Was macht Obst und Gemüse gesund? Giftstoffe!

Warum sind Obst und Gemüse gesund? Wissenschafter stellen eine paradox anmutende These auf: Ausgerechnet toxische Stoffe in Pflanzen sollen nützlich sein.

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Uwhangchungsimwon, Galantamin, Sulforaphan, Curcumin. Was mögen diese exotisch klingenden Begriffe bedeuten? Betrachten wir hier eine Botschaft in einer merkwürdigen Geheimsprache? Keineswegs: Tatsächlich handelt es sich um pflanzliche Substanzen. Die erstgenannte steckt in koreanischen Kräutern, die zweite stammt aus Schneeglöckchen. Sulforaphan findet sich in Brokkoli, Curcumin in Currypulver. Gemeinsam ist diesen und einer schier unüberblickbaren Zahl weiterer Stoffe, dass sie derzeit aus besonderem Grund im Fokus der Wissenschaft stehen: In ihrer Wirkung könnte der Schlüssel zur Frage zu finden sein, warum Obst und Gemüse wirklich gesund sind.

Eine überzeugende Erklärung ist, anders als man meinen möchte, auch nötig, denn die traditionelle und lange höchst populäre These wird von immer mehr Forschern massiv angezweifelt. Über Jahrzehnte wurde den Menschen gepredigt, dass Vitamine wie A, C, und E als Antioxidantien fungieren, die aggressive Verbindungen – die berüchtigten freien Radikale – unschädlich machen, indem sie sogenannten oxidativen Stress reduzieren und dadurch unsere Zellen schützen. Die Folge des segensreichen Wirkens der Radikalenfänger soll, verknappt ausgedrückt, ein gesundes, langes Leben sein. Doch diesem Modell fehlen nicht nur solide Befunde, Studien zeigen vielmehr immer deutlicher, dass der Konsum von Antioxidantien in großer Menge wahrscheinlich nicht nur ziemlich nutzlos, sondern sogar kontraproduktiv sein kann.

Umstrittene Antioxidantien

Zuletzt häuften sich die Arbeiten, die kräftig am lange gültigen Dogma rüttelten. Ließ man zum Beispiel zwei Personengruppen für ein paar Monate intensiv Sport treiben und verabreichte einer davon zusätzlich Vitaminpillen, verbesserten sich die Gesundheitsparameter nur bei jenen Menschen, die keine Vitamine schluckten – bei den anderen schienen die Antioxidantien den Trainingseffekt zunichte zu machen. In Tierversuchen beobachten Mediziner, dass Vitamin E in hohen Dosen das Krebswachstum beschleunigt und dass die Lebenszeit mit der Einnahme von Antioxidantien korreliert – und zwar negativ: Am längsten lebten ausgerechnet Labortiere, die unter hohem oxidativen Stress standen.

Während die Vorstellung, dass Vitamine schädlich sein können, vielen Laien paradox erscheinen mag, gehen Wissenschafter längst einen Schritt weiter und stellen die Frage: Wenn immer klarer zutage tritt, dass der Nutzen von Obst und Gemüse kaum allein auf Antioxidantien beruht oder dieser Erklärungsansatz zumindest deutlich zu kurz greift – was ist dann der Grund dafür, dass Äpfel, Orangen, Brokkoli oder Tomaten gesund sind? Denn dass Menschen, die sich vorzugsweise pflanzlich ernähren, davon gesundheitlich profitieren und zum Beispiel eher von neurodegenerativen Leiden verschont bleiben, ist natürlich unstrittig.

Mittlerweile liegt eine alternative Argumentationslinie für die positiven Einflüsse pflanzlicher Kost vor, die mittlerweile heftig debattiert und von einer wachsenden Zahl von Forschern experimentell untersucht wird. Zu diesen Experten zählt der Neurowissenschafter und Alternsforscher Mark Mattson von der Johns Hopkins University in Baltimore, der die molekularen Zusammenhänge jüngst im Fachmagazin „Spektrum der Wissenschaft“ darlegte. Im Kern geht es laut Mattson um einen auf den ersten Blick fast verstörend wirkenden Effekt: Just Giftstoffe im Grünzeug sollen für den gesundheitlichen Benefit sorgen.

Viele Pflanzen produzieren unterschiedliche giftige oder bittere Substanzen, um Fressfeinde und Schädlinge abzuwehren. Solche im Zuge der Evolution ausgereiften natürlichen Pestizide stellen ihre einzige verfügbare Waffe der Verteidigung dar, da sie schließlich nicht die Flucht ergreifen können. Der bittere Geschmack einer Grapefruit oder des Brokkoli, den viele Kinder meist nicht leiden können, rührt etwa daher. Manche Toxine führen zu Übelkeit oder mitunter gar zum Tod.

