Weißmalerei: Expertenstreit um die Schädlichkeit von Milch

Heftig wie selten zuvor debattierten Forscher über Vorzüge und Nachteile des Milchkonsums. Brustkrebs, Übergewicht, Diabetes und ausgerechnet Knochenschwäche soll Milch begünstigen. Die Studien zum Thema mehren sich - doch harte Beweise stehen immer noch aus.

Drucken

Schriftgröße

Es ist ein übler Verdacht. Aber er kommt aus berufenem Munde. Harald zur Hausen erhielt den Medizinnobelpreis 2008 für die Entdeckung, dass Gebärmutterhalskrebs in den meisten Fällen durch humane Papillomaviren übertragen wird. Der Heidelberger Forscher mutmaßt aufgrund von Bevölkerungsstudien zudem seit Längerem, dass Viren im Rindfleisch das Risiko für Darmkrebs erhöhen. Jetzt hat er die Milch ins Visier genommen. So gehe regelmäßiger Milchkonsum mit gehäuften Fällen von Brustkrebs einher, wie er im vergangenen Sommer in einer Studie in dem Fachblatt "International Journal of Cancer" erklärte.

In Japan und Korea gibt es weit mehr Fälle von Darm- als von Brustkrebs - dort wird viel Rindfleisch verzehrt, aber wenig Milch getrunken. In Indien dagegen ist es heute umgekehrt, und es treten mehr Brustkrebsfälle als Darmkrebs auf. Zudem leiden, wie zur Hausen ausführt, Menschen mit Laktoseintoleranz ebenfalls seltener an Brustkrebs. Die mögliche Ursache: Viren in Molkereiprodukten. "In jüngster Zeit", heißt es in dem Artikel, "wurden viele neue vermutliche Viren-DNA-Stränge aus Blutserum, Rindfleisch und Molkereiprodukten gesunder Kühe isoliert, die zumindest teilweise für menschliche Zellen ansteckend sind."

Weiße Gefahr oder "Falschinformationen"?

Der nahrhafte Cocktail, vollgepackt mit Fett und Vitaminen, Mineralien, Eiweiß, Kohlenhydraten und Wasser, steht neuerdings unter Generalverdacht. Er soll dabei nicht nur für Krebs, sondern auch andere Geißeln der Menschheit mitverantwortlich sein. Ob Akne, Prostatakrebs, Übergewicht, Diabetes, Knochenbrüche oder frühzeitige Geschlechtsreife - die Liste der verdächtigten Leiden ist lang. Der Dermatologe Bodo Melnik von der Universität Osnabrück warnt seit einigen Jahren vor der weißen Gefahr: "Wer im Übermaß Milch trinkt, schadet langfristig seiner Gesundheit." Eine Ansicht, die nicht jeder teilt. So wähnt Gerhard Rechkemmer, Präsident des Max-Rubner-Instituts für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe, auf "Spiegel Online", dass hinter der Kritik "aus alternativmedizinischen Kreisen gestreute Falschinformationen" stünden, "für die es keine wissenschaftliche Grundlage gibt".

Die Warnungen haben dem Milchkonsum jedenfalls noch keinen Schaden zugefügt. In Österreich wurden 2014 über 650.000 Tonnen Milch verbraucht. Das entspricht rund 77 Kilogramm Milch pro Kopf. Hinzu kommen jährlich über fünf Kilo Butter und 20 Kilo Käse. Und all das mit öffentlichem Segen: Das österreichische Bundesministerium für Gesundheit rät, drei Portionen Milch oder Molkereiprodukte in den täglichen Speiseplan zu integrieren. Dabei entspricht eine Portion 0,2 Liter. Andere Länder geben ähnliche Empfehlungen ab.

Für Säuglinge ist Muttermilch zweifellos die erste Wahl. Sie hilft dem kindlichen Organismus in vielfältiger Weise, mit Erregern fertig zu werden. Dieser Schutz ist gerade in den ersten Lebensmonaten wichtig, in denen das unreife Immunsystem selbst manche banale Keime nicht wirksam bekämpfen kann. Eine amerikanische Studie stellte 2013 fest, dass Kinder, die mehr als vier Monate gestillt wurden, deutlich weniger oft in Krankenhäuser eingewiesen wurden als jene, deren Mütter sie früher entwöhnten. Zudem hatten Kinder, die über ein halbes Jahr Muttermilch bekamen, viermal seltener Lungenentzündung als Kinder, die nur vier bis sechs Monate gestillt wurden. Auch litten sie weniger an Entzündungen der Ohren, des Magendarmtrakts oder der Harnwege. Gestillte Kinder laborieren zudem seltener an Allergien, außerdem verhilft die Muttermilch den Kleinen zu mehr weißer Gehirnsubstanz und einem größeren Gehirn.

Laktoseintoleranz bei zwei Drittel der Weltbevölkerung

Doch was für Babys gut sein mag, muss nicht unbedingt eine Wohltat für Kinder und Erwachsene sein. Besonders nicht für alle jene, die den Milchzucker Laktose nicht effizient verdauen - und das trifft auf immerhin rund zwei Drittel der Weltbevölkerung zu. Half den laktoseintoleranten Menschen als Baby ein Enzym namens Laktase, den Milchzucker zu zerlegen, nimmt die verfügbare Menge des Enzyms danach stetig ab. Das ist bei fast allen Chinesen der Fall, ebenso in Afrika. Trinken diese Erwachsenen Milch, vergären die Bakterien im Dickdarm, was zu Blähungen, Krämpfen und Durchfall führt. Mehr als 80 Prozent der Europäer können dagegen Milchprodukte ein Leben lang problemlos verdauen.

Aber auch wer milchkompatibel ist, sollte in den Augen mancher Mediziner vorsichtig mit dem Getränk umgehen. So gut Muttermilch für einen Säugling ist - daraus folgt keineswegs, dass auch bereits eine Schwangere unbedingt viel Kuhmilch trinken sollte. Trinkt sie reichlich, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Baby mit erhöhtem Geburtsgewicht auf die Welt kommt. Das wiederum ist ein Risikofaktor für späteres Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes.

Freilich kommt es auch während der Schwangerschaft auf das Maß an. So stellte eine dänische Studie mit über 50.000 werdenden Müttern fest, dass nur übermäßiger Konsum - mehr als 1,2 Liter täglich - zu stark erhöhtem Geburtsgewicht führt, während die von den meisten Gesundheitsexperten empfohlenen drei Gläser Milch pro Tag - oder knapp mehr als ein halber Liter - sich eher positiv auswirken.

Viele Ernährungsexperten und Dermatologen lasten auch Akne starkem Milchkonsum an. So verweist Bodo Melnik darauf, dass Pickel kein Schicksal sind: "Sie sind eine Zivilisationskrankheit." Bei einer Studie auf der Insel Kitavan in Papua-Neuguinea hätte sich unter 1200 Einwohnern und in Paraguay bei 115 Jägern und Sammlern kein einziger Fall von Akne finden lassen. Der vermutete Grund: Diese Menschen nehmen wie unsere Vorfahren keinerlei Milchprodukte oder den Blutzucker hebende kohlenhydratreiche Kost zu sich. Ganz anders als gut 80 Prozent der Jugendlichen in der westlichen Welt: Bei ihnen verstärkt der Konsum von Milch und Kohlenhydraten die Produktion der Talgdrüsen.

Meist denkt man bei Milch an das für den Knochenaufbau wichtige Kalzium. Gerade ältere Menschen sollten täglich Milch konsumieren, um Osteoporose vorzubeugen. Doch eine Arbeitsgruppe um Karl Michaelsson von der Uppsala Universität in Schweden publizierte 2014 im Fachblatt "British Medical Journal" eine Studie, in der sie den Milchkonsum von mehr als 100.000 Frauen und Männern, 39 bis 79 Jahre alt, über lange Zeiträume verfolgen. Das überraschende Ergebnis: Je mehr Milch die Menschen tranken, desto höher war das Risiko, sich einen Knochen zu brechen, vor allem bei Frauen. Jene Frauen, die drei oder mehr Gläser Milch täglich tranken, hatten ein um 16 Prozent höheres Risiko als jene, die nur eines konsumierten. Zudem stieg mit jedem Glas Milch die Sterblichkeit: von rund zehn Todesfällen pro 1000 Frauen nach 20 Jahren bei maximal einem Glas Milch auf fast 18 pro 1000 bei Frauen, die drei oder mehr Gläser täglich tranken. Bei den Männern war die Sterblichkeit etwas geringer.

Doch wie erklären sich diese Zahlen? Sie stellen vorerst nur Korrelationen her, keinen ursächlichen Zusammenhang. Einen Verdacht über mögliche Hintergründe hat Michaelsson jedoch: Er glaubt, dass die Verdauung des Galactose-Milchzuckers zu Entzündungen führt. Werden Labortiere mit Galactose gefüttert, zeigen sie Anzeichen frühzeitiger, durch Entzündungen verursachter Alterung. Doch die Studienautoren gehen nicht so weit, einen neuen Speiseplan zu empfehlen. "Unsere Ergebnisse sollten erst reproduziert werden", sagt Michaelsson.

Erhöhtes Prosatatakrebs-Risiko?

Die Ergebnisse einer von der "Cancer Epidemiology Unit" der University Oxford 2008 zum Abschluss gebrachten Studie zu Prostatakrebs werfen indes auch kein günstiges Licht auf die Milch. Insgesamt erhoben die Studienautoren im Schnitt fast neun Jahre lang klinische Daten von über 140.000 Männern. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass jeder Liter Milch pro Tag das Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, um ein Drittel erhöhte. Doch die Epidemiologen konnten nicht sagen, ob dies an der gesteigerten Kalzium-, der Eiweißmenge oder an beidem lag.

Das scheint momentan überhaupt das Hauptproblem zu sein: Ständig werden verdächtige Korrelationen aufgespürt, die in der Fachwelt Stoff für hitzige Debatten wie lange nicht mehr liefern. Doch wer nun Recht hat, ist unklar, und so werden die Diskussionen wohl noch weitergeführt werden. Die zentrale Frage im Milchstreit betrifft letztlich die biologischen Wirkmechanismen, die sich hinter den statistischen Korrelationen verbergen. Ein aktuell besonders intensiv erörtertes Beispiel sind die reichlich in Milch vorkommenden MikroRNAs. Das sind nur wenige Nukleotide lange Biomoleküle, die viele der Gene unserer Zellen regulieren. Sie steuern, wie viele Proteine hergestellt werden, und mitunter legen sie die Produktion gar komplett still. Sie beeinflussen geschätzt 60 Prozent unseres Erbguts.

MikroRNAs besitzen ganz generell großes Potential für die Medizin: Mehrere Pharmafirmen haben in den vergangenen Jahren medizinische Wirkstoffe entwickelt, die helfen sollen, Erbkrankheiten auf MikroRNA-Basis zu behandeln. Zudem wirken MikroRNAs offenbar nicht nur in den Zellen, in denen sie ihren Ursprung haben. Viele sollen durch Nahrung - unter anderem Milch - im Blutkreislauf und in Organen landen. So behaupten Forscher, Hinweise gefunden zu haben, wie MikroRNA durch Muttermilch das Immunsystem von Babys aufbaut und Kuhmilch menschliche Gene reguliert.

Milch erscheint in der Tat als ein guter Kandidat, MikroRNA in den Körper zu schleusen. In ihr finden sich Mikro- RNA-Schnipsel in Exosome verpackt. Das sind Bläschen, von denen einige Forscher denken, dass sie dem sauren Milieu im Magen standhalten und den Transport in Blutkreislauf und Organe ermöglichen. 2014 stellten Wissenschafter um den Biochemiker Janos Zempleni von der University of Nebraska-Lincoln fest, dass Personen, die Milch in unterschiedlichen Mengen konsumierten, dosisabhängig mehr miRNA29b aufnahmen - genug, um auf ein Gen zu wirken, das Knochenwachstum fördert.

Auch Melnik sieht eine positive Wirkung der MikroRNAs in der Milch, genauer: in der Muttermilch. Dort unterstützen sie die Reifung des Immunsystems, erklärt er, weshalb gestillte Menschen später weniger unter Allergien leiden. Wer später viel Milch trinkt, erweise sich trotzdem einen Bärendienst: "Milch ist kein übliches Nahrungsmittel, sondern ein Signalsystem." So argumentiert er, dass MikroRNAs und Aminosäuren in der Milch eine zentrale Schaltstelle für die Regulation des Stoffwechsels in der Zelle ankurbeln, einen Eiweißkomplex namens mTORC1. Dessen ständige Überreizung stresst laut Melnik die Körperzellen dauerhaft und trägt zu Krankheiten wie Diabetes Typ 2, Krebs, Übergewicht und neurodegenerativen Erkrankungen bei. Experimentell in Menschen bewiesen ist dieser Prozess bislang nicht.

Ohnehin sind Skeptiker keineswegs überzeugt, dass die MikroRNAs überhaupt in relevanten Mengen über die Nahrung aufgenommen werden. Der deutsche Biochemiker Tom Tuschl von der New Yorker Rockefeller Universität, der Ende der 1990er-Jahre viele Mikro-RNAs entdeckte, erklärt: "Ich halte es für unvorstellbar, dass die durch Milch aufgenommene MikroRNA die Konzentration regulatorisch aktiver MikroRNA erreicht." Das demonstrierte der Biochemiker Markus Stoffel von der ETH Zürich in einer im September veröffentlichten Studie gemeinsam mit seiner Doktorandin Alexandra Titel. Die Forscher fütterten Mäuse, denen bestimmte MikroRNAs fehlten, mit an diesen MikroRNAs reicher Milch. Doch im Körper ließen sich nur winzige Mengen nachweisen. In Luft aufgelöst hatten sie sich zwar nicht - aber im Dünndarm in ihre Bestandteile.

Die Wogen gehen jedenfalls hoch in diesem Streit - und beendet ist er noch lange nicht. Was fehlt, ist eine experimentell eindeutige Einsicht in die physiologischen Prozesse, die Milch im Körper auslöst - und wie diese über lange Zeiträumen wirken. Auch Harald zur Hausen hat bislang keine Beweise für seine Vermutung vorgelegt, was sich aber bald ändern kann. Seine Mitarbeiter suchen derzeit in Tumoren nach Spuren jener virenähnlichen DNA-Sequenzen, die sie von Kühen bereits isoliert haben. Sollte sich daraus wirklich ein Nachweis ergeben, hätte man einen völlig neuen Ansatz zur Prävention von Brust- oder Darmkrebs.