Wissenschaft

Warum Forscher ein neues Erdzeitalter begründen wollen

Kernwaffen, Artensterben, fossile Brennstoffe: Der Mensch hat unseren Planeten massiv verändert. Hat deshalb ein neues Erdzeitalter begonnen, das Anthropozän?

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Paul Crutzen stieß die Debatte an. Der Nobelpreisträger trat bei einer Konferenz in Mexiko ans Mikrofon und sagte: „Wir leben nicht mehr im Holozän. Wir leben im Anthro…, im Anthro…“ Crutzen suchte nach dem passenden Wort. Schließlich verkündete er: „Wir leben im Anthropozän.“ Seit diesem Tag im Jahr 2000 ist der Begriff in der Welt. Und seit damals prüfen Fachleute, ob das Postulat des Atmosphärenchemikers, der den Nobelpreis für die Erforschung des Ozonlochs erhielt, faktisch gerechtfertigt ist. Denn Crutzen, der vor zwei Jahren starb, hatte immerhin gefordert, ein neues Erdzeitalter zu definieren – einen Abschnitt der Geschichte unseres Planeten, der nach dem Menschen benannt ist.

Nach offizieller Nomenklatur befinden wir uns zurzeit im Holozän, einer Epoche, die vor 11.700 Jahren begann. Damals endete die letzte Eiszeit, und es folgte eine längere stabile Klimaphase. Paul Crutzen schlug vor, das Holozän für abgeschlossen zu erklären und ein neues Kapitel zu eröffnen: das Anthropozän, das Menschzeitalter. Sein Argument: Der Mensch habe so massiv in die Erde eingegriffen und sie dermaßen stark und dauerhaft verändert, dass er zur beherrschenden Kraft geworden sei. Anerkennend war das keineswegs gemeint. Eine Umbenennung wäre viel eher ein amtliches Zeugnis für das ausufernde humane Zerstörungswerk.

Nach gut zwei Jahrzehnten wissenschaftlicher Debatte soll demnächst entschieden werden, ob es tatsächlich dazu kommt. In den kommenden Wochen will ein Fachgremien darüber abstimmen. Falls ja, wäre dies die Grundlage für eine Korrektur der Geologie-Lehrbücher.

Die steinerne Uhr

Um eine kleine Entscheidung handelt es sich nicht.

Es geht auch nicht um Geschmacksfragen. Die Definierung von Erdzeitaltern gehorcht einem strikt genormten System, das in die Kompetenz der Geowissenschaften fällt und die Geschichte des Planeten von Anbeginn vor 4,5 Milliarden Jahren bis heute in einzelne Abschnitte und Subsegmente gliedert – in Äonen, Ären, Perioden und Epochen. Das Holozän fällt in die Periode des Quartär und dieses wiederum in den größeren Abschnitt des Känozoikum.

Die Datierung des Beginns des jeweiligen Abschnitts unterliegt klaren Kriterien: Der Übergang von einem Kapitel zum nächsten muss zweifelsfrei ins Gestein geschrieben sein. Das Ablesen der Zeitläufe im Gestein nennt man Stratigrafie oder Schichtenkunde. Über Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende lagert sich immer neues Material auf bereits bestehendes ab, Lage für Lage. Die Analyse dieser Schichten dient als geologische Uhr, vergleichbar den Jahresringen eines Baumes, und sie kann einschneidende Ereignisse in einem bestimmten Zeitfenster preisgeben.

Eines umwälzenden Ereignisses bedarf es auch, um ein neues Kapitel der Erdgeschichte aufzuschlagen. Es muss gravierend sein, möglichst abrupt stattgefunden haben, global nachweisbar sein und auf Dauer in den Erdschichten bleiben. Ein Beispiel dafür wäre der Übergang von Kreide zu Paläogen vor 66 Millionen Jahren. Ein zehn Kilometer großer Asteroid traf damals die Erde und tilgte die Dinosaurier sowie zwei Drittel aller Spezies vom Planeten. Die geologischen Spuren dieser Katastrophe sind bis heute im Gestein gespeichert: in Form einer Schicht mit hoher Iridium-Konzentration, die daher rührt, dass Asteroiden einen vergleichsweise hohen Anteil dieses Metalls besitzen. Die iridiumreiche Schicht markiert die Grenze zwischen den beiden Erdzeitaltern.

Zudem gilt die Regel, dass ein einzelner Ort auf der Welt als „Referenzpunkt“ gewählt wird: Er steht stellvertretend für die global nachweisbaren Trennlinien zwischen zwei Abschnitten. Dieser Ort wird Global Boundary Stratotype Section and Point (GSSP) genannt oder, ein wenig griffiger, Golden Spike. Solch einen „Goldenen Nagel“ gibt es sogar in Österreich: Das Kuhjoch in Tirol zeigt den Übergang von Trias zu Jura vor 200 Millionen Jahren an.

