Wachkoma: Der lange Weg zurück ins Leben

Wachkoma. Zwischenweltreise: Der lange Weg zurück ins Leben

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Die beiden sitzen am großen Tisch in der Wohnküche des alten Bauernhauses im Weinviertel. Blumenstöcke und bunte Vorhänge schmücken das breite Fenster, durch welches das Grün des Gartens blitzt. Alexander Mayer* sticht, nimmt die nächste Karte auf, spielt aus. Seine Betreuerin Maria Huber-Hynek füllt ihr Blatt auf. Sie lacht. Auch der nächste Stich geht an Alexander. Er sitzt im Rollstuhl. Vor ihm steht ein Brett, auf dem er seine Schnapskarten aufgefächert hat. Noch sind seine Hände zu unruhig, um die Karten längere Zeit über zu halten. Alexanders Bewegungen sind fahrig, die dunkelbraunen Augen wach, manchmal spricht er einzelne Worte. Für Außenstehende sind sie schwer zu deuten, doch Alexanders Betreuerin und seine Mutter Monika Mayer* verstehen ihn genau. Zwei Jahre sind seit dem schweren Unfall des 27-Jährigen vergangen. Diagnose: Wachkoma. profil hat ihn einige Monate über begleitet und seine Schritte in ein neues Leben dokumentiert.

Alexander Mayers Krankengeschichte ähnelt jener von Michael Schumacher nach dessen Skiunfall vor einem Jahr. Eine heikle Kopfverletzung machte zwei Operationen nötig, der mehrfache Formel-1-Weltmeister wurde in ein künstliches Koma versetzt. Einen Monat später reduzierten die Ärzte die Narkosemittel. Zwei weitere Monate darauf, im April 2014, vermeldete Schumachers Managerin Sabine Kehm erste „Momente des Bewusstseins und des Erwachens“. Im September verließ der ehemalige Rennfahrer das Krankenhaus. Schumachers Fortschritte seien „der Schwere der Verletzung angemessen“, sagte Kehm in einem TV-Interview im November 2014.
Durch prominente Fälle wie jenen von Schumacher rücken schwere Schädel-Hirn-Traumata in den öffentlichen Fokus. Erst vergangenen Dienstag erlitt der Schweizer Skispringer Simon Ammann bei einem Sturz in Bischofshofen eine schwere Gehirnerschütterung. Tatsächlich sind solche Verletzungen häufig: In Österreich wird diese Diagnose zwischen 20.000 und 30.000 Mal im Jahr gestellt. Darunter sind vergleichsweise harmlose Gehirnerschütterungen mit Schwindel und Übelkeit, aber auch lebensbedrohliche Kopfprellungen. Ein Drittel der Patienten mit gravierenden Traumata verstirbt, 15 Prozent erwachen nicht mehr aus dem Koma. Zwischen 800 und 1000 Menschen leben derzeit in Österreich im Wachkoma, unter Medizinern auch apallisches Syndrom genannt. Das Großhirn ist beeinträchtigt, nur der Hirnstamm hält zentrale Lebensfunktionen aufrecht. Die Patienten entwickeln einen Schlaf-Wach-Rhythmus, die Augen sind geöffnet. Doch das Gehirn ist erstaunlich regenerationsfähig. Wachkomapatienten haben gute Chancen, ihre Situation zu verbessern.

Der 14. Juli 2012 begann als fröhlicher Tag für Familie Mayer. Alexander war gerade aus dem Urlaub mit Freunden in Kroatien heimgekehrt, nach dem Mittagessen machte er sich mit den Eltern und seiner Schwester auf zum Geburtstagsfest der Tante. Der junge Bäcker war entspannt und gut gelaunt, wie immer bei Familientreffen unterhielt er den gesamten Tisch. Um 15 Uhr brachen Monika, Hans, Sabine und Alexander auf nach Hause. Alexander hatte noch einen Termin, stieg in seinen Wagen und fuhr auf der Landstraße Richtung Osten. 20 Minuten später läutete das Telefon, Monika Mayer hob ab, wurde bleich im Gesicht, erstarrte. Die Stimme aus dem Hörer erklärte ihr, das Auto ihres Sohnes sei keine zehn Minuten von ihrem Haus entfernt in einen Baum gekracht. Alexander werde bereits mit dem Notfallhubschrauber ins Wiener Lorenz-Böhler-Krankenhaus geflogen.
Die nächsten Stunden erlebte die Familie wie in Trance. Eine Bekannte aus dem Dorf hatte kurz nach dem Crash die Unfallstelle entdeckt, die Rettung verständigt und während des Wartens auf den Notarzt beruhigend auf den bewusstlosen jungen Mann am Steuer eingeredet. Warum Alexander an jenem Samstag Nachmittag von der verwaisten Straße abkam, wird die Familie nie erfahren.

