Wissenschaft

Vitamin D: Doch kein Wundermittel?

Vitamin D soll gegen Infekte, Krebs, Demenz, Herzleiden, Depressionen - und nun auch gegen das Coronavirus helfen. Doch die Beweislage ist ernüchternd: Studien finden keinerlei Nutzen von Vitaminpräparaten. Was bleibt, ist ein völlig überzogener Hype.

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Er habe eine einfache Frage, sagt John Mandrola: Warum lassen sich die Menschen von der Faktenlage nicht überzeugen? Mandrola ist Kardiologe in Louisville, Kentucky, erstellt Medizin-Podcasts und verfasst Fachkommentare für "Medscpae", eine Nachrichtenplattform für Ärzte. Dort schrieb er einen Artikel über den momentan vielleicht größten und zugleich merkwürdigsten Hype in der Medizin: über die beinahe zum Dogma gewordene Annahme, die Menschheit laboriere an chronischem Vitamin-D-Mangel, der dringend durch ausgiebige Verabreichung von Vitaminpräparaten korrigiert werden müsse.

Mandrolas Position zu dieser verbreiteten Praxis ist schnell erklärt: Er hält sie für völligen Unsinn. Sein Urteil beruht auf der Sichtung der bisherigen Studienlage zu Vitamin D, und deren Bilanz sei ernüchternd: Es liege kein Hinweis vor, dass die Zufuhr des beliebten Vitamins gesundheitlichen Nutzen stifte. Daraus resultieren Mandrolas Fragen: Wieso akzeptieren die Menschen diese Beweise nicht? Weshalb raten Ärzte weiterhin zur Einnahme und schicken ihre Patienten routinemäßig zu Messungen des Vitamin-D-Spiegels? Und warum verschwenden Leute ihr Geld, indem sie Millionen von Packungen Nahrungsergänzungsmittel kaufen?

Die Hamburger Internistin und Gesundheitswissenschafterin Ingrid Mühlhauser vertritt eine sehr ähnliche Auffassung: "Mandrola ist offenkundig der evidenzbasierten Medizin verpflichtet, und das gilt auch für mich. Ich bin mit seiner Interpretation völlig einverstanden." Die Zusammenschau der Daten zu Vitamin D zeige eindeutig: "Studien konnten bisher keinerlei Nutzen einer Supplementierung nachweisen. "Das klingt zunächst irritierend, da wir ständig das Gegenteil hören, von Medien wie auch von Ärzten. Die Behauptung, ein bedenklicher Mangel an Vitamin D, speziell im Winter, sei eine permanente Bedrohung und mit verschiedenen Krankheitsrisiken verbunden, wurde so oft wiederholt, dass sie sich mittlerweile gleichsam den Status einer Gewissheit erschlichen hat. Doch selten, so scheint es inzwischen, ist die Diskrepanz zwischen allgemeiner Überzeugung und der Sachlage, zwischen Folklore und Fakten, so groß wie beim Reizthema Vitamin D-dem jüngsten Kapitel der fabelhaften Vitaminstory nach Vitamin A, C, E sowie dem weiten Feld der Antioxidantien.

"Studien konnten keinen Nutzen einer Supplementierung nachweisen." - Wissenschafterin Ingrid Mühlhauser der Universität Hamburg 

Dabei erscheint es erst mal einleuchtend, auf den Vitamin-D-Spiegel zu achten. Der Organismus benötigt Calcitriol, die aktive Form des zu mehr als 80 Prozent aus dem UV-B-Anteil von Sonnenlicht gewonnenen Vitamins, für viele Zwecke: zur Mineralisierung von Knochen und Zähnen, für die Funktion von Muskeln und des Immunsystems. Außerdem ist heute bekannt, dass fast alle Gewebearten und Körperzellen Rezeptoren für Vitamin D besitzen, was bestimmt nicht bloß eine Verirrung der Evolution ist. Vitamin D spielt somit fraglos eine wichtige Rolle bei der Erhaltung der Gesundheit.

Der Trugschluss besteht allerdings im Glauben, dass mehr davon auch mehr nützt. "Aber das funktioniert eben nicht", erklärt Herzspezialist John Mandrola gegenüber profil. "Das wurde in Hunderten Studien gezeigt."

