Häufig werde als Minimalwert einer hinlänglichen Versorgung eine Vitamin-D-Menge von 20 Nanogramm pro Milliliter Blutserum angegeben, mitunter würden 30 als nötig oder sogar als nicht ausreichend erachtet. Tatsächlich jedoch seien die genannten 20 Nanogramm ursprünglich als Plateauwert definiert gewesen. Das bedeutet: Über dieses Ausmaß hinaus seien keine positiven Effekte mehr zu erwarten. Für die allermeisten Menschen seien 16 Nanogramm völlig ausreichend. Der ständig behauptete massenhafte Vitamin-D-Mangel, so Spektrum, resultiere daher teils schlicht aus Fehlinterpretationen der Referenzwerte.
Überholte Annahmen
Diese Auswahl an kürzlich erschienenen Publikationen zeigt: Es gibt viel neues Wissen zu den Benefits von Vitamin D. Je mehr Untersuchungen vorliegen, desto wackeliger erscheinen allerdings viele der bisher behaupteten Vorzüge – und desto mehr erodieren gängige Annahmen. Manch einer wie der deutsche Internist Stephan Martin zieht daraus radikale Schlüsse. Auf dem Ärzteportal „medscape“ postulierte er jüngst: „Vitamin-D-Supplementierung bringt in der Normalbevölkerung überhaupt nichts und sollte eigentlich beendet werden.“
Ähnlich rigoros – für manche Geschmäcker zu rigoros – argumentierte profil im Vorjahr. Die Zusammenschau zahlreicher großer und gut gemachter Studien mit Tausenden von Teilnehmern gelange zu ernüchternden Resultaten: So sehr es den Vorstellungen widerspreche, die uns über Jahre eingebläut wurden – es existiere praktisch so gut wie keine wirklich belastbare Evidenz, dass die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten Krankheiten verhindere oder ihnen vorbeuge. Nur weil Vitamin D für den Körper lebensnotwendig ist (wir bilden es zu etwa 80 Prozent aus der UV-B-Strahlung des Sonnenlichts und zu rund 20 Prozent aus der Nahrung), bedeute das längst nicht zwingend, dass der Körper von einer künstlichen Zufuhr profitiere.
Die Reaktionen waren helle Empörung und heftige Anfeindungen, als hätte profil ein religiöses Glaubenssystem angegriffen. Sachliche Kritik kam vom Wiener Internisten Christian Muschitz, der in der Folge einen Gastkommentar verfasste und einige Extreme ausbalancierte. In Bezug auf die Knochengesundheit sei Vitamin D zweifellos essenziell, so Muschitz. Ein starker Mangel könne bei Säuglingen und Kindern zu Rachitis und bei Erwachsenen zu Knochenerweichung führen, und in diesen Fällen sei eine rechtzeitige Supplementierung angebracht. Denn halte ein „Mangelzustand über Jahre an, vermindert dies die Integrität des Skeletts, und das Knochenbruchrisiko steigt“.
Für viele andere Erkrankungen gebe es jedoch nur sehr dünne, unklare oder widersprüchliche Daten zum Nutzen zusätzlicher Vitamin-D-Gaben, darunter bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. „Abgesehen vom Skelett und außerhalb des Knochens ist die Datenlage zum Nutzen einer Vitamin-D-Substitution kontroversiell“, so Muschitz.
Vor allem eine Unterscheidung war dem Mediziner wichtig: Im konkreten Einzelfall auf Basis ärztlicher Expertise sowie bei Risikogruppen können Tests sowie eine Vitamin-D-Zufuhr notwendig sein, präventives und wahlloses Schlucken von hoch dosierten Vitaminpräparaten in der gesunden Allgemeinbevölkerung sei aber eine aus medizinischer Sicht sinnlose Modeerscheinung.
Ernüchterung nach dem Hype
In Summe stellt sich inzwischen deutlich heraus: Der große Vitamin-D-Hype entbehrt jeder faktischen Grundlage. Denn dieser Hype beruhte nicht darauf, dass Ärzte definierten Personenkreisen oder einzelnen Personen mit bestimmten Krankheiten respektive in speziellen Lebenssituationen (etwa in Heimen) nach entsprechender Untersuchung zur Supplementierung rieten; er fußte vielmehr darauf, dass der breiten Allgemeinbevölkerung durch stete Wiederholung eingeredet wurde, jeder Mensch sei ständig in gesundheitlicher Gefahr, sofern er nicht diszipliniert und dauerhaft Vitaminpillen einnehme. Entsprechend florierte das Geschäft mit Vitaminpräparaten und Selbsttests aus Drogerien und Versandhändlern wie Amazon.
