9/11: Wer war der Falling Man?
Dossier: Crime

Wer ist der Falling Man?

20 Jahre nach 9/11 ist fast die Hälfte der Toten noch immer nicht identifiziert. Neue Methoden helfen, den Opfern Namen und den Hinterbliebenen Gewissheit zu geben.

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„Das ist nicht mein Vater.“ Cathrine Hernandez, Tochter des am 11. September 2001 verstorbenen Norberto Hernandez, war wütend. Ein Journalist war auf dem Begräbnis ihres geliebten Vaters aufgetaucht, das wenige Wochen nach dem Terroranschlag stattfand. Er wollte der Jugendlichen, ihren beiden Schwestern und der Mutter Fotos des Falling Man zeigen. Empört schickte Cathrine Hernandez ihn weg.

Zu diesem Zeitpunkt war das Bild des Mannes, der wie ein Pfeil zwischen dem Nord- und dem Südturm des World Trade Centers in die Tiefe stürzt, bereits zur Ikone geworden. Zeitungen rund um den Globus hatten es gedruckt, und Spezialisten hatten das Foto geschärft, um die Merkmale des Fallenden herauszuarbeiten. Journalisten hatten anschließend versucht, seine Identität zu klären. Einer davon war auf die Vermisstenanzeige der Familie Hernandez am Times Square gestoßen, eine von Tausenden, die damals die Straßen von New York tapezierten. Auf den ersten Blick stimmte alles: Norberto trug ein Ziegenbärtchen, er war südamerikanischer Abstammung, groß und von stattlicher Statur. Der 42-Jährige hatte an jenem Septembertag als Dessertkoch im Windows of the World gearbeitet, dem Restaurant ganz oben auf dem Nordturm. 

Für viele verkörperte der Falling Man einen rebellischen Helden. Er war jemand, der sich gegen das Verbrennen bei lebendigem Leib und für den selbst gewählten Sprung in den Tod entschieden hatte. Für viele andere hingegen waren die etwa 200 Menschen, die sich nach den Einschlägen der beiden Flugzeuge aus den oberen Stockwerken stürzten, nichts als feige Selbstmörder. Norberto Hernandez’ Familie weigerte sich jahrelang, zu glauben, dass er der Falling Man war – auch wenn der Rest der Welt es als Gewissheit ansah. „Mein Vater versuchte, zu uns nach Hause zu kommen. Er wusste, dass das durch den Sprung aus dem Fenster unmöglich war“, sagte Tochter Catherine 2006 in der TV-Dokumentation „9/11: The Falling Man“. Sie hatte im Internet schreckliche Dinge über ihren Vater lesen müssen: „Sie sagten, er sei in die Hölle gefahren, direkt in die Arme des Teufels.“ Die Hernandez’ sind eine religiöse Familie.

Identität von 40 Prozent der Toten ungeklärt

Schließlich kamen auch den Journalisten Zweifel. Viele Männer, die im World Trade Center gearbeitet hatten, hatten Ziegenbärte und dunkle Haut. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, welcher Name hinter dem Fallenden steckt. Norberto Hernandez war es nicht, wie ein oranges T-Shirt am Ende beweisen sollte.  

Der Falling Man ist nicht das einzige unbekannte Opfer des Anschlags vom 11. September. 20 Jahre danach ist die Identität von 40 Prozent der knapp 3000 Toten ungeklärt. Der Prozess läuft trotz intensiver Bemühungen der New Yorker Rechtsmedizin schleppend: Seit 2013 wurden die Überreste von gerade einmal fünf Menschen identifiziert. Für die Angehörigen ist die späte Gewissheit aufwühlend und erlösend zugleich. „Es bringt diesen Tag zurück, die schreckliche Art und Weise, wie sie starben“, sagte Mary Fetchet, die ihren 24-jährigen Sohn verloren hat, 2018 in einem Interview mit der Austria Presse Agentur. „Aber es gibt einem auch etwas Trost, wenn man seinen Lieben eine richtige Beerdigung geben kann.“ 

Woran aber scheitert die Identifizierung von mehr als 1000 Menschen? 22.000 Knochen- und Gewebeteile hatten aus dem ganzen Land angereiste Spezialisten-Teams in den Monaten nach dem Attentat aus den Trümmern der Zwillingstürme geborgen. Die New Yorker Rechtsmedizin sicherte sogar noch 2006 menschliche Überreste aus dem Deutsche Bank Building, das durch einstürzende Teile des Südturms schwer beschädigt worden war und ab 2007 abgerissen wurde. Das Problem: Die wenigsten Proben sind intakt. Sie waren am Ground Zero Feuer, Hitze, Kerosin, Schimmel, Bakterien und Sonnenlicht ausgesetzt. All das zerstört die zur Identifizierung nötige genetische Information, die DNA.

Aufgeben ist für die Rechtsmediziner in New York aber bis heute keine Option. Einige Proben vom 11. September wurden mehrmals getestet, manche zehn oder gar 15 Mal. Dabei werden zum Beispiel Knochen zu feinstem Staub zermahlen und mit Chemikalien versetzt, um die DNA herauszulösen. Nur wenige Versuche führten in den vergangenen Jahren zum Erfolg.  

Dass trotzdem immer wieder Opfer identifiziert werden, liegt an den steten Fortschritten des DNA-Profilings. So ist es heute möglich, deutlich mehr DNA aus den Proben zu ziehen als früher: Durch das sogenannte Capture MPS (Capture Hybridisation Massively Parallel Sequencing) lässt sich stärker zerstörte DNA besser verwerten als je zuvor. Zudem wurden die Chemikalien verbessert, die bei der Gewinnung des genetischen Materials helfen. „Die Methodik war früher Verunreinigungen gegenüber sehr empfindlich, heute ist sie deutlich toleranter“, sagt Walther Parson, Leiter der Forensischen Genomik an der Medizinischen Universität Innsbruck. Er begleitet seit Jahren die Identifikation von Opfern des Jugoslawienkrieges und weiß, dass es nach großen Katastrophen nie eine hundertprozentige Aufklärungsquote gibt.

Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass gar nicht von allen Opfern Proben gefunden werden. Außerdem hängt der Erfolg der Forensiker auch von den Angehörigen ab. Sie müssen Zahnbürsten oder anderes genetisches Material der Verstorbenen zum Abgleich zur Verfügung stellen – oder, sofern sie verwandt sind, die eigene DNA. Nur ist das nicht immer möglich: „Manche waren möglicherweise alleinstehend“, sagt Walther Parson von der Med Uni Innsbruck. 

In New York wurde die DNA von 40 Opfern erfolgreich analysiert – aber das Vergleichsmaterial fehlt. Bei der Verbrechensbekämpfung  können DNA-Profile von  Tatortspuren in nationalen DNA-Datenbanken gesucht werden. Auch private Datenbanken, die zur Stammbaumforschung verwendet werden, helfen bei der Fahndung nach Kriminellen. Warum wendet man diese Technologie nicht auch bei der Suche nach Terroropfern an? „Deren Identifikation beruht auf der Freiwilligkeit der Angehörigen, das ist gesetzlich geregelt“, sagt Forensiker Parson. 

Mike und Jindra Rambousek hätten alles getan, um irgendein Überbleibsel ihres Sohnes Luke begraben zu können. Der 11. September war für das Paar ein Alptraum. Während seine Frau in Pennsylvania urlaubte, sah Mike Rambousek in den Neun-Uhr-Nachrichten das erste Flugzeug ins World Trade Center krachen. Der Zeitschrift „Vanity Fair“ erzählte er: „Zu diesem Zeitpunkt dachte man noch, es sei ein Unfall mit einer Cessna gewesen. Ich fuhr los, um Luke ein Mittagessen zu bringen.“ Anfang des Jahres hatte sein 27-jähriger Sohn als IT-Techniker beim Anleihen-Händler Cantor Fitzgerald angeheuert. Luke arbeitete im 103. Stock des Nordturms. Mike nahm an, dass er nach dem Unfall freibekommen würde, packte in der gemeinsamen Wohnung in Brooklyn ein Pfeffersteak und ein paar Stücke Wassermelone ein und ging zur U-Bahn in Richtung Manhattan. Um 10:05 stoppte der Zug abrupt vor der Fulton Street Station, einen Block vom World Trade Center entfernt. „Plötzlich wurde es stockfinster. Es wurde heiß im Waggon, Rauch drang ein.“ Gerade eben war der Südturm eingestürzt. Eine halbe Stunde später hatten es die Fahrgäste auf die Treppe der U-Bahnstation geschafft, als sich Unmengen Asche über sie ergossen. „Erinnern Sie sich an die Figuren in Pompeji? Ich dachte, so würden wir enden“, sagt Mike Rambousek. Nun war auch der Nordturm in sich zusammengekracht. „Auf einmal hatte ich das Gefühl, Luke sei nicht mehr. In dem Zeug, das wir einatmeten, mussten Partikel meines Sohnes sein.“ Mike drückte ein Stück Wassermelone in sein Shirt, hielt sich den nassen Fleck vor den Mund und begab sich auf die aussichtslose Suche nach Luke.

Menschen im World Trade Center versuchen dem Rauch und den Flammen zu entkommen.