Die Suche nach dem Goldenen Nagel

Was könnte als Golden Spike für das Anthropozän dienen? Lässt sich ein Referenzpunkt erkennen, der den globalen Fußabdruck des Menschen eindeutig wiedergibt? Und ist der humane Einfluss auf den Planeten wirklich so massiv, dass er dauerhafte Narben in dessen Antlitz hinterlässt? Bereits seit 2009 geht eine rund 40-köpfige Gruppe von Expertinnen und Experten diesen Fragen nach: die Anthropocene Working Group (AWG).

Dieses internationale Forschungsteam identifizierte zunächst Signaturen des Menschen im Boden – in Meeressedimenten, Seen, Stalagmiten oder Skeletten von Korallen. Zu potenziellen Zeugnissen des Anthropozän, die dort konserviert sind, zählen radioaktiver Niederschlag, Schwermetalle, Mikroplastik, Einträge von Kunstdünger und Pestiziden sowie der Anstieg von Kohlenstoffdioxid und Methan, der sich in Eisbohrkernen nachweisen lässt, in die kleine Luftblasen eingeschlossen sind. Selbst die fossilisierten Knochen von Hühnern könnten einen Marker darstellen: allein aufgrund der großen Zahl massenhaft gezüchteten Geflügels, aber auch aufgrund genetischer Merkmale der domestizierten Spezies.

In einem zweiten Schritt spähte die AWG zwölf Orte rund um den Erdball aus, die als Golden Spike infrage kommen, darunter drei Seen, zwei Korallenriffe und zwei Stellen am Meeresboden.

Mittlerweile ist die Liste auf neun mögliche Referenzpunkte geschrumpft. Unter den gestrichenen Kandidaten ist auch der Wiener Karlsplatz. Zwar dokumentieren Ausgrabungen eindeutig intensive humane Aktivitäten, doch die Stelle beim Wien Museum ist nun nicht mehr für weitere Proben zugänglich, was als Ausschlusskriterium gilt (siehe Kasten Seite 55). Von den verbliebenen neun Orten könnte in der kommenden Woche einer als Golden Spike gewählt werden – sofern sich die AWG darauf einigt, über genügend Belege für die Ausrufung des Anthropozän zu verfügen.

Dies ist recht wahrscheinlich, allerdings nicht sicher, weil es auch skeptische Fachleute gibt, die meinen, trotz allen Wütens auf der Erde seien unsere Spuren zu frisch und nicht langlebig genug, um eine geologische Epoche zu begründen. Denn wenn Geologen „lange“ sagen, meinen sie wirklich lange: Hunderttausende oder Millionen Jahre. Nach diesen Maßstäben besiedelt der Mensch den Planeten gerade für einen flüchtigen Augenblick. Andere Kollegen finden, ungeachtet dessen sei das ungezügelte Treiben des Menschen so gravierend, dass man mit der Prägung eines neuen Erdzeitalters ein Zeichen setzen müsse.

Neue Gebirge aus Plastik

Unstrittig ist, dass der Mensch die Erdoberfläche in unvorstellbarem Ausmaß verändert. Das Fachjournal „Nature“ berechnete, dass die menschgemachte Infrastruktur, die Technosphäre, mehr wiegt als die gesamte Biomasse. Straßen, Schienen, Gebäude, Maschinen, Autos und Kunststoffe bringen heute 1,1 Teratonnen auf die Waage – das sind Billionen Tonnen. Die Biomasse dagegen schrumpfte im vergangenen Jahrhundert von zwei Teratonnen auf nur noch eine. Zugleich hat der Mensch nachhaltig in die Biosphäre eingegriffen: Homo sapiens stellt 36 Prozent aller Säugetiere auf der Erde, seine Nutztiere machen weitere 60 Prozent aus. Nur noch vier Prozent sind Wildtiere, und selbst deren Biodiversität nimmt rasch ab. Deshalb wird bereits vom sechsten Massensterben der Erdgeschichte gesprochen.

Der Mensch hat außerdem die Oberfläche des Planeten umgeackert, wie es kaum eine Naturgewalt vermag. 75 Prozent aller Landflächen und 66 der Ozeane wurden durch humane Aktivitäten gravierend verändert. Bei Straßen-, Tunnel-, Städte- und Bergwerksbau wurde mehr Material bewegt als durch natürliche Kräfte wie etwa Flüsse. Überdies ist der Planet übersät mit „Technofossilien“, Überresten von Gütern aus menschlicher Produktion. Mikroplastik ist inzwischen an den entlegensten Orten nachgewiesen: in Schneeproben am Mount Everest ebenso wie im Marianengraben, dem tiefsten Punkt der Erdoberfläche.

