Wie die Wissenschaft eine angebliche Kindsmörderin entlastete
Es ist kaum vorstellbar, was die Frau durchgemacht hat: vor Gericht gestellt wegen der Tötung ihrer vier Kinder; zu 30 Jahren Haft verurteilt; vom Ehemann im Stich gelassen, der ihr die Taten zutraut; von Medien als „Monster“, „Babykiller“ und „schlimmste Serienmörderin Australiens“ bezeichnet.
20 Jahre lang saß Kathleen Folbigg wegen Mordes in Haft. Doch Anfang Juni dieses Jahres wurde sie von der australischen Justiz begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen. Begründung: Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Schuld der heute 55-Jährigen. Vielmehr gebe es starke Indizien, dass die vier Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen, eines natürlichen Todes gestorben seien.
Folbiggs Geschichte ist eine menschliche Tragödie und zugleich ein Fall für die Wissenschaft. Denn dank moderner DNA-Analytik befindet sich Folbigg wieder auf freiem Fuß – was allgemein zeigt, was Naturwissenschaft heute in der Kriminalistik leisten kann, und im Speziellen demonstriert, wie die Untersuchung einzelner Gene in winzigen Proben biologischen Materials mehr als 20 Jahre zurückliegende Geschehnisse aufklären kann.
Die Wissenschaft ist aber auch mitverantwortlich dafür, dass die Frau verurteilt wurde. Genauer: ein schwerer fachlicher Fehler, der lange Grundlage für Gerichtsentscheide war. Es geht um Statistik und die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten – Fachgebiete, die viele Menschen nicht besonders mögen und mit denen leider auch Richter, Mediziner und Sachverständige auf Kriegsfuß stehen; Disziplinen, deren Ergebnisse häufig der Intuition widersprechen und die doch eminente Bedeutung für unser aller Leben haben können.
Konkret ging es um die Frage: Kann es sein, dass vier Kinder in Folge aufgrund natürlicher Todesursachen sterben? Die Antwort: Ja, das ist denkbar und sogar wahrscheinlicher als die alternative Annahme, dass es sich um Mord handelt.
Vier tote Kinder in Serie: Eindeutig Mord?
Kathleen Folbigg brachte zwischen 1989 und 1999 die Kinder Caleb, Patrick, Sarah und Laura zur Welt. Alle starben im Alter von 19 Tagen bis 18 Monaten, plötzlich und im Schlaf. Sie waren nicht unterernährt, nicht vernachlässigt, es gab keine Spuren von Missbrauch oder Gewalt. Beweise für Mord oder Totschlag fehlten. Folbigg beteuerte standhaft ihre Unschuld. Doch man glaubte ihr nicht, zumal Tagebucheinträge auftauchten, in denen sie sich – wenig überraschend – Vorwürfe wegen des Todes ihrer Kinder machte. Dann stellte sich heraus, dass einst ihr Vater ihre Mutter ermordet hatte. Konnte das alles Zufall sein? 2003 wurde sie nach sieben Wochen Prozess verurteilt, dreimal wegen Mordes, einmal wegen Totschlags.
Der Fall verschwand nicht aus der öffentlichen Wahrnehmung. Bald interessierten sich Pathologen dafür und meldeten Zweifel am Urteil an. Der Durchbruch gelang der britischen Genetikerin Carola Vinuesa: Sie analysierte mit Folbiggs Einverständnis DNA-Proben der vier Kinder, die unter anderem von eingefrorenem Lebergewebe stammten. Vinuesas Befund war spektakulär: Die beiden Mädchen trugen eine seltene Mutation des Proteins Calmodulin 2 in sich. Es kontrolliert die Kalziumkonzentration in den Zellen und ist an der Steuerung der Muskelkontraktion beteiligt. Eine Fehlfunktion von CALM2 führt typischerweise zu Herzrhythmusstörungen – dies ist die nun vermutete Todesursache. Bei den beiden Buben stieß die Forscherin auf eine andere Auffälligkeit: auf einen Defekt des Gens BSN, das im Verdacht steht, Epilepsie auszulösen.
Aufgrund der Analyse beauftragte die Australische Akademie der Wissenschaften ein 30-köpfiges Forscherteam mit Fachleuten aus aller Welt, welche die Daten eingehend prüften und bestätigten. Schließlich verfassten 90 Forschende eine Petition und setzten sich für Folbiggs Freilassung ein – am 5. Juni entsprach die Justiz dem Ansinnen. „Die Wissenschaft wurde gehört“, titelte das Fachjournal „Nature“. Mitentscheidend für das ursprüngliche Urteil war eine fatale Überzeugung der Justiz: Viermal plötzlicher Kindstod in Serie? Unmöglich! Das sagt nicht nur der Hausverstand, das sagte stets auch Sir Roy Meadow. Der britische Professor für Pädiatrie trat oft als Sachverständiger in Prozessen auf, galt als Englands größte Kapazität auf dem Gebiet und bemühte vor Gericht gern folgenden Satz: Ein plötzlicher Kindstod sei eine Tragödie, zwei seien höchst verdächtig, drei eindeutig Mord, außer es könne das Gegenteil bewiesen werden. Der Ausspruch ist auch als „Meadow’s law“ bekannt, viele Gerichte folgten ihm, in die Beurteilung des Falles Folbigg floss seine Regel ebenfalls ein. Allein in England wurden auf Basis seiner Expertise mindestens vier Frauen wegen Kindstötung verurteilt, deren Unschuld heute als erwiesen gilt.
Eine von ihnen war Sally Clark. Die Britin wurde 1999 schuldig gesprochen, ihre Söhne Christopher und Harry umgebracht zu haben, einen im Alter von elf Wochen, den zweiten acht Wochen nach der Geburt. Auch sie bekannte sich nicht schuldig, wurde aber zu lebenslanger Haft verurteilt. Gutachter war Roy Meadow. Er zitierte seinen Lieblingsspruch und bezifferte die Wahrscheinlichkeit, dass zweimal hintereinander plötzlicher Kindstod eintritt, mit 1:73.000.000, eins zu 73 Millionen.
Das war der Moment, in dem sich die Royal Statistical Society einschaltete und verkündete: Diese Rechnung ist völliger Unsinn. Meadow begehe fundamentale Fehlschlüsse – und mit ihm sämtliche Juristen, die seiner Einschätzung folgten.
Meadow ging zunächst von einem Risiko für einen plötzlichen Kindstod von 1:8543 aus. Er nahm an, in Großbritannien sei unter rund 8500 Neugeborenen in Familien mit ähnlichem sozialem Hintergrund wie bei den Clarks mit einem Fall von Sudden Infant Death Syndrome (SIDS) pro Jahr zu rechnen. Dann kam der Fehler: Meadow multiplizierte 8543 mit 8543, um die Wahrscheinlichkeit für zwei solche SIDS-Fälle in Folge zu beziffern. 8543 x 8543 ergibt knapp 73 Millionen.
Diese Rechnung ist aber nur zulässig, wenn man Ereignisse betrachtet, die gänzlich unabhängig voneinander sind. Beim Würfeln hat man eine Chance von 1:6, eine Sechs zu erzielen. Wie hoch sind die Chancen, zweimal in Folge eine Sechs zu würfeln? 1:36. Hier darf man multiplizieren, denn die Sachlage ist anders: Mit jedem Wurf startet ein neues Spiel, die Würfe sind miteinander nicht verbunden.
Der 70-Millionen-Fehler
Ganz anders ist das aber bei Fällen von Kindstod innerhalb einer Familie. Mehrere solche Fälle deuten stark darauf hin, dass es verbindende Faktoren oder Umstände gibt, sodass die Vorkommnisse eben nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind: Umwelteinflüsse, das Verhalten der Eltern oder eben
genetische Fehlfunktionen, wie sie Folbiggs Töchter gemeinsam hatten. Dadurch steigt sogar die Wahrscheinlichkeit für eine Häufung von Todesfällen in der betroffenen Familie – in scharfem Kontrast zu Meadows Einschätzung.
Er beging aber noch einen zweiten, nicht minder krassen Fehler: Auf Basis der falschen Wahrscheinlichkeit für zweifachen plötzlichen Kindstod folgerte er: Die Wahrscheinlichkeit für Clarks Unschuld liege bei 1:73.000.000. Das ist schlicht der Vergleich von Äpfeln und Birnen: eine unzulässige Gleichsetzung des Kindstodrisikos mit der Schuldfrage.
Wie würde die korrekte Kalkulation aussehen? Die Statistical Society wandte wesentlich solidere und feinere Modelle an, die auch das in Wirklichkeit steigende Risiko bei mehr als einem Fall von Kindstod berücksichtigten. Zentral ist vor allem die Gegenüberstellung und Gewichtung zweier Wahrscheinlichkeiten: Wie häufig ist mit SIDS-Fällen zu rechnen? Und wie oft, andererseits, mit Infantiziden, also Kindstötungen? Das Abwägen der Eintrittswahrscheinlichkeit der zwei konkurrierenden Erklärungen gibt Aufschluss darüber, welche der beiden plausibler ist. Das Ergebnis mag überraschen: Plötzlicher Kindstod ist selten. Kindsmord ist aber noch viel seltener. Ohne Beweise oder ein Geständnis davon auszugehen, ist ähnlich abwegig, wie jemanden automatisch des Betruges zu verdächtigen, weil er im Lotto gewonnen hat.