Toxine verursachen sanften Stress

Essen wir nun das Gemüse, nehmen wir zwangsläufig auch die Toxine der Pflanzen zu uns, freilich in sehr geringen und für uns nicht bedrohlichen Mengen. Eine Wirkung auf den humanen Organismus haben die Giftstoffe aber doch, und genau diese scheint sinnvoll und letztlich vielleicht sogar das eigentliche Geheimnis obst- und gemüselastiger Menüs zu sein: Die Toxine verursachen sanften Stress, vergleichbar mit ambitionierter sportlicher Betätigung oder einer Fastenperiode, und dieser moderate Stresspegel dürfte eine Art Jungbrunnen für unsere Körperzellen sein. „Die Zellen sterben nicht daran, vielmehr gehen sie gestärkt daraus hervor, weil ihre Stressreaktion sie dazu befähigt, mit künftigen Belastungen besser fertigzuwerden“, erläutert Mark Mattson.

„Hormesis“ nennen Wissenschafter dieses Phänomen. Schon Paracelsus benutzte diesen Begriff, um zu unterstreichen, dass geringe Dosen grundsätzlich toxischer Stoffe durchaus heilsam sein können. Heute verstehen Mediziner unter Hormesis nicht nur, dass Nutzen oder aber Schaden durch eine Substanz dosisabhängig sein können, sondern sehen darin auch eine Anpassung von Zellen oder Lebewesen an moderaten Stress – beispielsweise eben ausgelöst durch Pflanzengifte. Immer mehr Indizien deuteten darauf hin, dass die „Hormesis möglicherweise hauptverantwortlich für die günstigen Wirkungen des Obst- und Gemüseverzehrs“ ist, meint Mattson. „Eine Revolution in der Toxikologie“ sieht gar sein Mitstreiter Edward Calabrese von der Massachusetts School of Public Health in dem jungen Forschungszweig. Im März erschien auch ein populärwissenschaftliches Sachbuch zum Thema.

Erforschung der Pflanzenwelt

Nun machen sich Wissenschafter daran, die Pflanzenwelt systematisch zu erforschen, um herauszufinden, welche sanft toxischen Substanzen darin welche Effekte auf unseren Körper haben könnten. Bei vielen Gewächsen wurden sie inzwischen tatsächlich fündig: Resveratrol beispielsweise, ein Inhaltsstoff roter Trauben, scheint Enzyme in Gang zu setzen, die auf komplexen Wegen helfen, Hirnschäden und Durchblutungsstörungen zu unterdrücken. Den Enzymhaushalt beeinflusst offenbar auch Sulforaphan im Brokkoli: Ein gesundheitlicher Nutzen liegt vermutlich im Schutz vor UV-Schäden. Auch in der Krebsforschung ist der Stoff schon länger ein heißer Kandidat. Paranüsse wiederum beinhalten Selen, das zwar in großen Mengen äußerst giftig ist, in geringer Dosierung aber etwa die Gefahr für Herzleiden reduzieren kann. Curcumin in Currypulver könnte sogar das Risiko für Alzheimer und die damit verbundenen Eiweißablagerungen im Gehirn senken, berichtet Mattson aufgrund von Experimenten an Mäusen. Positive Effekte sind auch für pflanzliche Substanzen wie Capsaicin in scharfem Pfeffer und Catechine in Tee belegt.

Selbst Pflanzen, die gemeinhin nicht auf dem Speiseplan stehen, erregen das Interesse der Fachwelt. Galantamin aus Schneeglöckchen oder Märzenbechern zum Beispiel dürfte just durch das Auslösen von mildem Stress Gehirnzellen schützen – und auf diese Weise der Hirndegeneration entgegenwirken. Die Identifizierung nützlicher Substanzen in solchen Pflanzen könnte eines Tages zur Entwicklung entsprechender Medikamente führen, hoffen die Forscher.

Zwar ist der Ansatz von Forschern wie Mattson nicht völlig unumstritten, und mancher Fachkollege mag das vertraute Antioxidantienmodell noch nicht achtlos auf der Müllhalde der Medizin entsorgen – auch deshalb, weil manche pflanzliche Toxine dann doch wieder antioxidativ wirken, freilich nur sehr indirekt. Zudem muss auch die Hormesis-Hypothese längst keine letztgültige Erklärung für den Nutzen pflanzlicher Ernährung bieten.

Sicher ist dennoch: Die bisher weithin akzeptierte Geschichte von den freundlichen Radikalenfängern ist in jedem Fall zumindest grob unvollständig, sodass stimmigere Daten gefragt sind. Bis weitere, harte Befunde vorliegen, kann sich der Konsument immerhin mit einem Rat trösten: Viel Obst und Gemüse zu essen kann ohnehin nie verkehrt sein.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft