Vogelsterben: Wie kann man es aufhalten?
Im Ehrwalder Becken in Tirol ist die Vogelwelt noch fast in Ordnung. Das Braunkehlchen, in manchen Bundesländern ausgestorben, macht in dem Tal am Fuß der Zugspitze seinem ehemaligen Spitznamen noch alle Ehre: „Wiesenspatz“ nannten die Menschen den kleinen Vogel mit der blassorangen Brust früher einmal, weil er in großen Scharen durch das Grünland zog. Wenn die Braunkehlchen im Mai aus Afrika nach Tirol zurückkehren, finden sie in der feuchten Wiesenlandschaft einen idealen Lebensraum. Die Parzellen sind hier lang, dafür oft nur 20 Meter schmale, mit Entwässerungsgräben durchzogene Streifen. Gemäht werden sie erst Ende Juni, wenn die Braunkehlchen-Jungen ihre Nester in den Wiesen verlassen haben. Das Gemetzel, das eine frühe Mahd auf den stark bewirtschafteten Wiesen Österreichs anrichtet, bleibt ihnen erspart.
Das kleine Tiroler Paradies haben die Vögel der traditionell extensiven Landwirtschaft im Tal zu verdanken, einem vom Land bezahlten Wiesenvogel-Beauftragten, der die Bäuerinnen und Bauern zu Naturschutzförderungen berät – und der Vogelschützerin Katharina Bergmüller. Sie dokumentiert den Bestand der Braunkehlchen in dem Feuchtgebiet zwischen den Gemeinden Ehrwald, Lermoos und Biberwier seit vielen Jahren. „Das Ehrwalder Becken ist ein Hoffnungstal“, sagt die Ornithologin von der Organisation BirdLife Österreich. Von der Fülle an Natur profitieren nicht nur die Braunkehlchen, sondern auch Wiesenpieper, Neuntöter, Sumpfrohrsänger, Wachtelkönig und die tiefrot gefiederten Karmingimpel.
So gut wie am Fuß der Zugspitze geht es den Vögeln kaum mehr wo in Österreich – im Gegenteil. Der gerade veröffentlichte Farmland Bird Index 2022 ist alarmierend: Die Bestände der heimischen Feld- und Wiesenvögel haben sich innerhalb der vergangenen 24 Jahre nahezu halbiert. 47,4 Prozent der heimischen Kulturlandschaftsvögel sind seit Beginn des regelmäßigen Monitorings 1998 verschwunden. „Besonders unter Druck stehen neben dem Braunkehlchen die Grauammer, die Feldlerche und das Rebhuhn“, sagt Norbert Teufelbauer von BirdLife Österreich. Traurige Spitzenreiterin ist die Grauammer, die 95 Prozent ihrer Population eingebüßt hat.
Die aktuellen Daten zeigen eine bestürzende Bilanz; es steht denkbar schlecht um die Natur in Österreich. Doch es gibt Lichtblicke: die Braunkehlchen-Oase in Tirol, ein erfolgreiches Kiebitz-Projekt in Oberösterreich, die Rettung der Großtrappe im Burgenland und der See- und Kaiseradler im Osten Österreichs. Zudem greifen manche Umweltprogramme in der Landwirtschaft, wodurch sich der rapide Abwärtstrend seit 2015 immerhin verlangsamt hat (siehe Grafik Seite 48). „Mit finanziellen Mitteln und politischem Willen können wir viel erreichen“, sagt Norbert Teufelbauer. profil hat zusammengetragen, was Landwirtschaft, Politik und jede Einzelne tun können, um das leise Sterben auf den Feldern zu stoppen.
Die Rettung des Kiebitz
Wenn Hans Uhl in den vergangenen Jahren Ende März mit Fernglas und Markierstäben bewaffnet durch die Äcker rund um die oberösterreichische Gemeinde St. Marienkirchen an der Polsenz streifte, wussten Eingeweihte: Der Ornithologe hütet einen besonderen Schatz. Im Naturpark Obst-Hügel-Land tummelt sich mit bis zu 50 Brutpaaren eine der größten Kiebitz-Kolonien Österreichs. Damit das so bleibt, markierte Uhl die Nester der großen Agrarvögel mit dem markanten Schopf. Durch die bunten Stäbe wusste Landwirt Hubert Greinöcker anschließend genau, wo er ein „Nestlfenster“ freilassen musste. Das hieß, bei der Bearbeitung ein paar Meter Abstand zu den Gelegen zu halten.