„Als mir der Arzt im Krankenhaus einen Becher mit Beruhigungsmittel in die Hand drückte, wusste ich, es ist schlimm, sehr schlimm“, sagt Monika Mayer. Zehn Tage bangte die Familie um Alexanders Leben. Sein Frontalhirn war durch den Aufprall schwer verletzt worden, der Druck in seinem Kopf stieg dramatisch an. Die Ärzte versetzten den 25-Jährigen in künstlichen Tiefschlaf, eine Hirnsonde sollte den Druck verringern. Als sie die Medikamente langsam reduzierten, hofften alle auf einen Wimpernschlag, einen Händedruck, ein erstes Wort. Doch nichts passierte. Alexander war wie ausgeknipst.

Der junge Bäckergeselle befand sich im Wachkoma. Alexander konnte selbstständig atmen, er öffnete die Augen. Die Großhirnrinde – und damit das Bewusstsein – befand sich allerdings im Dämmerzustand.

Wie viel Wachkomapatienten von der Außenwelt mitbekommen, ist umstritten. Im Herbst 2014 sorgte die kanadische Forscherin Lorina Naci mit einem ungewöhnlichen Experiment für Aufsehen. Sie zeigte einem Patienten, der seit 16 Jahren im Wachkoma lag, einen Kurzfilm von Alfred Hitchcock. Der spannende Streifen ließ die Neuronen im Gehirn des Patienten tanzen, wie die Aufnahmen im Hirnscanner zeigten: „Das spricht dafür, dass er eine bewusste Erfahrung erlebt hat, ähnlich jener der gesunden Probanden. Das ist wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es 16 Jahre lang keine Anzeichen für Reaktionen auf die Außenwelt gab“, sagt Forscherin Naci. Es kommt immer wieder vor, dass Wachkomapatienten fälschlicherweise als Menschen ganz ohne Bewusstsein diagnostiziert werden.

In der Wachkomastation des Landesklinikums Hochegg in Niederösterreich gilt deshalb: „Im Krankenzimmer wird nicht über sie, sondern mit den Patienten gesprochen, egal, in welchem Zustand sie sind“, sagt der Neurologe Nikolaus Steinhoff. Alexander Mayers Blick ging ins Leere, als er nach drei Monaten im Wiener Unfallkrankenhaus in Hochegg ankam; das Essen und Schlucken funktionierte noch nicht. Glücklicherweise verfügt das menschliche Gehirn über eine Eigenschaft, welche die Ärzte Plastizität nennen. Unbeschädigte Nervenbahnen können bis zu einem gewissen Grad die Aufgaben verletzter Hirnareale übernehmen: „Das erfordert unermüdliches Üben, auch über Monate und Jahre hinweg. Pfleger und Angehörige müssen kreativ sein, um den Patienten immer neue Anreize zu geben“, sagt Steinhoff. Je jünger und fitter ein Wachkomapatient vor seinem Schädel-Hirn-Trauma war und je mehr die Angehörigen involviert sind, desto besser erhole er sich in der Regel. Ein Pflegefall wird er aber wahrscheinlich bleiben.

Doch wie kommuniziert man mit Menschen, die scheinbar oder tatsächlich nicht bei Bewusstsein sind? Wie kann man ihr Gehirn am besten trainieren? Die Hirnforschung beschäftigte sich in den vergangenen Jahren viel mit Wachkomapatienten.

Untersuchungen mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (MRT) und Positronenemissionstomografie (PET) zeigen, ob und wie viel Hirnaktivität vorhanden ist. „So kann man sehen, welche Kanäle Informationen durchlassen und sie weiter fördern, etwa, indem man dem Patienten gewisse Bilder zeigt oder mit ihm bestimmte Bewegungen trainiert. Das kann das Erwachen unterstützen“, sagt Peter Schnider, Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurorehabilitation und Leiter der neurologischen Abteilungen in Wiener Neustadt und Hochegg. Auch Musiktherapie könne ergänzend zu den Standardtherapien hilfreich sein. Eine gute medikamentöse Unterstützung ist das Virostatikum Amantadin, das eigentlich bei Parkinson eingesetzt wird, wie eine Studie aus den USA kürzlich zeigte. Mit Stromtherapie hatten die Forscher ebenfalls Erfolg: Der belgische Neurologe Steven Laureys legte seinen Probanden im Vorjahr Elektroden an die Stirn und stimulierte deren frontalen Kortex mit Reizstrom. Knapp die Hälfte seiner Patienten zeigte nach der Behandlung eine verbesserte Bewusstseinslage.

Die Pfleger in Hochegg empfahlen Monika Mayer, ein Tagebuch über Alexanders Fortschritte anzulegen. Anfangs wusste sie nicht, was sie eintragen sollte, weil im Krankenbett wenig passierte; heute ist das Heft prall gefüllt mit Fotos und Anekdoten. Für die erste bewusste Bewegung von Alexander sorgte sein Hund: Bei einem Spaziergang mit dem Rollstuhl hatte ihm seine Mutter die Ausziehleine in die Hand gedrückt. Als der Golden Retriever die Straße überqueren wollte, betätigte Alexander den Stopper.

Am 25. Februar 2013 notierte die 51-Jährige einen weiteren Meilenstein. Ein Angestellter der Sozialversicherung war zu Besuch in der Klinik und fragte Alexander: „Herr Mayer, haben Sie Schmerzen?“ Niemand erwartete eine Reaktion. Doch Alexander antwortete mit einem Kopfschütteln. Zu diesem Zeitpunkt galt der junge Mann nicht mehr als Wachkomapatient. Auch die nächste Stufe, bezeichnet als Minimally Conscious State, dürfte er damals bereits übersprungen haben.

Schlaganfälle und Herzinfarkte sind ebenfalls häufige Ursachen für das Wachkoma. Werner Seifert fiel im Juni 2011 während einer Operation an der Wirbelsäule ins Koma. Der damals 68-Jährige hatte einen Herzstillstand, während er auf dem OP-Tisch lag, wurde reanimiert und fertig operiert. Erst als Seifert nicht aus der Narkose erwachte, wurde er von dem Privatspital in ein öffentliches Krankenhaus verlegt, um Intensivbetreuung zu erhalten. Zu spät, meint seine Frau Gabriele Seifert. Nach zwei Wochen stand die Diagnose fest: massive Schädigung des Mittelhirns, Wachkoma. Für Gabriele Seifert war von Anfang an klar, dass der frühere Kundendienstleiter bei Minolta nicht in einem Heim leben sollte. Auf der Wachkomastation Hochegg lernte die beurlaubte Büroangestellte, wie sie ihren Mann über eine Magensonde ernährt, wie sie ihn richtig bewegt, wie sie seinen Luftröhrenschnitt pflegen muss. Sie verkaufte das gemeinsame Haus im niederösterreichischen Oberwaltersdorf und zog in eine behindertengerechte Wohnung. Inzwischen betreut sie Werner Seifert zuhause gemeinsam mit zwei 24-Stunden-Pflegerinnen.

Während des Besuchs von profil genießt der 72-jährige in seinem Rollstuhl eine Kopfmassage. Dann knetet die Physiotherapeutin sanft seine Arme und Beine durch, faltet die zusammengekniffenen Hände auf, streckt und beugt die Knie. Die Wände der großen Wohnküche sind mit Fotos aus früheren Tagen geschmückt – Werner Seifert beim Fußballspielen, im Gruppenbild mit seiner Mannschaft, bei Ausflügen mit der Familie. „Ich tausche die Bilder regelmäßig aus, um Werner neue Anreize zu geben“, sagt Gabriele Seifert. Das Krankenbett ihres Mannes steht ebenfalls in dem großen Raum, weil es praktischer ist. Dort verbringt er aber nur die Nacht und den Mittagsschlaf, das ist Gabriele Seifert sehr wichtig: „Im Wachkoma zu sein heißt nicht, den ganzen Tag im Bett zu liegen, im Gegenteil.“ Spaziergänge, Ausflüge auf den Fußballplatz, ins Schwimmbad oder zum Heurigen bringen nicht nur Abwechslung, sondern schärfen auch die Sinne von Werner Seifert. Die Umwelt kommt zeitverzögert in seinem Gehirn an, aber die Abstände werden immer kürzer. Reden kann er nicht. Was er denke, lese sie an seinem Gesicht ab, sagt seine Frau.

Rehabilitation und Pflege von Wachkomapatienten kosten Geld. Ein Patient hat Anspruch auf Pflegestufe sieben, das sind 1655,80 Euro im Monat. Auch Alexander Mayer lebt seit dem Sommer 2013 zuhause. Die Familie ließ ihr Häuschen im Weinviertel komplett umbauen. Es gibt nun einen Lift, der es erlaubt, über die Stufen zur Eingangstür zu gelangen, rollstuhlgerechte Türen, einen Hängelift im Bad, ein Spezialbett und eine Sprossenwand im Wohnzimmer. Dafür gingen alle Ersparnisse drauf: „Mit dem Pflegegeld allein hätten wir das nie geschafft“, sagt Monika Mayer.

Seit sie Alexander zu Hause betreut, macht er noch größere Fortschritte. Fünf Tage die Woche bekommt er vormittags und nachmittags je eine Therapiestunde: Musik-, Ergo-, Physiotherapie, Schwimmen, Reiten. Die meisten Trainingseinheiten bezahlen Alexanders Eltern selbst: „Wir müssen dafür kämpfen, dass er 40 Einheiten Physiotherapie pro Jahr von der Krankenkasse bewilligt bekommt. Wenn wir nicht finanziell nachhelfen würden, würde er nicht einmal regelmäßig ein Mal in der Woche trainieren.“ Die Situation für Wachkomapatienten habe sich verbessert, sei aber noch lange nicht ideal, sagt Johann Donis, Chef der Neurologie im Geriatriezentrum am Wienerwald und Vorsitzender der Österreichischen Wachkomagesellschaft. Vor zehn Jahren landeten Wachkomapatienten, wenn man ihnen auf der Intensivstation nicht mehr helfen konnte, im Pflegeheim, wo sie als hoffnungslose Fälle nicht weiter gefördert wurden. Heute stehen immerhin für knapp die Hälfte der Patienten Neurorehabilitationsbetten zur drei- bis sechsmonatigen Nachversorgung zur Verfügung. Während die Hälfte der Patienten danach zu Hause betreut wird, kommt ein Viertel in spezialisierten Stationen mit Langzeitbetreuung unter. Ein weiteres Viertel lebe aber nach wie vor in Pflegeheimen, deren Möglichkeiten zur Förderung von Wachkomapatienten gegen null gehen, sagt Donis.

2014 hat für Werner Seifert nicht gut geendet. Eigentlich wollten er und seine Frau das Jahr entspannt in einer Therme ausklingen lassen. Sie hatten dort bereits im Frühling einen Kurzurlaub verbracht. Doch diesmal war alles anders: Als Gabriele Seifert ihren Mann ins Schwimmbecken hob, verließen alle übrigen Badegäste das Wasser. Der Hoteldirektor bat sie, zum Essen nicht mehr in den Speisesaal zu kommen. Andere Kurgäste hätten sich beschwert; es sei unappetitlich, dass Seifert das pürierte Essen per Spritze in die Magensonde bekomme. Schließlich verhängte die Ärztin des Hauses ein Schwimmverbot über Werner Seifert. Dass er eine Spezialbadehose aus Neopren trägt, welche die Ausscheidungen sicher auffängt, interessierte weder die Direktion noch die Gäste. Drei Tage vor der geplanten Abreise verließen Gabriele und Werner Seifert das Thermalhotel. „Ich hätte von der Hotelleitung mehr Toleranz und Rückgrat erwartet“, so Seifert.

Werner Seiferts Luftröhrenöffnung soll nun endlich geschlossen werden, er wird mehrere Wochen auf Reha verbringen. „Ich habe immer noch die Hoffnung, dass er eines Tages aufwacht“, sagt seine Frau.

Mittwochs steht heilpädagogisches Reiten auf Alexanders Stundenplan. Anfangs hielt er es kaum fünf Minuten auf dem Rücken ihres Wallachs aus, erinnert sich Reitpädagogin Yvonne Asperger (www.horsenapping.at).

Inzwischen sitzt Alexander eine Stunde lang stolz auf dem großen, schwarz-weiß gefleckten Pferd. An einem windigen Novembernachmittag trabt er, geführt von seiner Betreuerin, über die Weide, fängt vom Pferderücken aus Bälle auf, macht Gleichgewichtsübungen. Wie bei allen Wachkomapatienten wurden auch bei Alexander die motorischen Nervenbahnen beschädigt, die Muskeln seiner Beine und Arme haben sich zusammengezogen und verkürzt. Das Reiten stabilisiert seine Rumpfmuskulatur, kräftigt die Beine und bringt Alexander seinem großen Ziel ein gutes Stück näher: Er will wieder gehen lernen.

„Alexander soll möglichst selbstständig leben können, das ist mein Ziel. Vielleicht kann er irgendwann in einer betreuten Wohngemeinschaft unterkommen. Ich lebe schließlich auch nicht ewig“, sagt Monika Mayer. Seine Chancen stehen jedenfalls gut. Seit Weihnachten trainiert Alexander regelmäßig mit seiner Mutter und seiner Schwester im Fitnessstudio. Das neue Jahr feierte der junge Mann mit seinen Freunden auf einer Silvesterparty.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort, ihre Schwerpunkte sind Klima, Medizin, Biodiversität, Bodenversiegelung und Crime.