Angststörung

Angst und Bange

Wer von seiner Angst im Alltag eingeschränkt wird, leidet an einer Angststörung. Jeder Achte hat damit schon Erfahrung gemacht. Auslöser gibt es viele, mangelnder Mut gehört nicht dazu.

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Wer im Wiener Stadtpark auf einer Bank sitzt, wird bald mit Tauben Bekanntschaft machen. Wer spätabends durch das Grazer Univiertel spaziert, muss dort vielleicht an der einen oder anderen Stelle Erbrochenem ausweichen. Und wer in Linz die Nibelungenbrücke überquert, der hat zwischen sich und der acht Meter darunter fließenden Donau nur ein schmales Geländer auf Bauchhöhe.

Viele Menschen nehmen diese Tatsachen nicht einmal wirklich wahr, sie gehören, gerade in Städten, zum Selbstverständlichen. Aber für Leute, die unter Angststörungen leiden, können Tauben, Erbrochenes und Höhen Trigger für massive Angstschübe sein. Die Bewältigung des Alltags ist für sie eine enorme Herausforderung.

Und sie sind nicht wenige. Studien gehen davon aus, dass zwischen zwölf und 15 Prozent aller Menschen schon einmal an einer Angststörung gelitten haben, in Österreich wären das knapp eine Million Menschen. Angststörungen können in unterschiedlichen Formen auftreten und ganz unterschiedliche Auslöser haben. Sie weisen aber eine Gemeinsamkeit auf: eben die übersteigerte Angst in eigentlich ungefährlichen Situationen. Doch mit mangelndem Mut hat die Erkrankung nichts zu tun. Biologisch gesprochen ist unter anderem ein Mangel an Serotonin verantwortlich, Auslöser können eine genetische Prädisposition und traumatische Erlebnisse sein. In Österreich gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, sie setzen etwa auf Selbsthilfe, Psychotherapie oder virtuelle Realität.

Experten für Emetophobie

Auf diese Weise lassen sich ganz unterschiedliche Situationen herstellen. So stehen Menschen mit Höhenangst plötzlich auf einem Wolkenkratzer und müssen auf einer Holzplanke balancieren, oder tropische Spinnen krabbeln durch die Räume des renovierten Altbaus mit Blick auf die Mariahilfer Straße. Auch bei anderen Phobien, die komplexere Auslöser haben, kommt die Brille zur Anwendung: Dazu zählt die relativ weit verbreitete Agoraphobie, bei der Menschen Angst vor Situationen haben, aus denen sie nicht ohne Weiteres flüchten können: große Menschenansammlungen etwa oder öffentliche Verkehrsmittel. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass sich Betroffene gar nicht mehr vor ihre Haustür trauen. „Mit der VR-Bille können wir sie dann auf den Vorplatz des Schlosses Schönbrunn schicken“, sagt Lanzinger. Durch diese

Erfahrung würden Patienten erkennen, dass die angstbesetzten Situationen nicht so schlimm wie angenommen sind und welche Strategien ihnen zur Beruhigung helfen können. „Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut“, sagt Lanzinger. „Es ist eher eine Form der Kontrolle.“ Wenn Betroffene also wissen, worauf sie sich einlassen und wie sie mit Komplikationen umgehen können, helfe das viel mehr gegen Angststörungen als gut gemeinte Appelle, mutiger zu werden.

Einen Namen hat sich das Unternehmen auch bei der Behandlung einer weniger bekannten Angst gemacht, der Emetophobie. Dabei haben die Betroffenen eine übersteigerte Angst vor dem Erbrechen. Das führt zur Vermeidung von allem, was zu einer Übelkeit führen könnte: bestimmte Lebensmittel, Autofahrten, Alkohol. Studien zufolge leiden rund 0,2 Prozent der Bevölkerung darunter. „Viele Menschen kommen zu uns, weil ihre Therapeuten das Problem nicht kennen oder es als Essstörung fehldiagnostizieren“, sagt Lanzinger. „Aber wenn man sich auf TikTok umschaut, gibt es viele Videos dazu.“ Inzwischen kommen Menschen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zwecks Emetophobie-Therapie zu Phobius, sagt der Gründer.

Johannes Lanzinger hat "Phobius" 2017 gegründet. Mit mangelndem Mut haben Angststörungen nichts zu tun, sagt er.

Konfrontation per VR-Brille

Die Definition einer Angststörung ist sehr breit. Medizinerinnen und Mediziner unterscheiden zwischen vier unterschiedlichen Formen. Dazu gehören Panikstörungen, bei denen akut und plötzlich große Angst auftritt – die Betroffenen haben oft das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, und durchleiden Todesängste. Daneben gibt es spezifische Phobien, wie die Ängste vor Höhen, Dunkelheit oder gewissen Tieren; Sozialphobien, bei denen man große Menschenansammlungen oder öffentliche Auftritte fürchtet, und generalisierte Angststörungen, bei denen die Betroffenen allgemein stark verängstigt durchs Leben gehen.

Bis zu einem gewissen Ausmaß sind alle diese Ängste unbedenklich, ihnen liegen evolutionäre Selbstschutzinstinkte zugrunde. Problematisch wird es, wenn die Ängste überschießen und aus dem Alltag einen Spießrutenlauf machen.

Menschen mit Angststörungen gehen bei Phobius ein und aus. Das 2017 gegründete Unternehmen bietet in Wien-Neubau mit zehn Psychologinnen und Psychologen Behandlungen an. „Das Gute an Angststörungen ist, dass wir wissen, was dagegen hilft“, sagt Gründer Johannes Lanzinger. „Es ist die Konfrontation. Man muss die Leute aus ihrer Vermeidungshaltung holen.“ Deswegen bekommen Patientinnen und Patienten bei Phobius Bilder und Videos vorgesetzt. Vor ihren Augen flimmern dann Aufnahmen, die ihren Puls in die Höhe schnellen lassen. Außerdem setzt das Team auf Virtual-Reality-Brillen. „Am Anfang war das ehrlicherweise eine Marketingstrategie, um Personen anzusprechen, die einer traditionellen Therapie kritisch gegenüberstehen. Aber es funktioniert sehr gut, das zeigen auch wissenschaftliche Studien.“

Menschen mit psychischen Erkrankungen machen oft diskriminierende Erfahrungen.

Cassandra Cicero

Psycholgin, Obfrau SPADE

Selbsthilfe in Meidling

Einen Haken hat diese Form der Therapie allerdings: Sie ist teuer. 120 Euro kostet eine Einheit, 90 Euro im für „finanziell benachteiligte Menschen“ vorgesehenen Sozialtarif. Auch in leichteren Fällen muss man mit acht bis zehn Sitzungen rechnen, sagt Lanzinger. Anders als bei der Psychotherapie übernimmt die Krankenkasse bei psychologischen Behandlungen keine Kosten, vollfinanzierte Kassenplätze gibt es in Österreich sehr wenige, bei Phobius gar keinen. „Wir sind in Verhandlungen“, sagt Lanzinger. „Möglicherweise refundiert die Kasse ab nächstem Jahr einen Teil des Betrags.“

Dass Therapien nicht günstig sind, weiß auch Cassandra Cicero. Sie ist Obfrau von SPADE, einer Selbsthilfe- und Kommunikationsgruppe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Angsterkrankungen in Wien-Meidling. „Das therapeutische Angebot ist in Österreich nicht niedrigschwellig“, sagt die Psychologin. „Zu uns zu kommen, ist leichter.“ Jeden Donnerstag trifft sich SPADE, aktuell in einem Nachbarschaftszentrum. Zwischen vier und zwölf Menschen kommen, im Idealfall begleitend zu einer Therapie. Als Obfrau hilft Cicero auch bei der Suche nach Kassenplätzen und Therapeuten mit Kapazitäten. „In manchen Fällen muss ich dafür 80 Mails schreiben“, sagt sie.

Die Hürden auf dem Weg zur Psychotherapie sind aber nicht der einzige Grund, warum sich die Gruppe seit mittlerweile 15 Jahren einmal in der Woche trifft. Noch immer haftet psychischen Erkrankungen ein Stigma an. Mut kann auch heißen, trotzdem etwas dagegen zu unternehmen und mit anderen darüber zu sprechen. „Die Menschen machen in ihrem Familien- oder Bekanntenkreis oft diskriminierende Erfahrungen“, sagt Cicero: „Sie hören dann, dass sie sich doch endlich zusammenreißen sollen.“

Solche Bemerkungen können in der Selbsthilfegruppe besprochen und bearbeitet werden; aber weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht ständig nur über ihre Beschwerden reden möchten, gehe es sehr oft auch um die Banalitäten des Alltags. „Vor ein paar Wochen haben wir über Haustiere geredet“, erinnert sich Cicero: „Und dann haben wir auf einmal über eine Skorpionzucht gesprochen.“ An Arachnophobie – der Angst vor Spinnen und Skorpionen – dürfte niemand in der Runde gelitten haben.

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.