Der große Boom begann vor knapp zwei Jahrzehnten, als Forschende unter anderem beobachteten, dass Menschen mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel öfter Herzerkrankungen entwickeln. Der Reihe nach folgten ähnliche Studien, und allmählich wurde ein Vitamin-D-Mangel mit allen möglichen Krankheiten in Verbindung gebracht: mit verschiedenen Krebsleiden, Demenz, Diabetes, Allergien, chronischem Schmerz, Infektionen. Mit der Zeit entstand die Vorstellung, Vitamin D sei ein Wundermittel gegen so ziemlich alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Macht eine Glatze reich?
Viele dieser Studien waren allerdings mit Problemen behaftet: Es waren Beobachtungsstudien, die Personengruppen über einen gewissen Zeitraum verfolgten und dann herausfanden, dass ein niedriger Vitamin-D-Spiegel mit einer bestimmten Krankheit einhergeht. Dass zwei Umstände gleichzeitig auftreten, heißt aber längst nicht, dass sie ursächlich verbunden sind. Männer mit Glatze haben oft auch ein dickes Bankkonto. Macht Haarausfall also reich? Natürlich nicht, aber beide Faktoren sind mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher.
Dasselbe Manko haben Beobachtungsstudien: Sie messen Korrelationen, eine kausale Verbindung ist jedoch meist schwer zu ermitteln. Außerdem gibt es Krankheiten, etwa entzündliche Darmleiden, die den Vitamin-D-Spiegel senken. In diesen Fällen ist ein Vitamin-D-Mangel nicht die Ursache, sondern Folge einer bestimmten Erkrankung (muss allerdings fraglos durch Supplementation ausgeglichen werden). Um zu besseren Daten zu gelangen, wurden große kontrollierte Studien durchgeführt, die in der Lage sind, kausale Zusammenhänge zu eruieren.
Eine dieser Arbeiten schloss mehr als 25.000 Personen ein und kam zu ernüchternden Ergebnissen: Bei gesunden Erwachsenen beeinflusste die Verabreichung von Vitamin D weder das Risiko für Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch jenes für kognitive Leistungen, Migräne, Schlaganfälle, Knieschmerzen und eine Reihe weiterer Gesundheitsprobleme. Derartige Studien demonstrierten: Wissenschaft ist ein steter Prozess, der manchmal gesichert geglaubtes Wissen aushebeln kann.
Der Mythos vom Sonnenmangel
Aber haben wir nicht gelernt, dass ein Vitamin-D-Mangel eigentlich unausweichlich ist, weil wir viel zu wenig an der Sonne sind, um genügende Mengen der wichtigen Substanz bilden zu können? Nein, behauptet „Spektrum der Wissenschaft“: Nicht mal eine Viertelstunde täglich zwischen April und Oktober sei ausreichend (wenn man in Rom lebe, würden drei bis acht Minuten pro Tag langen). Und im Winter? Die Evolution sei schlau genug gewesen, unseren Körper mit hinlänglich Speicherfähigkeit auszustatten, um die dunklen Monate bis zum nächsten Frühjahr zu überstehen.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: All dies gilt für die gesunde, erwachsene Bevölkerung – der überwiegenden Mehrheit der im Moment vorliegenden Daten zufolge benötigt diese weder zusätzliche Vitamin-D-Präparate noch regelmäßige Screenings des Vitamin-D-Spiegels. Für klar definierte Personengruppen gelten hingegen andere Empfehlungen, die nun dank des neuen Kompendiums des internationalen Forschungsteams auf einen aktuellen Stand gebracht wurden.
Neue Empfehlungen
Welche Personengruppen einer aktuellen Richtline der Endocrine Society zufolge
Vitamin D einnehmen sollten – und welche nicht.
1–18-Jährige: Empirische Belege für Supplementation, um Rachitis und Atemwegsleiden vorzubeugen.
19–74-Jährige: Keine Belege für den Nutzen einer Vitamin-D-Supplementation.
Über 75 Jahre: Empirische Belege für eine Supplementation zur Verringerung des Sterberisikos.
Schwangere: Belege für eine Supplementation zur Vermeidung des Risikos von ernstem Bluthochdruck, Organschäden, Frühgeburten, Kindstod und weiteren Komplikationen.
Menschen mit Diabetes-Vorstufen: Empirische Belege für eine Supplementation, um das Fortschreiten eines Diabetesrisikos einzudämmen.