Was heißt das in Zahlen? Einerseits ging Meadow von jenem einen SIDS-Fall unter rund 8500 Kindern aus (was später ebenfalls angezweifelt wurde; in Wahrheit sei zur Zeit des Clark-Prozesses die Kindstodgefahr in Großbritannien höher gewesen). Gleichzeitig wurde damals eines von knapp 22.000 Kindern Opfer eines Infantizides. Die Annahme SIDS hatte somit eine etwa zweifach höhere Wahrscheinlichkeit. Generell variiert das Risiko für plötzlichen Kindstod regional und ist über die Jahre aufgrund höheren Bewusstseins und verbesserter Vorsorge zum Glück kontinuierlich gesunken. Trotzdem ist diese Todesart auch heute deutlich wahrscheinlicher als Mord. In Österreich wurde zuletzt jährlich etwa ein Fall von plötzlichem Kindstod unter 10.000 Neugeborenen registriert, die Gefahr für eine Tötung war, statistisch betrachtet, halb so groß (siehe Grafik Seite 52).
Sally Clark kam nach drei Jahren Haft frei – auch weil sich herausstellte, dass im Prozess mikrobiologische Befunde ignoriert worden waren: Einer ihrer Söhne hatte sich eine schwere bakterielle Infektion zugezogen und war definitiv eines natürlichen Todes gestorben. Clark, selbst Anwältin, verkraftete die traumatische Episode nicht: Nach der Freilassung litt sie an psychischen Problemen. Sie starb 2007 an Alkoholvergiftung.
Die Royal Statistical Society plädierte dafür, künftig wirkliche Fachleute für Statistik zu konsultieren, wenn man schon Gerichtsurteile auf Basis von Wahrscheinlichkeiten fällen wolle. Im Verfahren gegen Kathleen Folbigg beherzigte man diese Empfehlung leider nicht.
Wenn der Hausverstand versagt
Im Grunde gilt auch für ihren Fall dieselbe Betrachtungsweise: Vier tote Kinder in Folge sind zwar so extrem seltene Ereignisse, dass man sie intuitiv für unmöglich hält, doch das ist irreführend. Ein Sechser im Lotto ist ebenfalls enorm selten, trotzdem kreuzen immer wieder Menschen die richtigen Zahlen an. Warum? Weil sehr, sehr viele Menschen Lotto spielen, landet immer wieder jemand einen Volltreffer. Es bringen auch sehr viele Menschen Kinder zur Welt, daher ist es ebensowenig ausgeschlossen, dass einmal vier Kinder hintereinander sterben. Viermal Kindsmord ist zwar ebenfalls denkbar – aber eben noch deutlich unwahrscheinlicher.
Das Kernproblem begegnet uns nicht nur vor Gericht, sondern in vielen Lebenslagen: Wenn sehr große Zahlen im Spiel sind, stoßen Intuition, Bauchgefühl und der angeblich gesunde Hausverstand schnell an Grenzen – und der Mensch schätzt Sachverhalte falsch ein. Ein ziemlich irritierendes Beispiel sind medizinische Diagnosen, besonders Früherkennungsprogramme, etwa zum Nachweis von Brust- oder Prostatakrebs. Drei Faktoren spielen bei deren Aussagekraft eine Rolle: erstens die zahlreichen untersuchten Personen, von denen zweitens nur wenige die gesuchte Krankheit haben, die, drittens, mit einem nicht gänzlich perfekten Test aufgespürt werden soll. Das Ergebnis ist zwangsläufig, dass vielen Menschen eine Krankheit attestiert wird, die sie gar nicht haben. „Ein unvollkommener Test für ein seltenes Merkmal wird überwiegend falsch-positive Ergebnisse liefern“, schreibt der renommierte Harvard-Kognitionsforscher Steven Pinker.
Selbst viele Mediziner wollten das nicht glauben und behaupteten, die Zuverlässigkeit solcher Tests betrage 80 bis 90 Prozent – tatsächlich ist es genau umgekehrt. Die Diagnostiker protestierten: Niemals! Sie erlebten ein Überraschungsmoment, sobald man ihnen die Wahrscheinlichkeit für korrekte sowie falsche Testergebnisse in einem Diagramm und in absoluten Zahlen aufzeichnete. Dann war plötzlich klar ersichtlich, warum viele dieser Tests falsch-positive Resultate liefern müssen.
Das spricht keineswegs gegen Früherkennungsprogramme, die fraglos dazu beitragen, Krankheiten und Todesfälle zu vermeiden. Es spricht aber für die Notwendigkeit, die Aussagekraft solcher Screenings genau zu erklären. Andernfalls verbringen manche Frauen Wochen in Todesangst, weil sie überzeugt sind, an Brustkrebs erkrankt zu sein. Bekannt sind auch Fälle von Suiziden aufgrund von HIV-Tests, die sich erst hinterher als falsch-positiv herausstellten.
Auch diese Beispiele zeigen: Der richtige Umgang mit Statistik und Wahrscheinlichkeiten kann durchaus Leben retten.