Es dauerte Monate, bis er und seine Frau Jindra ihren Sohn fanden. Wie viele Angehörige durchsuchten die Rambouseks täglich das Internet nach Bildern des 11. September. Vielleicht hatte ein Fotograf Luke zufällig geknipst? Ein Reuters-Bild zeigt Menschen im 103. Stock des Nordturms, die sich in Trauben in Fensteröffnungen quetschen, um nach frischer Luft zu schnappen. Einer davon könnte Luke sein: Die verschwommene Aufnahme zeigt dunkles Haar und einen kräftigen, bloßen Oberkörper. Der Mann hält eine Frau im Arm, die vermutlich bewusstlos aus dem Fenster hängt. "So war Luke, er half immer allen", sagte seine Mutter der "Vanity Fair". Sein Shirt werde er wohl ausgezogen haben wegen der Hitze, oder um es als Atemschutz zu verwenden, mutmaßen die Eltern. Auch wenn die Rambouseks es nie mit Sicherheit wissen werden, für sie ist der Mann ihr Sohn: "Wenigstens haben wir jetzt eine Idee davon, was passiert ist. Sie überlebten fast eineinhalb Stunden lang, hingen aus den Fenstern, warteten, warteten."

"Niemals hätte mein Mann ein oranges Shirt getragen"

Norberto Hernandez' Überreste konnten schnell identifiziert werden. Man hatte seinen Rumpf und einen Arm gefunden. Ob er aus dem Fenster gesprungen war, ließ sich dadurch aber nicht eruieren. Die Wende für seine Familie brachte schließlich die Recherche des New Yorker Reporters Tom Junod. Er hatte festgestellt, dass der Fotojournalist Richard Drew nicht nur das eine legendäre Bild geschossen hatte, sondern eine Serie von zwölf. Der Fallende ist darauf in vielen Posen zu sehen: Er rudert mit den Armen, er spreizt die Beine, er überschlägt sich. Schließlich weht der Wind die weiße Kochjacke nach oben, und zum Vorschein kommt ein oranges T-Shirt. Als der Reporter Hernandez' Witwe Eulogia die Bilder vorlegte, sagte sie: "Niemals hätte mein Mann ein oranges Shirt getragen." Sie habe ihm jeden Tag die Kleider rausgelegt, und sie wisse genau, was er am 11. September getragen hatte: "Ein Shirt der Marke Old Navy. Blau. Mit Karo-Muster." Für die Arbeit habe sich ihr Mann stets umgezogen. Unter der Kochjacke trug er immer ein weißes T-Shirt. Für Eulogia Hernandez, die seit 27 Jahren mit dem "sanften Giganten" verheiratet war, der Salsa liebte und seine Familie vergötterte, war dies der endgültige Beweis: Norberto war nicht gesprungen.

Aber wer ist dann der Falling Man? Journalist Tom Junod suchte weiter. Er fragte die Chefin des Restaurants Windows of the World, das am 11. September 79 Köchinnen und Kellner verloren hatte. Auf niemanden passe die Beschreibung, und niemand aus ihrer Belegschaft hätte ein oranges T-Shirt unter der Küchentracht getragen, denn das war gegen die Vorschrift, beteuerte sie.

Dann stieß Junod auf Jonathan Briley. Er hatte im Windows of the World als Toningenieur für Veranstaltungen gearbeitet. Er war 43, hatte dunkle Haut, einen Bart, die richtige Größe. Wie durch ein Wunder war sein Körper im Ganzen gefunden worden. Sein Bruder Timothy hatte ihn identifizieren müssen, aber von seiner Kleidung war nichts mehr zu erkennen gewesen. Nur noch die Schuhe steckten an den Füßen. Einen davon nahm Timothy Briley mit nach Hause. Als Andenken. Trotz des fehlenden Gewands an der Leiche wusste Briley, was sein Bruder am häufigsten unter der weißen Uniform trug: ein oranges T-Shirt. Er hatte es fast immer an, überall. "Wann schmeißt du das Teil endlich weg?", hatte er ihn oft geneckt.

"Mein Bruder liebte das Leben, und das war ansteckend", sagte seine Schwester Gwendolyn in der TV-Dokumentation. Sie hatte das Bild des Falling Man schon am 12. September 2001 in einer Zeitung gesehen: "Ich dachte damals nicht an Jonathan, sondern an einen Mann, der sein Leben in dieser Sekunde in die Hände Gottes legte."

Aber war es tatsächlich ihr Bruder? Gewissheit wird es darüber nie geben. Jonathans Frau Hillary schlief noch fest, als er ihr am 11. September einen Abschiedskuss aufdrückte. Sie sah nicht, was er anhatte, als er das Haus verließ. Nach seinem Tod gab sie seine Kleidung weg, ohne nachzusehen, was davon fehlte.

Es sei ohnehin nicht so wichtig, wer der Fallende sei, sagte Jonathan Brileys Schwester Gwendolyn. "Wichtig ist, was der Betrachter in dem Foto sieht."

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.