Greinöcker hat eine Schweinezucht und verschob für die Kiebitze zudem den Anbau einiger Maisfelder nach hinten, auf den 10. Mai. „Die Vögel stehen kurz vor dem Aussterben. Als mich der Naturpark angeschrieben hat, habe ich sofort zugesagt“, sagt Greinöcker. Es gab viele Sitzungen im Vorfeld, in denen Ausgleichszahlungen und Maßnahmen besprochen wurden. Denn wer später aussät, muss eine ertragsschwächere Maissorte wählen. Im Frühjahr 2016 ging es los, 2022 lief das Projekt in dieser Form aus. „Wir hatten Glück, dass das Wetter die letzten Jahre immer schön war. Wenn sich die Aussaat durch Regen verzögert hätte, hätten wir große Ausfälle bei der Ernte gehabt“, sagt Greinöcker. Das Kiebitz-Projekt war eine Herausforderung für den Bauern, aber: „Es war schon sehr schön, als die Jungen überall herumgelaufen sind.“ Sechs von zwölf Landwirtinnen und Landwirten der Region machten mit.
Für die Vögel war das Projekt ein Erfolg, allerdings mit Luft nach oben. Durch die späte Mais-Aussaat konnten sie mehr als 60 Prozent ihrer Küken durchbringen. Die Markierung und Schonung der Nester rettete ebenfalls einige Jungvögel, der Effekt war aber geringer. Noch wirksamer wäre, wie Studien aus Deutschland belegen, das Anlegen von Brachflächen, die von Ende März bis Ende Juni gar nicht bewirtschaftet werden. So entstehen für das ganze Frühjahr passende Lebensräume für Kiebitz-Familien. Davon ließ sich aber keiner der Bauern überzeugen, zu gering fielen die Naturschutz-Förderpremien aus. „700 Euro pro Hektar und Jahr sind einfach zu wenig“, sagt Projektleiter Hans Uhl.
Intensive Landwirtschaft: Hauptursache für das Sterben
Kiebitz, Rebhuhn und Feldlerche brauchen Rückzugsorte. Die quer durch Österreich gepflanzten Raps-, Mais- und Getreidefelder sind für sie häufig lebensfeindliche Wüsten – nicht beackerte oder gemähte Brachen, Feldränder, Hecken, Bäume und Tümpel sind hingegen wertvolle Oasen. Mindestens zehn Prozent solcher Flächen pro landwirtschaftlichem Betrieb wären nötig, um den Feldvögeln signifikant zu helfen. Bisher waren es in Österreich gerade einmal fünf Prozent.
Im heurigen Jahr startete in der EU die neue, siebenjährige Periode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Das Regelwerk verlangt nur vier Prozent der Flächen als Brachen auszuweisen – sträflich wenig für den Naturschutz. Österreich hat nachgebessert und fordert von den heimischen Bäuerinnen seit heuer immerhin sieben Prozent Brachen. „Mit 2023 stehen künftig noch deutlich mehr Biodiversitäts- und Naturschutzflächen zur Verfügung, die einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Farmland-Bird-Index leisten werden“, heißt es auf profil-Anfrage aus dem Landwirtschaftsministerium. Das ist tatsächlich ein Fortschritt, aber kein besonders ambitionierter. Schätzungen zufolge können die aktuellen Maßnahmen die Zahl der Vögel in Österreich in den nächsten Jahren von heute 53 Prozent auf maximal 60 Prozent der Bestände von 1998 hieven. „Um die Vogelwelt nachhaltig zu stabilisieren, wären 80 Prozent nötig“, sagt die Ornithologin Katharina Bergmüller.
Wiesen ohne Leben
Nicht nur die Äcker, auch Österreichs Wiesen gleichen Monokulturen. Früher brachten die Bauern die Heuernte einmal im Juni und einmal im August ein, jetzt werden die Wiesen vier bis fünf Mal pro Saison gemäht. Aus Sicht der Landwirtinnen ist das verständlich: Gras, das regelmäßig in der Wachstumsphase geschnitten wird, ist proteinreicher und damit wertvoll für die Leistung der Milchkühe. Für Wiesenbrüter wie das Braunkehlchen ist das frühe Mähen aber fatal. Häufig werden nicht nur die blauen Eier zerstört, sondern auch das brütende Weibchen, weil es das Nest nicht früh genug verlässt. Zudem schwindet das Nahrungsangebot auf Österreichs Wiesen. Knabenkraut, Schafgarbe und sogar die früher so häufige Margerite kommen mit Frühschnitt und Dünger nicht zurecht. Mit der abnehmenden Vielfalt verschwinden auch viele Insekten, was die Populationen von Insektenfressern wie Wiesenpieper, Braunkehlchen und Wachtelkönig einbrechen lässt.
