Weniger Autos, mehr Grün: Städte müssen sich in der Klimakrise neu erfinden
Wenn Paul Pfaffenbichler zur Arbeit fährt, muss er ordentlich in die Pedale treten: Eine Dreiviertelstunde braucht der Verkehrsplaner per Rad von seinem Zuhause in einem Wiener Innenbezirk bis in sein Büro in Wien-Währing. Ein solches Fitnesstraining musste er vor fünf Jahren noch nicht absolvieren. Damals war er in einer Viertelstunde von der Wohnung am Arbeitsplatz, bewegte sich also schon ganz nah am modernen Ideal der 15-Minuten-Stadt.
An vielen Forschungsstätten und in zahlreichen Kommunen der Welt wird gerade dringend nach Konzepten gesucht, um Städte angesichts von immer häufigeren Tropennächten und Verkehrsinfarkten lebenswerter zu gestalten. Auch Paul Pfaffenbichler treibt diese Thematik um. Er forscht am Institut für Verkehrswesen an der Universität für Bodenkultur (BOKU), zuvor war er an der TU Wien am Karlsplatz tätig.
Pfaffenbichler und seine Kolleginnen weltweit stellen sich Fragen wie diese: Wie kann man die Lebensqualität von Menschen in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld steigern? Wie können die Mobilitätsbedürfnisse der urbanen Bevölkerung besser und umweltfreundlicher befriedigt werden? Wie gestaltet man Städte in Zeiten der Klimakrise?
Die Antworten liegen buchstäblich auf der Straße. Aber welche Konzepte verfolgen heimische Kommunen genau? Was passiert in Wien? Und wie geht es mit den zuletzt heftig debattierten „Supergrätzln“ weiter?
Die 15-Minuten-Stadt
Eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen in den Metropolen ist die 15-Minuten-Stadt. Sie wurde vom Franko-Kolumbianer Carlos Moreno 2016 entwickelt, Professor für Urbanismus an der Pariser Sorbonne. Demnach sollen alle wesentlichen Ziele des Alltags – Schule, Büro, Supermarkt, Apotheke oder Freizeiteinrichtungen – zu Fuß, per Rad oder öffentlich in 15 Minuten erreichbar sein. Heimische Verkehrsplaner sprechen hier gern vom „Schlapfenradius“. Das Konzept hat zum Ziel, den Bewohnerinnen und Bewohnern Lebenszeit zu schenken, die sie nicht mehr in Staus verbringen müssen. Zudem soll die Hitze mit Grün bekämpft und der Lärm weniger werden, die Abgase sowieso – alles in allem ist die 15-Minuten-Stadt also gut für die Menschen und fürs Klima.
Freilich kann sie nicht für jede und jeden auch einen Arbeitsplatz im unmittelbaren Wohnumfeld sicherstellen. Darum radelt Paul Pfaffenbichler ja auch quer durch die Stadt. Aber: „Sie ist ein Leitbild. Je dichter und durchmischter eine Stadt ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dort auch Arbeit zu finden“, sagt der Experte. Im aktuellen Tauwetter-Podcast erklärt er, wie die Wissenschaft die Städte der Zukunft gestalten würde.
Vorbild Paris
Als Vorreiterin gilt dabei die französische Hauptstadt Paris. Nachdem Carlos Moreno sein Konzept vorgestellt hatte, übernahm es die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo in ihre Wiederwahlkampagne und begann mit der Umsetzung. Es gehe „um die ökologische Wende der Stadt, während zugleich das Alltagsleben der Pariser verbessert wird“, erklärte sie. Zu Hidalgos Versprechen aus dem Wahlkampf 2020 gehörte es, die Hälfte der damals knapp 140.000 Parkplätze in Parks und Radwege umzuwidmen und bis 2026 alle Pariser Straßen rad- und fußgängerfreundlich zu machen. Immer mehr Bereiche im Zentrum werden für Autos gesperrt. Durch dürfen nur noch Anrainer, Taxis, Busse und Einsatzfahrzeuge. Seit 2016 entstanden in der Hauptstadtregion Île-de-France mehr als 700 Kilometer Radwege. Hidalgo setzte das gegen alle Widerstände durch.
Auch Wien hat sich zum Ziel gesetzt, eine Stadt der kurzen Wege zu werden. „Mit lebendigen, gemischt genutzten Stadtteilen und einer Neuverteilung des öffentlichen Straßenraums zugunsten von aktiver Mobilität, Öffis und attraktiven Verweilmöglichkeiten“ wolle man die 15-Minuten-Stadt fördern, heißt es in der „Smart Klima City Strategie“. Innerhalb des Gürtels kommt Wien dem Konzept auch schon recht nah. Ein entscheidendes Problem bleibt: „Das Auto spielt in sehr vielen Politikerköpfen noch eine sehr zentrale Rolle. Man will potenzielle Wählerinnen und Wähler nicht vergrämen“, sagt Pfaffenbichler. Dabei besitzt in der Hauptstadt mehr als die Hälfte der Einwohner gar keinen Pkw. Um das Leben im urbanen Raum attraktiver zu machen, braucht es aber weniger Durchzugsverkehr, weniger Parkplätze und dafür mehr Grün.