Plastikmüll formt nicht nur Minikontinente auf Ozeanen, sondern bildet, wenn lange genug abgelagert, sogar eine neue Gesteinsart namens „Plastiglomerat“. Es entsteht zum Beispiel auf Hawaii, wenn heiße Lava oder das Verbrennen von Plastikmüll Kunststoffe und Sand zusammenzementiert. Auf Madeira beobachteten Forschende, dass eine Kruste aus Polyethylen allmählich das vulkanische Gestein im Küstenbereich überzieht. Zehn Prozent der Felsenfläche im Gezeitenbereich sind inzwischen mit einer Plastikschicht bedeckt.

Kein Zweifel: In unserer Epoche gestaltet weniger die Natur das Erscheinungsbild der Erde als der Mensch. Ist er aber wirklich jene geologische Kraft, die ein neues Erdzeitalter begründet? Und falls ja, wann wäre der Beginn des Anthropozän anzusetzen? Wann hätte der abrupte Wechsel zur Menschzeit stattgefunden?

Die große Beschleunigung

Seit Beginn der Debatte wurden verschiedene Vorschläge über die Stunde Null eingebracht. Manche Beiträge schlugen die Sesshaftigkeit des Menschen vor, andere favorisierten die Idee, die Erfindung der Dampfmaschine und die Industrialisierung seien die entscheidenden Momente. Viele Fachleute präferieren heute ein anderes Zeitfenster: die 1950er-Jahre. Damals kam es zu einschneidenden gesellschaftlichen und technischen Veränderungen, die tiefe Spuren erzeugten. Es war eine Phase, die man „Great Acceleration“ nennt, die große Beschleunigung: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte starkes Bevölkerungswachstum ein, begleitet von enormem Verbrauch fossiler Energie, von Industrialisierung und Automatisierung der Produktion. Immer mehr Menschen benötigten immer mehr Nahrung, was die Landwirtschaft tiefgreifend veränderte, durch Massentierhaltung und den großflächigen Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger.

Die Frage ist, welche Spuren des Menschen über Jahrmillionen erhalten bleiben.
 

Christian Köberl

Geowissenschafter

Das stärkste Signal, der eindeutigste Marker sind aber vielleicht die verheerenden Atom- und Wasserstoffbombentests, die in dieser Zeit stattfanden. Im Sommer 1945 kam es zur ersten nuklearen Detonation in Mexiko, eine Serie weiterer Zündungen folgte bis zum Bann der Tests 1963. Die Radionuklide aus diesen Explosionen verbreiteten sich rund um den Globus und lagerten sich als radioaktiver Niederschlag weltweit ab – in Gesteinsschichten, in denen heute Isotope von Plutonium oder Cäsium gemessen werden können. Die unterste Lage dieser radioaktiven Signale könnte, sofern sich die Anthropozän-Arbeitsgruppe auf diesen Marker verständigt, als Beginn der neuen Epoche betrachtet werden.

An mehreren der ursprünglich zwölf Referenzpunkten sind die Spuren radioaktiven Fallouts nach wie vor ablesbar, im Searsville Lake in Kalifornien ebenso wie am Karlsplatz, im Flinders Reef in Australien und in der West Flower Garden Bank in New Mexiko. Die beiden letztgenannten Orte sind Korallenriffe, in denen die Skelette langlebiger Korallen menschliche Einflüsse chronologisch abspeichern: zum Beispiel auch die chemische Signatur von Kunstdünger und Veränderungen der Meereschemie – etwa des Salzgehalts – infolge fortschreitender Erwärmung.

Einen anderen Beleg für globales humanes Treiben identifizierten Forschende in der San Francisco Bay: den Eintrag invasiver Arten, von Spezies, die meist im Ballastwasser von Schiffen aus aller Welt verschleppt wurden. Zu Spitzenzeiten bestanden mehr als 90 Prozent der Biomasse in der Region aus invasiven Arten. Gleich eine ganze Reihe potenzieller Marker für das Anthropozän finden sich in einem Moor in Südpolen. Die Sedimente zeugen von Atombombentests der 1950er-Jahre ebenso wie von industrieller Landwirtschaft und der massiven Zunahme fossiler Verbrennung in dieser Zeit. Indikator dafür ist abgelagerte Flugasche aus Kraftwerken. Der Nachweis erfolgte an mehreren der potenziellen Golden Spikes durch sogenannte Spheroidal carbonaceous particles (SPC) in analysierten Bodenschichten, kleine Kohlenstoffpartikel, die bei der Verbrennung von Kohle oder Öl entstehen. Sie wurden in einem See in China – nebst Schwermetallen und Rußpartikeln – detektiert, genau wie im Crawford Lake in Kanada. Dieser See ist nicht groß, aber sehr tief, sodass sich die Sedimente am Grund ungestört ablagern können und ein optimales geologisches Archiv darstellen.

Eine immer dichtere Indizienkette

So knüpfte die Anthropocene Working Group allmählich eine Indizienkette, die sich auf einige zentrale Faktoren konzentriert: radioaktive Isotope, Asche aus fossiler Verbrennung, Chemie aus großindustrieller Landwirtschaft, zum Beispiel Einträge von Phosphor und Stickstoff, wie sie in der japanischen Beppu-Bucht gemessen wurden. Hinzu kamen Parameter wie Sauerstoffgehalt, Farbveränderungen bestimmter Sedimente, Einschlüsse in Eisbohrkernen und das Wachstum von Organismen wie Dinoflagellaten. Zudem ließ sich der kritische Wandel immer mehr auf ein schmales Zeitfenster eingrenzen: die 1950er- und frühen 1960er-Jahre, als der humane Fingerabdruck einen ersten Spitzenausschlag verursachte. Hat man somit jene massiven und abrupten Ereignisse nachgewiesen, die ein neues Erdzeitalter begründen?

Liest man die Fachartikel der Arbeitsgruppe um den britischen Geologen Colin Waters, ist eine recht klare Tendenz erkennbar, eine Neudefinition zu befürworten. Fachkollegen wie der Wiener Geowissenschafter Christian Köberl sind zurückhaltender. Er halte die Debatte für äußerst interessant und spannend, so Köberl, doch würde eine Ausrufung des Anthropozän deutlich von der bisherigen Praxis bei der Benennung neuer Epochen abweichen: Erdzeitalter würden traditionell festgelegt, nachdem Evidenz aus Hunderttausenden oder Millionen Jahren vorliegt – nicht aber aus wenigen Jahrzehnten. Zudem stelle sich die Frage, welche Spuren des Menschen wirklich über Jahrmillionen erhalten blieben, trotz aller momentan dramatischen Auswirkungen auf die Erde. Radioaktivität? Keineswegs dauerhaft im Gestein. Plastikmüll? Verwittere über die Zeit.

In ein paar Wochen könnten wir schlauer sein. Vermutlich im Juni wird die Arbeitsgruppe darüber abstimmen, ob sie sich für einen Golden Spike entscheiden kann, der stellvertretend für die globalen Umwälzungen durch den Menschen steht und den Beginn des Anthropozän markiert. Amtlich wäre die Einführung einer neuen Epoche damit allerdings noch nicht: Letztlich muss die International Union of Geological Sciences, die internationale Vereinigung der Geowissenschaften, den Vorschlag formal anerkennen und ratifizieren – erst nach deren Zustimmung müssten die Lehrbücher tatsächlich umgeschrieben werden.

Warum der Wiener Karlsplatz als Referenzpunkt für das Anthropozän vorgeschlagen wurde

Auch eine Großstadt kann ein Hotspot für Anzeichen menschlicher Eingriffe in den Planeten sein. In die Bodenschichten urbaner Regionen schreiben sich viele humane Aktivitäten ein wie in ein Stadtarchiv: Sedimente werden über Jahrzehnte überlagert und überarbeitet, durch Straßen- und Häuserbau, Grabungen für U-Bahnen oder Tiefgaragen. Daher schlugen der Wiener Geologe Michael Wagreich und ein Kollegenteam den Wiener Karlsplatz als Referenzpunkt für den Beginn des Anthropozän vor. Zwischen Herbst 2019 und Jänner 2020 bestand die Chance, im Zuge des Umbaus des Wien Museums eine Ausgrabungsstelle der Wiener Stadtarchäologie näher zu untersuchen. Die Forschenden fanden mithilfe archäologischer Methoden und Isotopenanalysen zahlreiche Indizien: Kontaminationen des Erdreichs mit Blei, Kupfer und Zink, die aus naher Metallverarbeitung stammten, Glasreste und „Technofossilien“ wie Armeehelme. Sie stießen auch auf einen möglichen primären Marker für das Anthropozän: auf Radionuklide wie Plutonium, das von Kernwaffentests der 1950er-Jahre herrührt und bis nach Wien vertragen wurde. Zum Golden Spike kann der Karlsplatz jedoch nicht mehr gewählt werden: Die Grabungsstelle ist nicht mehr zugänglich – die Möglichkeit weiterer Probennahmen wäre aber eine Voraussetzung dafür.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft