Wien hat die älteste Universität Europas, heute ist sie eine der bedeutendsten Hochschulstädte Europas.
Wien hat die älteste Universität Europas, heute ist sie eine der bedeutendsten Hochschulstädte Europas.
Wissenschaft
Geschichte: Als Wien das globale Zentrum des Erfindergeistes war
Forschergeist aus Wien prägte die gesamte moderne Welt, argumentiert der britische Historiker Richard Cockett – und nennt Dutzende Beispiele. Welche Erfindungen von Weltrang gelingen heute?
Ernst Mach bereitete den Boden. Der Wiener Physiker setzte entscheidende Impulse für eine Denkweise, die Generationen von kreativen Köpfen prägen sollte: Beobachtung und Erfahrung, Messung und Experiment hielt Mach, 1838 in Brünn geboren, für wesentlich, um die Wirklichkeit zu ergründen. Dem Naturforscher, im Jahr 1895 auf einen Lehrstuhl der Universität Wien berufen, gelangen Pionierleistungen bei der Hochgeschwindigkeitsfotografie und Schallforschung, basierend auf der Überzeugung, die Phänomene unserer Welt seien objektiver Untersuchung zugänglich.
Machs Einfluss auf die Forscherszene um die Wende zum 20. Jahrhundert sei kaum zu überschätzen, meint Richard Cockett. Der britische Historiker hat ein kürzlich auch auf Deutsch erschienenes Buch vorgelegt, in dem er das historische Wien als globales Zentrum von Innovation begreift – als Ort einer einzigartigen intellektuellen Eruption, die ihren Beginn im ausgehenden 19. Jahrhundert nahm, getrieben von Persönlichkeiten wie Ernst Mach und dessen Fachkollegen Ludwig Boltzmann – und die bis in die Gegenwart nachwirkt, und zwar in internationalem Maßstab.
Ernst Mach, Austrian physicist and philosopher, c 1910.
Ernst Mach
Der große Wiener Physiker prägte Generationen von Forschenden, indem er deie Ansicht vertrat, mit Beobachtung und Experiment könne die Wirklichkeit objektiv ergründet werden.
Ein großer Teil geistiger und kultureller Erfindungen, welche die westliche Welt des 20. Jahrhunderts formten, stamme aus Wien, postuliert Cockett. Auf beinah 400 Seiten entwirft der Historiker, dessen Biografie auch Gastprofessuren in London und Princeton ausweist, ein breites Panorama an Wiener Innovationen, die um die Welt gingen – von den Grundlagen der Kernspaltung über die moderne Sozialforschung und Werbung bis zur Erfindung der Einbauküche.
Der britische Historiker legte kürzlich ein mehr als 400 Seiten
umfassendes Buch vor, das beschreibt, wie Wiener Forschende
und Erfindergeister die globale Moderne prägten. Auf Deutsch
trägt das Buch den Titel „Stadt der Ideen“
und ist im Molden Verlag erschienen.
Verbunden damit sind so viele große (und auch weniger bekannte) Namen, dass eine erschöpfende Aufzählung unmöglich ist. Karl Popper, dessen Postulat der Falsifizierbarkeit bis heute als Messlatte für evidenzbasierte Wissenschaft gilt, ist ebenso darunter wie der Regisseur Billy Wilder und Peter Drucker, 1909 in Döbling geboren und 1937 in die USA emigriert. Er studierte das Innenleben von Großunternehmen wie General Motors und begründete eine Managementtheorie, die Mitarbeiter als wertvolle Ressource verstand. Die Schauspielerin Hedy Lamarr wiederum war eine talentierte Erfinderin, wirkte an der Entwicklung des Frequenzsprungverfahrens mit, das den Alliierten im Zweiten Weltkrieg Schutz vor feindlichen Störsignalen bot. Es lässt sich als Vorläufer von Bluetooth und WLAN betrachten.
Explosion der Kreativität
Die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe für die „kreative Explosion“ der Wiener Denkschulen wird Cockett demnächst bei Vorträgen in Wien darlegen, unter anderem am Institute of Science and Technology (ISTA). Zu Gast auf Einladung von ISTA-Präsident Martin Hetzer wird Cockett dabei gewiss auch debattieren, ob ein Nachhall der goldenen Wiener Epoche geblieben ist und welche Innovationen von globaler Relevanz heute gelingen. Die Gravitationszentren der Innovation liegen aktuell sicher in den USA und vor allem im Bereich technischer Disruption, meint Hetzer, der lange in Kalifornien forschte. Dennoch attestiert er Wien immer noch das Potenzial, ähnlich Bedeutsames zu erschaffen und „den Geist der Tradition zu revitalisieren“.
Die Gravitationszentren der Innovation liegen aktuell sicher in den USA und vor allem im Bereich technischer Disruption. Wien hat aber immer noch das Potenzial, ähnlich Bedeutsames wie früher zu erschaffen und den Geist der Tradition zu revitalisieren.
Martin Hetzer, ISTA-Präsident
Was aber bewegt einen Briten dazu, sich mit prägenden Beiträgen Wiens zur weltweiten Moderne zu befassen? Sein Interesse reiche Jahrzehnte zurück, sagt Cockett im Gespräch mit profil. Zunächst befasste er sich, damals als leitender Redakteur des Politik- und Wirtschaftsmagazins „The Economist“, mit den Grundlagen der ökonomischen Ideen Margaret Thatchers und Ronald Reagans – und stieß zwangsläufig auf Ludwig von Mises und Friedrich Hayek, die österreichischen Vordenker des Wirtschaftsliberalismus. Auf Hayek berufen sich heute nicht nur die Anhänger des Neoliberalismus, er wandte auch inzwischen selbstverständliche Methoden an, die damals jedoch neu waren: etwa das Erstellen von Wirtschaftsprognosen auf Basis internationaler Daten und deren Analyse.
Der Wiener Ökonom gilt als Vordenker des Wirtschaftsliberalismus
und beeinflusste die Politik von Margaret Thatcher
und Ronald Reagan.
Cockett erweiterte seine Nachforschungen und stieß auf andere Wiener Pioniere, die dem heutigen Wirtschaftsleben ihren Stempel aufdrückten: beispielsweise Ernst Dichter, der 1907 in eine jüdische Familie aus Polen und dem Sudetenland geboren wurde, in den 1930er-Jahren an der Universität Wien die Lehren der Psychoanalyse und die Sozialforschung Paul Lazarsfelds verinnerlichte und nach seiner Flucht Elemente davon zu einer neuen Art der Markt- und Motivationsforschung verwob. Dichter war überzeugt, dass man Produkte nicht allein mit ihrem praktischen Nutzen bewerben dürfe, sondern verborgene Sehnsüchte der Konsumenten aufgreifen und Produkte mit emotionalem Mehrwert aufladen müsse, die Maxime „sex sells“ eingeschlossen. Dichters Methoden, die etwa Chrysler nutzte, galten ab den 1960er-Jahren als Standard in den USA.
Das Einkaufszentrum ist ein Wiener
Andere Wiener hinterließen auch physisch sichtbare Spuren: zum Beispiel Victor Gruen, Jahrgang 1903. Er floh vor den Nazis nach New York, bemerkte die Trostlosigkeit amerikanischer Vororte und wollte ihnen Leben durch Oasen des Konsums und sozialen Austauschs einhauchen. So realisierte er 1954 in Detroit das erste Einkaufszentrum. Weitere berühmte Architekten mit Wiener Wurzeln, häufig Anhänger des großen Adolf Loos, waren unter anderem Richard Neutra, Rudolph Schindler und Paul Frankl. Sie schufen neuartige Möbeldesigns ebenso wie modernistische Villen, speziell in Kalifornien. Das Wirken der Wiener sticht auch dann ins Auge, wenn Bilder Donald Trumps Anwesen Mar-a-Lago zeigen: In den 1920er-Jahren erbaut, tragen mehrere Teile des Protzbaus die Handschrift von Wiener Architekten. Die Einbauküche wiederum wurde von der Wienerin Margarete Schütte-Lihotzky ersonnen – angestoßen von der Idee, Hausfrauen durch praktische, zweckmäßige Anordnung der Möbel zu entlasten.
Die aus Wien stammende Architekten entwarf die erste Einbauküche. Ihr Hintergedanke war, durch effiziente Gestaltung und Konstruktion die Hausfrauen zu entlasten.
Die Entwicklung von Margarete Schütte-Lihotzky wurde auch unter der Bezeichnung „Frankfurter Küche“ bekannt.
Man könnte Dutzende weitere Namen und Innovationen nennen. Gemeinsam ist ihnen, dass die Grundkonzepte in relativ kurzer Zeit in einer Hochblüte des Wiener Geisteslebens entwickelt und ihre Schöpfer, sehr oft jüdischen Familien entstammend, später von den Nazis angefeindet, bedroht und schließlich vertrieben wurden – und die Ideen buchstäblich um die Welt gingen, besonders in die USA und nach Großbritannien.