Tatsächlich besteht keinesfalls ein Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten. "Das Thema wurde längst sehr ausführlich untersucht. Es gibt viele sehr gut gemachte Studien dazu", sagt die Medizinerin Jana Meixner, die die Datenlage zu Vitamin D für die Gesundheitsplattform "Medizin transparent" sichtete. Mandrola meint sogar, es sei Zeit-und Geldverschwendung, noch weitere klinische Studien durch zuführen, da überwältigend klare Evidenz vorliege. Inzwischen existieren viele Dutzend nach hohen Standards umgesetzte Studien, die teils 10.000 und mehr Personen über Zeiträume von bis zu sieben Jahren beobachteten. Hinzu kommen mindestens 20 Meta-Analysen-Zusammenschauen und Auswertungen einer Reihe einzelner Untersuchungen. In Summe liegen Daten über mindestens 100.000 Personen vor, vom Säuglings-bis zum Greisenalter. Dabei wurden sämtliche Verheißungen studiert, die einer zusätzlichen Verabreichung von Vitamin D zugeschrieben werden: höhere Lebenserwartung, Schutz vor Herzleiden, Brust-,Darm-und Prostatakrebs, Schutz vor Demenz, Diabetes, Allergien, Knochenbrüchen, Infektionen, chronischen Schmerzen und depressiven Verstimmungen. Und natürlich liegen mittlerweile erste Resultate darüber vor, ob zusätzliches Vitamin D gegen Covid-19 hilft.

Die Zahl positiver Effekte all dieser Arbeiten lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: null.

Die Fakten auf einen Blick

Vitamin D ist für Körperfunktionen wie den Knochenaufbau essenziell, ein schwerer Mangel kann zu Krankheiten wie Rachitis und Osteomalazie führen. 

Eine Auswertung der US Prevention Task Force, basierend auf 46 klinischen Studien in Bezug auf Mortalität, Knochenbrüche, Stürze, Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs und Depressionen ergab: keine Wirksamkeit einer Behandlung niedriger Vitamin-D-Spiegel.

Ein Report des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, der Studien an rund 60.000 Personen und neben Brüchen, Stürzen und Diabetes auch die Faktoren Infektionen, Depressionen sowie körperliche Einschränkungen im Alltag einschloss, gelangte zum Schluss: "In keiner der Studien hat die Behandlung niedriger Vitamin-D-Werte die Gesundheit verbessert."

Medizin transparent konzentrierte sich 2020 speziell auf den Bereich Infektionen. Immerhin hoffen viele Menschen, mit der Einnahme von Vitamin D Erkältungen und Atemwegsinfekten vorzubeugen oder die Erkrankungsdauer zu verkürzen. Doch auch hier sind die Ergebnisse enttäuschend. Es gebe "wahrscheinlich keinen vorbeugenden Effekt gegen Infektionen mit Erkältungs-,Schnupfen-und Grippeviren".

Sonnenbad

80 bis 90 Prozent des Vitamins D erzeugt der Körper selbst aus Licht im UV-B-Bereich. 

Einige wenige Arbeiten liegen inzwischen auch zum Thema Covid-19 vor-ein potenzieller Schutz vor dem Coronavirus hatte den Vitamin-D-Boom schließlich noch zusätzlich befeuert. Doch auch in dieser Hinsicht konnten die bisher nur sehr wenigen Arbeiten mit einer überschaubaren Zahl an Teilnehmern keinen Nutzen identifizieren.

Mandrola wie auch Ingrid Mühlhauser verweisen allerdings auf einen interessanten Umstand, der in der Vergangenheit möglicherweise für Fehlinterpretationen sorgte. Gleichzeitig mit verschiedenen Erkrankungen, etwa bestimmten Darmleiden, wird mitunter ein niedriger Vitamin-D-Spiegel diagnostiziert. Ist das ein Widerspruch zu all den großen Studien an der Durchschnittsbevölkerung und ein Beleg dafür, dass ein Vitamin-D-Mangel doch gravierende Erkrankungen auslösen kann? Vermutlich verhält es sich genau umgekehrt, und es liegt eine Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Absinkende Vitamin-D-Werte wären nicht der Grund für Krankheiten, sondern eine Folge davon-beispielsweise dadurch bedingt, dass Menschen mit bestimmten chronischen Leiden seltener ins Freie gehen und Sonne tanken. Mandrola plädiert deshalb dafür, niedrige Vitamin-D-Level als Indikatoren für Krankheiten zu begreifen-aber eben nicht als Ziel für eine Therapie. "Es könnte sich ähnlich wie bei Eisen verhalten, hier können niedrige Werte ebenfalls ein Anzeichen für Erkrankungen sein", beobachtet auch Jana Meixner.

Doch was ist überhaupt ein niedriger Vitamin-D-Spiegel? Diese Frage ist keineswegs eindeutig zu beantworten. Einigkeit besteht lediglich darüber, dass krankhaft niedrige Spiegel, die konkrete Symptome nach sich ziehen, eines Ausgleichs bedürfen. Dabei handelt es sich vor allem um Rachitis bei Kindern sowie Osteomalazie im Erwachsenenalter. Beides sind Krankheiten, welche die Knochenbildung beeinträchtigen respektive zu einer Erweichung der Knochen führen-und beide sind in unseren Breiten heute so selten, dass es schwierig ist, belastbares Zahlenmaterial dazu zu finden.

Wenn im täglichen Sprachgebrauch von einem Mangel an Vitamin D die Rede ist, geht es aber im Regelfall um die breite Allgemeinbevölkerung, der seit Jahren eingebläut wird, über die kalten Monate sinke der Vitamin-D-Gehalt so stark ab, dass mit Kapseln oder Tropfen nachgeholfen werden müsse. Fallweise werden alarmistische Warnungen verbreitet, wonach 50 oder gar 80 Prozent der Menschen einen eklatanten Vitamin-D-Mangel aufweisen-was eher die Frage aufwirft, ob die empfohlenen Schwellenwerte einer Überarbeitung bedürfen.

Tatsächlich kritisiert auch die US Prevention Task Force: Es gebe keine zuverlässigen Grenzwerte, die einen Mangel definieren könnten. Der Bedarf an Vitamin D schwanke vielmehr von Person zu Person erheblich. Und weder seien die Messmethoden besonders verlässlich noch die empfohlenen Vitamin-D-Werte einheitlich. Aus diesen Gründen rät die Task Force von den beliebten routinemäßigen Messungen des Vitamin-D-Spiegels generell ab. Mühlhauser fasst diese Einschätzung pointiert zusammen: "Es gibt keinen Konsens darüber, was eigentlich ein Mangelzustand ist. Die Messung des Vitamin-D-Spiegels ist damit sinnlos und nicht geeignet, Aussagen über den Gesundheitszustand zu treffen."

Was aber ist mit den am häufigsten genannten Risikogruppen wie etwa Menschen, die in Pflegeheimen leben und kaum mehr Sonnenlicht abbekommen? Könnten wenigstens sie von einer Vitamin-D-Supplementierung profitieren? Möglicherweise, aber gesichert ist keineswegs, dass ältere Menschen einen Vorteil daraus ziehen. Eine Studie unter mehr als 36.000 Frauen zwischen 50 und 79 Jahren ermittelte über sieben Jahre, ob die Einnahme von Vitamin und Calzium das Risiko für Knochenbrüche reduziert. Ergebnis: Es fanden sich keine nennenswerten Hinweise darauf.

Nun könnte man sagen: Vitamin D ist relativ harmlos, toxische Überdosierungen kommen zwar vor, sind aber selten. Also warum sollte man den Menschen ausreden, sich in der Apotheke mit entsprechenden Präparaten einzudecken? Aus drei Gründen, findet John Mandrola: Erstens sei es Geldverschwendung-für Routinetests und Präparate sowie für Forschung auf einem Gebiet, das längst erschöpfend untersucht ist. Zweitens lenke der Vitamin-Hype von anderen, bedeutenderen Gesundheitsfragen ab. Und drittens sei es, weit über den konkreten Anlassfall hinaus, ein gesellschaftliches Problem, wenn Fakten und Evidenz kein Gehör mehr fänden.

Freilich haben Expertinnen wie Mühlhauser eher wenig Hoffnung, dass sich daran viel ändern wird: "Ich bin schon gespannt, was der nächste Hype sein wird."

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft