Virologie: Welche Seuchen könnten auf uns zukommen?
Die Seuche pflanzte sich wie im Zeitraffer fort. Anfangs klebten nur ein paar Viren an einer Türschnalle und auf einer Tischplatte. Kaum vier Stunden später waren zwei ganze Gebäude kontaminiert. Die Erreger saßen auf Lichtschaltern, Computern, Bettgestellen, auf Henkeln von Kaffeekannen. 40 bis 60 Prozent aller Oberflächen eines Pflegeheimes und eines Bürohauses waren gespickt mit Viren, genau wie die meisten Menschen darin, die den winzigen Geschöpfen unfreiwillig, aber höchst zuverlässig bei ihrem einzigen Lebenszweck geholfen hatten: der möglichst flotten und effektiven Verbreitung ihrer selbst.
Dieses Szenario ist das Ergebnis einer Studie, von der Forscher aus Arizona berichteten. Die Wissenschafter wollten wissen, was geschieht, wenn man einen – für den Menschen harmlosen – Typ von Noroviren an neuralgischen Punkten stark frequentierter Gebäude aussetzt. Am Ende des Experiments studierten sie anhand von Abstrichen, die sie von verschiedenen Stellen der Häuser nahmen, mit welch verblüffendem Erfolg die Viren neue Lebensräume erobert hatten.
Abseits inszenierter Laborsituationen verlaufen die Infektionsketten oft ähnlich, wenn auch in viel größerem Maßstab. Beispiel: Ein erkrankter chinesischer Fischhändler fährt in ein Spital und steckt dort 30 Menschen an. Er wird in eine andere Klinik verlegt, infiziert beim Transport fünf Personen und im Krankenhaus 18 Patienten sowie 23 Schwestern und Ärzte. Von diesen fliegt einer nach Hongkong, hustet auf dem Hotelgang einer 78-jährigen Kanadierin ins Gesicht, die dann nach Toronto reist und dort ein Virus verteilt, das heute unter der Bezeichnung SARS bekannt ist und schwere Atemwegsleiden auslöst.
Beide Geschehnisse führen deutlich vor Augen, warum Viren und andere parasitäre Krankheitserreger besonders tückisch wirken und den Eindruck einer fast gespenstischen Bedrohung erwecken: Mikroskopisch kleine Organismen, fernab aller humanen Wahrnehmungssysteme und von der Natur mit einem radikal minimalistischen biologischen Bausatz bestückt, manipulieren ihre Opfer derart geschickt, dass diese tatkräftig dazu beitragen, ihnen ein weit verzweigtes, unsichtbares Wegenetz für Ausbreitung und Vermehrung zu entrollen. Indem sie ihre Wirte zum Niesen und Husten bringen, spinnen Viren ein dichtes Geflecht an Reiserouten durch jede übervölkerte U-Bahn; indem sie sich in Stechmücken einschleusen, missbrauchen sie diese als hochmobile Spediteure ihrer infektiösen Fracht.
Könnten wir die Welt aus dem Blickwinkel all der winzigen Erreger betrachten, wir sähen einen seltsamen Planeten, der von Mikroorganismen beherrscht wird. Wir waten permanent durch ein Meer von Viren, Bakterien und weiteren bizarren Daseinsformen. Billionen von Mikroben besiedeln den menschlichen Körper, und in jedem Milliliter Meerwasser wuseln bis zu 250 Millionen Viruspartikel umher. Gelänge es, sämtliche irdische Viren aneinanderreihen, entstünde eine Schlange von 200 Millionen Lichtjahren. Das ist umso faszinierender, als Viren die kleinsten bekannten Geschöpfe sind: Selbst der Koloss unter ihnen misst lediglich 600 Nanometer: 600 Milliardstel eines Meters.
Das Virus, das 1918 die Spanische Grippe verursachte, erreichte nur ein Sechstel dieser Größe und besaß bloß elf Gene. Doch es tötete mehr Menschen als alle Kriege des 20. Jahrhunderts zusammen: Schätzungen zufolge starben 50 Millionen Menschen, etwa drei Prozent der damaligen Weltbevölkerung.
Andere Arten im Kosmos der Viren, der Virosphäre, sind harmlos oder gar nützlich: In den Meeren helfen Viren mit, das ökologische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, indem sie Bakterien vernichten. In ähnlicher Weise kommen solche Bakteriophagen als Alternative für Antibiotika infrage. Am anderen Ende der Skala finden sich Organismen, die ihre Opfer mit grausiger Präzision töten: Das Tollwutvirus führt in praktisch 100 Prozent der Infektionen unausweichlich zum Tod. Und obwohl es gegen Tollwut eine Impfung gibt, sterben jedes Jahr weltweit mehr als 50.000 Menschen daran. Das sind gut zehn Mal mehr Tote als der Ebola-Ausbruch 2014 forderte. Eine uns banal erscheinende Infektion mit Grippeviren überleben pro Jahr um die 300.000 Menschen nicht. Und bestenfalls nebenher registrieren wir, wenn in der Karibik eine Chikungunya-Epidemie mit Hunderttausenden Infizierten tobt.
Ebola symbolisiert in verdichteter Form all die Schrecken, die von einem Virus ausgehen können: ein unheimlicher Keim, aus der Düsternis des Urwalds kommend, erfasst plötzlich die Menschen, tötet oft in wenigen Tagen, und die hochgerüstete Medizin des 21. Jahrhunderts hat kein Mittel dagegen. Die Bilder von siechen und sterbenden Patienten, von Helfern in Schutzanzügen, von zur Desinfektion verbranntem blutigem Bettzeug, all die Meldungen über „Notfallpläne“, „Verdachtsfälle“, über eine „außer Kontrolle“ geratende „Seuche“ hinterlassen den Eindruck näher rückenden Unheils – auch wenn die Wahrscheinlichkeit ziemlich gegen Null tendiert, dass Ebola außerhalb einiger afrikanischer Regionen je eine ernsthafte Bedrohung sein kann.
Existieren womöglich aber andere Erreger, die das Zeug dazu haben, global gefährlich zu werden, also auch in Europa? Chikungunya könnte ein Kandidat sein, auch das Dengue-Fieber, das ebenfalls von Gelsen unter die Menschen gestreut wird. Bei beiden handelt es sich um ursprünglich tropische Erreger, denen jedoch immer wieder der Sprung nach Europa gelingt. Mit etwa 200 Chikungunya-Fällen war Ravenna 2007 konfrontiert, drei Jahre später verzeichnete Südfrankreich einen lokal begrenzten Ausbruch. Madeira wurde 2012 von der größten europäischen Dengue-Epidemie seit fast einem Jahrhundert erfasst: Mehr als 2000 Personen erkrankten damals. Zwei Jahre zuvor kursierte Dengue in Kroatien und Frankreich, allerdings kleinräumiger. Japan ließ im September 2012 Teile öffentlicher Grünflächen sperren, weil Dengue dort erstmals seit 70 Jahren auftrat. Weltweit wird die Zahl der Neuinfektionen pro Jahr auf 50 Millionen taxiert (wobei es Schätzungen gibt, dass die Dunkelziffer sieben Mal höher sein könnte). Und ohne Zweifel hat das Virus Gebiete erobert, die ihm einst gänzlich fremd waren: Kannte man es vor 40 Jahren in lediglich neun Ländern, sind es heute mehr als 100.
Besitzen diese Exoten das Potenzial zum „Next Big One“, wie neue oder wieder aufflackernde Seuchen salopp genannt werden? In Maßen, sagen Experten. „Man darf das nicht überbewerten, muss es aber trotzdem ernst nehmen“, urteilt Herwig Kollaritsch, Professor für Tropenmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Das klingt ein wenig zögerlich, trifft aber die Realität präzise. Einerseits ist Dengue deutlich harmloser als Ebola, die Tollwut oder auch die Vogelgrippe. Das Virus kann zwar nicht nur Grippesymptome auslösen, sondern auch innere Blutungen, doch die Mortalität ist mit etwa 20.000 Toten pro Jahr – gemessen an der Zahl der Infektionen – relativ gering. Andererseits lenken einige aktuelle Umstände den Blick der Wissenschaft auf dieses Virus. Früher wurde Dengue bestenfalls dann zum Thema, wenn ein paar Urlauber eine Infektion importiert hatten. Sobald aber die jeweiligen Patienten die Sache ausgestanden hatten, endete auch die große Reise des Erregers, nicht zuletzt, weil dessen wichtigstes Vehikel fehlte: die passenden Stechmücken.
Doch genau das hat sich mittlerweile geändert. Manch einst nur in fernen Weltgegenden heimische Blutsauger machen es sich allmählich in Europa gemütlich und wandern Richtung Norden. Mitunter gelingt ihnen das nur für kurze Zeit, bis ein strenger Winter sie wieder auslöscht, aber in Regionen wie der Mittelmeerküste sind die klimatischen Bedingungen auch für einen Dauerwohnsitz geeignet. Besonders ein Insekt hat momentan die Aufmerksamkeit der Forscher: Aedes albopictus, die asiatische Tigermücke, eine kleine, zähe, höchst anpassungsfähige Art, die in Spanien und Italien, im gesamten Balkanraum, Italien, Griechenland, Russland, Georgien und erstaunlicherweise selbst in Holland und der Schweiz Fuß gefasst hat – und die zum Beispiel dann, wenn Touristen Dengue als Souvenir mitbringen, für die weitere Verbreitung vor Ort sorgen kann. Die Tigermücke übersteht nicht nur milde Winter, Viren können sogar in deren Eiern überdauern, wenn die Mücke schon tot ist.
Ein internationales Forscherteam publizierte vor einigen Jahren eine Studie, die der Frage nachging, inwiefern Dengue in Zukunft vermehrt zur Plage werden könnte. Die Wissenschafter stellten komplexe Modellrechnungen an, in die Daten typischer Dengue-Ausbrüche, etwa in Mexiko, Beobachtungen über die Expansion von Stechmücken sowie Prognosen über Klimaveränderungen in Europa einflossen. Konklusio: Es sei sehr wahrscheinlich, dass „das Risiko für Denge-Fieber in Europa unter den Bedingungen des Klimawandels steigt“. Betroffen seien vermutlich vor allem die Küstenregionen Südeuropas und der Nordosten Italiens. Eine rasche Etablierung in den identifizierten Regionen sei durchaus denkbar. Ähnliche Aussagen könne man für Chikungunya treffen.
Nichtsdestotrotz: Diese Erreger sind unangenehm, aber zum Glück bei weitem nicht das, was man sich unter Killerviren vorstellt. Ist ein solches überhaupt in Sicht? Eine „gewaltige Naturkraft“, wie es der amerikanische Virologe Nathan Wolfe formuliert, etwas Gefährlicheres „als die heftigsten Vulkanausbrüche, Wirbelstürme oder Erdbeben“? Die Antwort lautet: theoretisch ja. Und das ist die Grippe.
Damit Influenzaviren eine Bedrohung darstellen können, müssen allerdings mehrere Faktoren zusammenspielen. Die Vogelgrippe 2007 zum Beispiel war brisant, weil an die 60 Prozent aller Infizierten starben. Doch sie breitete sich kaum aus, weil eine Übertragung von Mensch zu Mensch schwer bis unmöglich ist. Das krasse Gegenteil erlebten wir 2009 mit der Schweinegrippe: hochinfektiös, global präsent, doch im Wesentlichen harmlos. Sehr oft scheint im Reich der Viren eine bemerkenswerte Ausgewogenheit zu herrschen: Was brandgefährlich ist, kommt kaum vom Fleck und umgekehrt. Die Tollwut ist extrem tödlich, doch Infizierte können das Virus nicht an andere Menschen weiterreichen. HPV, das Humane Papillomavirus, fängt sich dagegen die Mehrheit aller sexuell aktiven Frauen und Männer irgendwann ein. Es kann zwar Krebs auslösen, doch meist verursacht es keine Probleme, sondern wohnt einfach im Körper, ohne Schaden anzurichten, manchmal für Jahrzehnte (was auch für das Virus die praktischste Lösung ist, um möglichst lange zu existieren; seinen Wirt rasch und grausig zu töten ist hingegen aus der Sicht des Virus nicht sehr sinnvoll, weil es damit selbst in der Sackgasse steckt).
Wäre aber eine unheilige Allianz von Vogel- und Schweinegrippe möglich, ein Mix aus einem sehr tödlichen und einem sehr reisefreudigen Erreger? Ja, sagen Experten, Mensch wie auch Tier taugen durchaus zum biologischen Labor für solch eine Mischung. Das liegt an der Substanz, aus der Influenza besteht (Dengue übrigens auch). Es handelt sich um Ribonukleinsäure, um RNS, und diese hat eine unangenehme Eigenheit: Wenn sie sich vermehrt, also wieder und wieder selbst vervielfältigt, schummeln sich gerne Fehler ein. „RNS-Viren sind sehr schlampig im Kopieren der Erbinformation“, sagt Tropenmediziner Kollaritsch. „Das bedeutet, dass jedes Mal ein Haufen Veränderungen entsteht.“ Veränderung heißt Mutation, und durch einen solch völlig willkürlichen Wandel kann die Aggressivität wie auch die Infektiosität schlagartig steigen.
Mit einiger Spannung beobachteten Wissenschafter vor ein paar Jahren die Entwicklung eines Virus namens H10N8. Es tauchte zunächst in China auf, stammt wie die Grippe von 1918 von Vögeln und besitzt Andockstellen, die exakt zu den Zellen von Lunge und Luftröhre passen. Das ist gleichsam der Türöffner zum menschlichen Organismus, wodurch es sich in die Zellen schleusen und replizieren kann. Derzeit ist die Vorliebe für Vogelzellen noch größer als für jene von Menschen. Doch eine winzige und unberechenbare genetische Manipulation würde genügen – und H10N8 könnte plötzlich vorwiegend an humane Rezeptoren binden. Vögel könnten so ein Virus zunächst hübsch in aller Welt verteilen, die Menschen in der jeweiligen würden dann für die weitere flächendeckende Ausbreitung sorgen. Das Potenzial zur Pandemie sei damit vorhanden, konstatierten Forscher im Fachjournal „Nature“.
Wenn ein Virus eines Tages die Artbarriere überwindet und vom Tier auf den Menschen überspringt, spricht man von einer Zoonose. 60 bis 70 Prozent aller Infektionen sind Zoonosen: Ebola ist eine, SARS, das West Nil Fieber und alle Formen von Grippe auch, ebenso das MERS-Coronavirus, welches Lunge und Atemwege befällt, dadurch das „Middle East Respiratory Syndrome“ auslöst und vor knapp einem Jahr globale Besorgnis entfachte. Zirka 900 Menschen erkrankten bis Anfang Oktober 2014 daran, 360 dieser Infektionen endeten tödlich.
Norbert Nowotny, der eine Zeitlang auch eine Gastprofessur im Oman bekleidete, war wesentlich daran beteiligt, zu erhellen, wie MERS zum Menschen gelangte. Die Ingredienzien sind im Grunde immer dieselben: Man braucht zunächst einen sogenannten Reservoirwirt, im Regelfall ein Wildtier, das die Heimstätte des Virus bildet und den es unversehrt lässt. Sehr oft handelt es sich dabei um Fledermäuse oder Flughunde, so auch bei MERS. Zweitens benötigt man eine Brücke zwischen Mensch und Wildtier. Vorzüglich eignen sich Haustiere, die oft in engem Kontakt zum Menschen leben und dadurch den Transfer zwischen der Wildnis und der humanen Gesellschaft bewerkstelligen. Im Fall von MERS konnte Nowotny Kamele als Zwischenwirt identifizieren, die im arabischen Raum, wo die ersten Infektionen auftraten, verbreitete Nutztiere sind.
Wie eine Verkettung kritischer Umstände im Detail zum Übersprung eines Erregers auf den Menschen führt, zeigt auch das Beispiel des Nipah-Virus, das erstmals 1999 in Malaysia auftrat. Dort litten Menschen zunächst an Grippebeschwerden, bald aber auch an ernsten neurologischen Symptomen. In detektivischer Arbeit fanden Forscher heraus, was passiert war. Im betroffenen Landstrich gab es große Schweinemastbetriebe. In deren Nähe wurden zudem Mangobäume gepflanzt. Die Mangos ließen sich verkaufen, schmeckten aber auch den heimischen Flughunden ausgezeichnet. Sie fraßen die Früchte, ließen Teile davon fallen, manchmal exakt in Schweinetröge. So infizierten sich die Schweine und in einem zweiten Schritt die Menschen: Alle Patienten hatten in Schweinefarmen gearbeitet.
Bei anderen Erregern müht sich die Wissenschaft jahre- oder jahrzehntelang, deren Herkunft nachzuvollziehen – was insofern nicht wundert, als die Virologie eine recht junge Disziplin ist. Noch vor 130 Jahren hatte man keine Ahnung, dass es Viren gibt. Erst in den 1880er Jahren bemerkten ein russischer und ein holländischer Forscher im Abstand weniger Jahre, dass ein bestimmter Tabakschädling nicht bakterieller Provenienz sein konnte. Es gab damals bereits Filter, die Bakterien auffingen, doch was immer den Tabakpflanzen zusetzte, rutschte hindurch – musste also viel kleiner als ein Bakterium sein. So setzte sich die Erkenntnis durch, dass man es mit einem bisher unbekannten Erreger zu tun hatte. Man taufte ihn Virus. Zuvor hatten Viren grausam unter den Menschen gewütet – die Pocken töteten im 18. Jahrhundert fast eine halbe Million Menschen pro Jahr –, und niemand hatte die leiseste Idee, was sie dahinraffte.
Die feine Analytik des 21. Jahrhunderts erlaubt es den Wissenschaftern immer besser, sich auf die Fährte von Viren zu heften, allerdings stehen sie vor einer monströsen Aufgabe. An die 320.000 zoonotische Viren dürften allein im Reich der Säugetiere wohnen, errechneten Forscher der Columbia University. Um diese Ziffer zu ermitteln, hatten sie zunächst eine konkrete Art von Fledertieren untersucht. Sie fanden darin 58 Virenarten, von denen erstaunlicherweise 50 gänzlich unbekannt waren. Von diesem Modell ausgehend, schlossen die Forscher dann auf die Gesamtzahl sämtlicher Viren in allen existierenden Säugetieren.
Bereitet ein vormals unbekannter Erreger plötzlich Probleme, ist es eine drängende Aufgabe, dessen Ursprung zu lokalisieren. Mitunter aber entzieht sich das Virus hartnäckig dem Zugriff der Wissenschaft. „Viren werden immer einen Vorsprung gegenüber uns Menschen haben, denn wir können nicht immer vorhersagen, wie sie sich entwickeln“, sagt Nowotny. Ebola ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Seit 1976 taucht es immer wieder wie aus dem Nichts auf, rottet ganze afrikanische Dörfer aus und verschwindet dann so rasch und spurlos, wie es gekommen ist. Lange standen die Forscher vor einem Rätsel, mittlerweile wissen sie aber recht genau, wie das Virus seinen Weg zum Menschen findet.
Der Reservoirwirt sind, wieder einmal, Flughunde. Diese stecken zum Beispiel Schimpansen an, und wenn Menschen den Dschungel durchstreifen, stoßen sie fallweise auf einen geschwächten oder toten Primaten, der ein ausgiebiges Abendessen für die ganze Familie verspricht – Virusübertragung inklusive. Je nachdem, welcher der fünf bisher bekannten Ebola-Stämme zuschlug, waren manchmal in kürzester Zeit mehr als 80 Prozent der Infizierten tot, und damit war für den Erreger ebenfalls Endstation. Bis die Wissenschafter zur Stelle waren, hatte sich das Virus längst wieder in den Urwald zurückgezogen – bis zum nächsten Übersprung auf den Menschen.
Auch ein anderer gefürchteter Krankheitserreger gab der Fachwelt lange Zeit Rätsel auf: Woher kam HIV, und wie mag diese Seuche, mit der sich bisher mehr als 75 Millionen Menschen infiziert haben, entstanden sein? Den Pfad zum Menschen ebneten – vermutlich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – Affen, von denen bekannt ist, dass sie von einem verwandten Virus befallen werden: von SIV, dem Simian Immunodeficiency Virus. Das Reservoir von SIV dürften Kleinaffen wie Halsbandmangaben sein, die von Menschenaffen gejagt und gefressen werden. So reiste SIV zu Schimpansen. Weil Menschen in manchen Regionen Afrikas Schimpansen erlegen, zugleich auch fallweise von den Primaten attackiert werden, kam es irgendwann zum fatalen Übersprung – und eine winzige Mutation machte daraus das teuflische HIV, das erst 1983 identifiziert wurde. Man nimmt gegenwärtig an, dass HIV zumindest 13 Mal von Affen zu Menschen wanderte.
Im Fachjournal „Science“ berichteten Forscher, wie HIV anschließend die Welt eroberte. Sie nahmen Genanalysen des häufigsten Stammes HIV-1 und eine Art molekulare Routenverfolgung vor, die ergab: HIV gelangte zunächst von Kamerun auf dem Flussweg nach Kinshasa. Der einstige ökonomische Knotenpunkt wurde ungefähr zwischen 1920 und 1950 zu jener Brutstätte des Virus, die für eine globale Verbreitung nötig war. Damals war Kinshasa eine Metropole mit raschem Wachstum, regem Handel, blühender Prostitution und einem dichten Schienennetz in viele andere Regionen. Für einen zusätzlichen Turbo sorgte ausgerechnet eine Gesundheitsmaßnahme: Man impfte die Menschen gegen Hepatitis – leider mit nicht sterilen Spritzen.
Die Geschichte von HIV zeigt aber auch sehr grundsätzlich, wie sich der Mensch selbst ins Visier winziger Keime manövrierte. Ein einschneidender Moment war, als unsere Vorfahren auf die Idee verfielen, Fleisch zu essen. Es ist nicht nur bei Schimpansen eine blutige Angelegenheit, wenn sie andere Tiere reißen und mit Hingabe in deren Innereien wühlen. Auch jene fernen Generationen unserer Ahnen, welche die Vorzüge energiereicher fleischlicher Nahrung entdeckten, öffneten Viren und Mikroben ein komfortables Einfallstor. „Als unsere Vorfahren begannen, Tiere zu jagen und zerlegen, stellten sie sich ins Zentrum eines riesigen Netzes von Mikroorganismen“, erläutert Virologe Nathan Wolfe.
Wolfe legt auch dar, dass die Menschen in manchen Etappen ihrer Evolution unwissentlich einiges dazu taten, die Erreger wieder abzuschütteln. Zum Beispiel, als sie den Dschungel verließen und in die Savanne vordrangen. Denn dort ist die Artenvielfalt geringer, und das gilt auch für jene der Viren. Außerdem erlernten sie, was eine entscheidende Umwälzung war, das Kochen, wodurch die überwiegende Mehrzahl aller gefährlichen Partikel abgetötet wird. Später jedoch ließ der Mensch die Krankheitserreger buchstäblich wieder ins Haus: Er wurde sesshaft, domestizierte Tiere und trug so dazu bei, dass ein ganzer Kosmos von Keimen einmarschierte und mit dem seinen verschmolz.
Heute wird diese Nähe auf die Spitze getrieben, wenn Leute in ärmlichen, hygienisch mangelhaften Siedlungen dicht besiedelter Ballungszentren, etwa an der Peripherie asiatischer Großstädte, in unmittelbarem Kontakt mit ihren Nutztieren leben, zum Beispiel mit Hühnern. So konnten Infektionen wie die Vogelgrippe, SARS und wohl auch das neue Influenzavirus H10N8 gedeihen. Zugleich sind wir viel mobiler geworden, schicken Güter in einem wilden Reigen um die Welt, reisen selbst mit Vorliebe und in Windeseile in alle exotischen Winkel dieser Erde.
Und manchmal geraten dabei neuerlich in Kontakt mit unseren eigenen viralen Altlasten: Wir treffen auf genau jene Erreger, derer sich unsere Vorfahren in prähistorischer Zeit entledigten, als sie dem Urwald den Rücken kehrten.