Die Anfänge dieser Entwicklung liegen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wien war ein wachsender, brodelnder Schmelztiegel, vielsprachig und multikulturell. Ein Magnet, der Menschen aus allen Teilen der Monarchie anzog: aus Prag und Brünn, Budapest, Czernowitz und dem heutigen Kroatien, wo Nikola Tesla an seinen Forschungen zur Elektrizität tüftelte. Sie brachten Ideen mit, Bildungshunger und eine Lust an intellektueller Reibung. Sie trafen auf ein reges Geistesleben, Vorlesungen und Debatten fanden an Universitäten ebenso statt wie in Kaffeehäusern und privaten Zirkeln. Wer es sich leisten konnte, richtete zu Hause Laboratorien oder Terrarien ein, und so befassten sich Mathematiker oder Ökonomen zunächst auch mit Biologie oder Chemie. Es war das Gegenteil der heutigen Spezialisierung und Fragmentierung der Fachgebiete – man trachtete nach universellem Wissen und Diskurs über die Disziplinen hinweg.
Ein Weltreich des Intellekts
Es muss eine spezielle Atmosphäre gewesen sein, erfüllt von internationalem Esprit, aber verdichtet auf überschaubarem Raum sowie getragen von Vordenkern wie Ernst Mach, die der Natur und ihren Gesetzen mit den Methoden objektiver Wissenschaft auf die Schliche kommen wollten. Physiker studierten die Beschaffenheit der Materie, Mediziner schufen Grundlagen von Wundbehandlung, Anästhesie, Allergieforschung und Pathologie.
Die Wienerin machte Karriere als Schauspielerin in Hollywood und sorgte für Schlagzeilen. Sie besaß zugleich großes Talent als technikbegeisterte Erfinderin. Ihr Frequenzsprungverfahren lässt sich als Vorläufersystem drahtloser Datenübertragung verstehen.
Der greise Kaiser, der von Modernismus, Fortschritt und Naturwissenschaft wenig hielt, mischte sich wenigstens kaum ein, sodass die Szene blühte – bis Nationalismus und Elitenhass erstarkten, wesentlich befeuert vom Antisemiten Karl Lueger. Den „ersten zweifelsfrei populistischen Politiker der Neuzeit“ nennt ihn Cockett. Statt liberalem Denken wurden Vorurteile und Aggressionen gegenüber den vermeintlich privilegierten Juden geschürt, statt einer multiethnischen Gesellschaft „pangermanische“ Ideale propagiert. Es setzte eine erste Welle „postrationaler Politik“ ein. Spätestens mit dem Zusammenbruch der Monarchie war das goldene Zeitalter Wiens als Hort der Innovation eigentlich vorüber – und dennoch entstanden viele der großen Ideen erst danach in der Zwischenkriegszeit.
Aber warum? Vielleicht ausgerechnet durch die Not dieser Jahre, die manche Menschen, die den Geist der verflossenen Epoche noch in sich trugen, zu Höchstleistungen trieben. „Die Menschen waren komplett am Boden, litten Hunger und waren verzweifelt. Innovation und Erfindergeist waren schlicht eine Notwendigkeit“, meint Cockett – in Form sozialer Lösungen in der Phase des Roten Wien, aber auch wissenschaftlich.
Ein Beispiel ist der legendäre Wiener Kreis, dem wohl einige der klügsten Personen angehörten, die je auf dem Planeten weilten, darunter Moritz Schlick, Karl Menger und der geniale Kurt Gödel. Aus Brünn stammend, avancierte Gödel zum bedeutendsten Logiker des 20. Jahrhunderts, der mit seinem „Unvollständigkeitssatz“ die Welt der Mathematik erschütterte. Er hebelte den Absolutheitsanspruch der Mathematik aus, indem er darlegte, dass manche mathematische Aussagen weder beweis- noch widerlegbar sind. Für seine Argumentation benutzte Gödel, der enge Freundschaft mit Albert Einstein schloss, Zahlen, die eine Art frühen Algorithmus ergaben – und als Vorläufer eines Computerprogramms betrachtet werden können.
Spieltheorie und Atombombe
Ein Weggefährte Gödels war der aus Ungarn stammende John von Neumann, ebenfalls Mitglied des Wiener Kreises. Er gilt als Begründer der Spieltheorie, heute ein zentraler mathematischer Pfeiler der Verhaltensökonomie. Nach seiner Emigration arbeitete John von Neumann auch am „Manhattan Project“ bei J. Robert Oppenheimer mit, zusammen mit Landsleuten wie Edward Teller und Leo Szilárd.
Während die Diskutanten des Wiener Kreises harte Nüsse der Mathematik erörterten, randalierte der rechte Mob bereits in den Straßen und ging, Stück um Stück enthemmter, von verbalen Anfeindungen des rationalen, liberalen Denkens zu körperlicher Gewalt über. Nazis stürmten Hörsäle, schlugen Fensterscheiben der Universitäten ein, bedrohten und verprügelten die verhasste intellektuelle Elite, die sich vor den Gräueln des Nationalsozialismus schließlich ins Ausland rettete, oft in die USA, mitunter nach England oder Schweden wie Lise Meitner, eine der bedeutendsten Naturwissenschafterinnen des 20. Jahrhunderts. Die österreichische Physikerin, die eine Zeit lang am Institut für Radiumforschung in der Wiener Boltzmanngasse forschte, prägte einen Begriff für jene Prozesse, die sie und ihre Kollegen bei Experimenten beobachteten: Kernspaltung.
Was blieb, war geistiges Vakuum. Die Wiener Ideen sprossen und blühten anderswo in der Welt.
Die österreichische Physikerin zählt zu den bedeutendsten
Naturwissenschafterinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Forschungen
trugen zur Entdeckung der Kernspaltung bei.
Und heute? Ist Wien wieder eine Brutstätte großer Ideen? Zumindest fallweise. Ein Beispiel ist CRISPR/Cas9, die Genschere. Momentan ist CRISPR das bedeutendste Werkzeug der Biotechnologie. Mit gezielten Schnitten durch einen Erbgutstrang lassen sich damit problematische Gene ausschalten – mittlerweile sind mehrere Therapien gegen genetische Erkrankungen in Anwendung, die auf der Genschere beruhen.
Barrierefreies Nachdenken
Niemand erahnte das Potenzial von CRISPR, das in der Natur Bestandteil des Immunsystems von Bakterien ist – bis zwei Forscherinnen die richtigen Schlüsse zogen, wofür sie im Jahr 2020 den Nobelpreis für Chemie erhielten. Eine davon war die Französin Emmanuelle Charpentier, die zu Beginn des Jahrtausends an den Max-Perutz-Labs des Vienna Biocenter an den Grundlagen forschte – einer Institution, die geradezu einen optimalen Nährboden für Innovation bietet: zahlreiche junge Forschende aus aller Welt, wenig Barrieren zwischen den Disziplinen, ein angeregter akademischer Austausch sowie eine gute Anbindung an Start-ups.
Das Institut für molekulare Biotechnologie am Biocenter ist heute auch ein globales Zentrum der Organoidforschung. Winzige Zellhaufen wachsen dabei etwa zu Miniaturgehirnen heran, an denen schwere Krankheiten studiert und Wirkstoffe getestet werden können – ein Meilenstein der Medizin, zudem frei von Tierversuchen.
Wenn es einen Forscher gibt, der die Vorstellung des weisen Wissenschafters abruft, ist dies Anton Zeilinger. Demnächst 80 Jahre alt, erlangte der Quantenphysiker durch seine Experimente zum „Beamen“ Weltruhm – durch Versuche zur Quantenverschränkung, wobei, stark vereinfacht, Eigenschaften von Teilchen über beliebige Distanz übertragen werden. Dies war die theoretische Grundlage für neue Generationen von Computern und Verschlüsselungstechnologien. Zeilinger, Nobelpreisträger 2022, dessen heutiges Büro in unmittelbarer Nachbarschaft zum Radium-Institut liegt, knüpft auch durch eine Vorliebe für wissenschaftsphilosophischen Diskurs an die große Wiener Tradition an.
Die Neuvermessung der Naturgesetze
Aber auch jüngeren Naturwissenschaftern glücken Entdeckungen von Weltrang: Im Vorjahr knackte der Physiker Thorsten Schumm von der TU Wien ein Jahrzehnte ungelöstes Rätsel der Quantenphysik und schuf damit die Basis für die erste Atomkernuhr – die dadurch mögliche Präzision wird vermutlich eine Neuvermessung der Naturkonstanten erlauben.
Wien biete nach wie vor einen guten Nährboden für Innovation, findet ISTA-Präsident Martin Hetzer, allein aufgrund der dafür perfekten Dimension: groß genug, um attraktiv für internationale Talente zu sein, zugleich klein genug, um auf kurzen Wegen fruchtbaren Austausch zu erlauben. Auch diese Stärke soll nach Hetzers Vorstellung noch mehr begabte Jungforscher anlocken, die ihren Ideen dann möglichst fächerübergreifend und über Disziplinen hinweg nachgehen sollen – vom Prinzip her nicht unähnlich der einst blühenden Wiener Debattenkultur.