Provisorium Supergrätzl
Für Daniel Huppmann ist der Gang zur Bushaltestelle ein tägliches Ärgernis. Der Klimaforscher wohnt in einer Gegend, in der die stadtplanerische Zukunft erprobt werden soll – in Wiens erstem Supergrätzl. In Favoriten, in einem mehrere Straßenzüge umfassenden Gebiet zwischen Gudrunstraße, Neilreichgasse, Quellenstraße und Leebgasse, ist seit Juni 2022 die Durchfahrt – zumindest stadteinwärts – verboten, die Geschwindigkeit war schon zuvor auf 30 km/h beschränkt. Rosa Bodenmarkierungen, Pflanztröge und ein paar Poller markieren derzeit provisorisch, wo künftig Grüninseln und Sperren entstehen sollen. „Das Konzept ist super, aber meine ursprüngliche Freude ist in Frust umgeschlagen“, sagt Huppmann. Denn: „Die Umsetzung ist lächerlich, die Autofahrer fahren einfach um die Poller herum.“ Eine Verkehrsberuhigung habe nicht stattgefunden, klagt der Anrainer.
Man dürfe nicht vergessen, dass es sich nur um vorläufige Maßnahmen handle; die baulichen stehen noch aus, meint Florian Lorenz, dessen Studio Laut das Supergrätzl-Entwicklungskonzept erarbeitet hat. „Derzeit befinden wir uns in der Pilotphase“, sagt der Landschaftsarchitekt. Für ihn ist das bisher Erreichte „ein riesiger Erfolg“. Bei einem so großen und komplexen Projekt müsse man vieles unter einen Hut bringen: Die rechtlichen Voraussetzungen, die Interessen der Anrainer und der Gewerbetreibenden, die Bedürfnisse der Einsatzkräfte, die Müllabfuhr, die Beleuchtung, die Begrünung – bis hin zur Frage, wer die Pflanztröge gießen soll. „Tatsächlich haben hier sehr viele Behörden und Entscheidungsträger an einem Strang gezogen“, sagt Lorenz.
Prozesse wie dieser könnten künftig schneller gehen, hofft der Verkehrsplaner Ulrich Leth von der TU Wien. „In den Behörden vollzieht sich gerade ein Generationenwechsel. Die älteren Planerinnen und Planer, die noch in der Hochzeit des Autozentrismus ausgebildet wurden, gehen in Pension.“ Die Jüngeren seien eher bereit für innovative Konzepte, meint Leth.
Erste Baumaßnahmen sollen im Herbst/Winter 2023 starten, der Baustart der zweiten Bauphase soll 2024 erfolgen.
Wie geht es in Favoriten weiter?
Zuletzt entstand der Eindruck, dass die Stadt das junge Supergrätzl schon wieder sterben lassen wolle. profil hat nachgefragt, worauf die Stadt nun einen aktualisierten Zeitplan bekannt gab: „Erste Baumaßnahmen sollen im Herbst/Winter 2023 starten, der Baustart der zweiten Bauphase soll 2024 erfolgen“, so das Magistrat für Stadtentwicklung und Stadtplanung, das bei Mobilitäts-Stadträtin Ulli Sima (SPÖ) ressortiert. Das Pilotprojekt in Favoriten werde nach der Umsetzung evaluiert, die Ergebnisse Grundlage für weitere Entscheidungen in Sachen Supergrätzl sein.
Weitere Bezirke scharren bereits in den Startlöchern. In der Josefstadt hat die Bezirksvertretung einstimmig für ein solches Modell rund um den Bennoplatz gestimmt. Im 2. Bezirk hat eine Studie gezeigt, wie positiv sich ein Supergrätzl rund um den Volkertplatz auswirken würde. Ein Ergebnis, das offenbar nicht allen gefallen hat. Erst auf großen öffentlichen Druck gab die Stadt das Papier frei – nachdem es bereits zwei Jahre in der Schublade gelegen hatte.
Baustellenpolitik
Ursprünglich stammt die Idee vom Supergrätzl aus Barcelona, wo seit 2018 mehrere „Superilles“, besser bekannt als „Superblocks“, entstanden sind. Trotz anfänglicher Widerstände waren diese ein voller Erfolg: 75 Prozent der einst von Autos blockierten Straßen werden nun als erweitertes Wohnzimmer genutzt, der Verkehr in den innen liegenden Straßen nahm um fast die Hälfte ab. „Die Grätzl in Barcelona sind sehr schön gestaltet. Davon hängt auch ihre Nutzung ab“, sagt Verkehrsplaner Leth. Er hat in der katalanischen Hauptstadt im März eine europaweite Konferenz zu Superblocks mitorganisiert und einen eklatanten Unterschied zu Österreich festgestellt: „In Wien gibt es in Wahljahren so gut wie keine Baustellen, um niemanden zu verärgern. In Barcelona hingegen ist die halbe Stadt aufgerissen, obwohl am 28. Mai Regionalwahlen stattfinden. Die Politik will zeigen, dass sie anpackt“, sagt Leth.
Die Idee von der Stadt der Zukunft hat sich mittlerweile im Rest Österreichs herumgesprochen. Auch Klagenfurt will eine Stadt der 15 Minuten werden, wie Verkehrsstadträtin Sandra Wassermann (FPÖ) kürzlich verkündete. Graz tüftelt indes an einem völlig neuen Verkehrskonzept. Das Ziel der grünen Stadträtin Judith Schwentner: 2040 sollen 80 Prozent aller Wege zu Fuß, mit dem Rad oder den Öffis zurückgelegt werden. Salzburg forciert mit dem 2021 ausgerufenen „Masterplan Gehen“ ebenfalls den Schlapfenradius.
Die 15-Minuten-Verschwörung
Aber nicht alle finden solche Ideen super. Es klingt absurd, aber um die 15-Minuten-Stadt hat sich in einschlägigen Online-Foren ein Verschwörungsmythos entsponnen. Eine geheime Elite wolle so die persönliche Freiheit der Menschen beschneiden, ihnen ihre Autos wegnehmen und vorschreiben, wo in einer Stadt sie sich bewegen dürften.
Nach der Pandemie musste offenbar eine neue Weltverschwörung her. Klima-Lockdown statt Corona-Lockdown quasi.