen, dass die Impfung wirkt.

profil: Was ist Ihrer Meinung nach das gefährlichste Virus?
Palese: Für den Einzelnen ist das HI-Virus wohl das unangenehmste, auch wenn die Medikamente besser werden. Pocken waren mit einer Todesrate von 15 bis 20 Prozent die bisher größte virale Bedrohung für die Menschheit.

profil: Sie haben den Erreger, der die Spanische Grippe auslöste, im Labor nachgebaut. Warum konnte er 50 bis 100 Millionen Menschen töten?
Palese
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Das Virus, das wir aus den konservierten Gewebeproben eines US-Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg nachgebaut haben, erwies sich als H1N1-Virus, das sich erstaunlicherweise wenig von heutigen Grippeviren unterscheidet. Es würde heute viel weniger Schaden anrichten, weil wir seitdem eine gewisse Grundimmunität gegen H1N1-Viren erworben haben. Diese gab es 1918 aber noch nicht. Viele Menschen litten außerdem an zusätzlichen bakteriellen Infektionen, auch Antibiotika gab es damals noch nicht.

profil: Das Grippemittel Tamiflu ist umstritten. Wirkt es nun oder nicht?
Palese
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Es ist eines der sichersten Medikamente überhaupt, weil es nicht in die Zelle eindringt. Es verhindert, dass sich das Virus von Zelle zu Zelle ausbreitet. Das Problem: Der Influenzaerreger verbreitet sich nur zwei Tage lang intensiv. Die Symptome entstehen erst währenddessen, weshalb man Tamiflu meist zu spät einnimmt. Dann ist es wirkungslos. Aber angenommen, in einem Altersheim bricht die Grippe aus und man gibt den gesunden Bewohnern für fünf Tage Tamiflu, dann lässt sich die Ausbreitung des Virus hervorragend eindämmen.

profil: Mit welchen neuen Impfstoffen ist in den nächsten Jahren zu rechnen? Palese: Es wird intensiv an Impfungen gegen Hepatitis C, HIV, Herpes, Erkältungsviren gearbeitet. Ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten Jahren Erfolge sehen werden.

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Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.