Im Grünland gibt es ebenfalls Brachflächen, auf denen die Zeitpunkte fürs Mähen vorgeschrieben sind. Bisher blieb der Erfolg hier aber aus, berichtet Katharina Bergmüller. „Die Vögel können nicht zwischen den verschiedenen Wiesen unterscheiden. Viel wichtiger wäre es, großflächig Grünland zu fördern, das nur zwei bis drei Mal pro Jahr gemäht wird.“
Österreich ist ein Land der Birdwatcher. Jedes Jahr im Mai machen sich Teams auf zum Austrian BirdRace, um in 24 Stunden so viele Vogelstimmen und Sichtungen wie möglich zu sammeln. Heuer entdeckten die Sieger, zwei junge Oberösterreicher, auf einer 70 Kilometer langen Radtour durch das Innviertel
126 Arten, darunter Raritäten wie den Kuhreiher, die Zwergscharbe und den Kranich. „Wir profitieren enorm vom großen Wissen der Hobby-Ornithologen“, sagt Norbert Teufelbauer. Durch sie wird das seit 1998 stattfindende Brutvogel-Monitoring erst möglich. 220 Freiwillige begeben sich dafür österreichweit zwei Mal im Jahr zur Brutzeit an festgelegte Orte. „Fünf Minuten lang schreiben wir dann alles auf, was wir hören und sehen“, sagt Teufelbauer.
Waldvögel sind besser dran
Ein Drittel bis die Hälfte der Vogelarten Österreichs lebt im Wald. Specht, Meise, Buchfink, Amsel, Rotkehlchen und Kleiber haben es leichter als ihre Artgenossen auf den Wiesen und Äckern. Der Hauptgrund: Im Wald dauert es Jahrzehnte bis zur Holzernte, die Störungen durch den Menschen sind deshalb deutlich geringer. Doch auch die Waldvögel befinden sich im Abwärtstrend. Fast die Hälfte der 133 Arten steht auf der Roten Liste, gilt also als gefährdet; darunter das Auerhuhn, der Mittelspecht und der Halsbandschnäpper. Ihnen fehlen ungestörte Wälder, Altbäume und Totholz zum Nisten und als Nahrungsquelle, da sich dort Larven, Käfer, Wespen und Ameisen tummeln. „Wir müssen den Vorrat von dickstämmigem Totholz in den Wirtschaftswäldern verdoppeln“, sagt Norbert Teufelbauer. Vor allem im Tiefland bestehe großer Nachholbedarf.
BirdLife und die Bundesforste, die 15 Prozent der heimischen Waldfläche betreuen, schufen in den vergangenen Jahren immerhin 500 Vogelschutzinseln. Das sind 2,2 Hektar große Waldstücke mit 120 Jahre altem, für die Vögel sehr wertvollem Baumbestand, die nicht mehr bewirtschaftet werden. Ziel ist es, ein Netzwerk von Biodiversitätsinseln über ganz Österreich zu spannen.
Und wie sieht es in der Stadt aus? Wie geht es den Tauben? In Wien leben Schätzungen zufolge zwischen 50.000 und 150.000 Tauben, wobei ihre Zahl wahrscheinlich abnimmt; den Vögeln gingen durch die vielen Dachbodenausbauten Nistplätze verloren. Um die Stadttaube muss sich trotzdem niemand Sorgen machen; ebenfalls stabil sind die hiesigen Populationen von Ringel-, Hohl- und Türkentaube. Schlecht steht es allerdings um die Turteltaube: Sie lebt nicht in der Stadt, sondern auf den Feldern, wo sie in den vergangenen Jahren 71 Prozent ihres Bestands eingebüßt hat.
Was jede tun kann
Warum ist es überhaupt wichtig, die Vogelwelt zu erhalten? Biologische Vielfalt und naturnahe Lebensräume sind die beste Versicherung gegen die Folgen des Klimawandels. Die grünen Oasen speichern Kohlenstoff, reinigen das Trinkwasser, schützen vor Überschwemmungen und kühlen, wenn im Sommer Hitzerekorde gebrochen werden.
Die Vögel sind ein wichtiger Teil funktionierender Ökosysteme. Ihr Sterben ist aber nicht unumkehrbar: Mehr Förderungen an die Bauern für Naturflächen, zehn Prozent Brachflächen pro Betrieb und mehr Geld für Naturschutzprojekte würde viele Vogelarten vor dem Schicksal des Ortolan bewahren. Der einst häufige Feldvogel starb in Österreich 2022 aus.
Zu den Gefahren durch die Landwirtschaft gesellt sich nun auch noch die immer spürbarere Erderhitzung. Die Vögel müssen mit hohen Temperaturen, Wassermangel und sich verschiebenden Jahreszeiten zurechtkommen.
Kann auch die einzelne Österreicherin, der einzelne Österreicher etwas tun? „Wählen gehen“, sagt die Naturschützerin Katharina Bergmüller. Im Juni 2024 stehen die EU-Wahlen an. „Es gibt starke Lager, die sich gegen den Green Deal stellen. Man sollte die Stimme jenen geben, die eine nachhaltige Politik verfolgen.“ Dasselbe gilt wohl auch für die nächsten Wahlen in Österreich.